Nina Jäckle - Verschlungen

Vom Verschlungen-Sein im doppelten Sinn des Wortes erzählt dieser Roman,

der ein langer Monolog ist. Ineinander verwickelt sein und vom anderen einverleibt werden - von der Symbiose zweier "Monozygoten", eineiigen Zwillingen, berichtet die Ich-Erzählerin, die sei zwei Jahren ohne ihre dominante Schwester Ewa lebt, leben muss.  Siebenundfünfzig ist sie nun und blickt zurück auf ihren ewigen Kampf um Befreiung.

 

Zwölf Minuten war die ältere Schwester alleine, dann kam Ewa zur Welt. Diese wenigen Minuten waren die einzige Zeit, in der sie ein Individuum war und nicht Teil eines Paares.

 

Nach fünfundfünfzig gemeinsamen Jahren lebt die Erzähle-rin nun alleine in einem Haus im Wald. Sie beobachtet die Natur, zu Menschen hat sie keinerlei Kontakt.

Oft hört sie Ewas Stimme. In einem "unbenannten Raum" lagern in Kisten die Überbleibsel des gemeinsamen Lebens, Dinge, die sie aus der kleinen Wohnung mitgebracht hat, in der die Schwestern nach dem Tod der Mutter und dem Verkauf des Elternhauses, Mutterhauses, lebten. Ihren Vater haben sie nie kennen gelernt. Eine sehr kleine Gemeinschaft also, in der selbst die Mutter störte. Nach deren Tod, die Zwillinge sind da neunundzwanzig, müssen sie nichts mehr verstecken, können unbeobachtet und ungebremst ihren Gleichklang ausleben.

 

"Vielleicht aber müssen wir anerkennen, dass es für uns beide keine eigene Melodie je geben wird, dass es für uns beide keinen Menschen geben wird, weder für Ewa noch für mich, der in unserem Leben von Bedeutung sein könnte, denn keine andere Verbindung als die unsere würde funktionieren. So ist das, fetus in fetu, wenn man ineinander verschlungen ist."

 

Diese Passage stammt aus einem der vielen geheimen Notiz-büchern der Erzählerin. In diesen notierte sie ihre Gedanken, die sie allesamt als Verrat an der Schwester empfand.

Sie leidet unter der bestimmenden Ewa, die vielen mit Blut unterzeichneten Schwüre leistet sie aus Anpassung, aus Angst, Ewa zu verärgern, sollte sie nicht schwören.

Niemals jemand anderen zulassen, sich nie trennen, immer das Gleiche denken und tun und weitere Versprechen dieser Art geben sie sich wieder und wieder. 

 

Wenige Trennungen gibt es: mit siebzehn weist die Mutter Ewa in eine Klinik ein, die Lehrer hatten ihr dazu geraten. Außenstehende bemerkten die ungesunde Nähe, die die Erzählerin immer wieder fragen ließ, ob sie alleine nur halb oder auch ohne Ewa ein ganzer Mensch war.

 

"Ich zu sein, das bedeutet, Ewa exakt zu entsprechen. Nur in der Summe ergeben wir ein Ganzes. Ich bin gewiss der geringere Teil unserer Summe. Ich abzüglich Ewa, was bliebe übrig unterm Strich? Das ist es, was wir uns antun, seit es uns gibt."

 

Weitere Klinikaufenthalte werden folgen, sie bringen das lebenslang eingeübte Gefüge ins Wanken, auch für die Erzählerin, die sich nach Alleinsein sehnt, sich dann jedoch als Verlassene empfindet.

 

In vielen vielen Gedankenschleifen umkreist die Erzählerin einzelne Situationen ihres Lebens, dabei zieht sie die Leser:innen immer weiter in ihre Welt hinein. Die Erzähl-weise dieses Kammerstücks für eine Person entwickelt einen starken Sog, immer tiefer begibt man sich ins Innere dieser Figur, die versucht, ein eigenes Ganzes zu werden.

 

Die erste Passage des Romans, auch sie entstammt einem Notizbuch, lautet:

"DIE FRAGE IST, WAS MAN ALS GEGEBEN gelten lassen, was man als gegeben anerkennen muss. Und so macht man sich auf die Suche nach dem Vorgegebenen und ebenso nach der definierbaren eigenen Form. Man versucht zu komponie-ren, auf dass man Urheber der Melodie des geführten Lebens werde. Doch es bleibt die Befürchtung, einem Diktat zu unterliegen, einem Diktat, das alles ins Unausweichliche zwingt, das besagt, egal welches Handeln man ihm entgegen-setzt, es wird unausweichlich nichts zu verhindern sein."

 

Um diese Fragen - was ist unausweichlich da, was kann man selbst bestimmen, wie findet man in ein eigenes Leben hinein, Fragen, die sich jeder stellt, dreht sich im Kern der ganze Roman. Sie werden hier durch die Konstellation der eineiigen Zwillinge auf die Spitze getrieben.

 

"Ich hätte mich viel früher in meinem Leben gegen Ewas Übernahme wehren müssen, stattdessen habe ich anerkannt, ihr schwächeres Abbild zu sein."

 

Dieser Erkenntnis der längst erwachsenen Erzählerin steht der Fund eines Briefes gegenüber, der ein anderes Licht auf das gemeinsame Leben wirft. 

 

Dass hier keine Opfer-Täter-Rollen verteilt werden, keine Schuldzuweisungen stattfinden, ist eine der Stärken des Romans.

Eine andere ist, dass sich eine eigene Melodie entwickelt.

Ob die Erzählerin ihre Lebensmelodie findet, ist nicht gewiss, auch wenn das Ende eine solche Entwicklung andeutet. Die Autorin hat sie in ihrem Schreiben gefunden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nina Jäckle: Verschlungen

KrönerEditionKlöpfer, 2023, 160 Seiten