Lilia Hassaine - Bittere Sonne

"Einerseits gab er vor, stolz auf seine Wurzeln und seine Kultur zu sein, andererseits wollte er mit dem fran-zösischen Umfeld verschmelzen. Einerseits wollte er zurück in sein Heimatdorf, andererseits träumte er davon, dass seine Kinder sich integrier-ten. Er schwankte zwischen zwei Ländern, zwei Zukunftsplänen und erzog auch seine Kinder in dieser                                                             Ambivalenz."

 

Said verließ seine Heimat Algerien Ende der 1950er Jahre, um bei Paris in einer Autofabrik zu arbeiten. Fünf Jahre dauerte es, bis seine Frau Nadscha und die drei Töchter nachkommen konnten. Die Hoffnung, in Paris würde alles leichter, zerschlug sich schnell, als Nadscha sah, wo sie fortan wohnen sollte. Zudem war ihr Mann Said "brutal gealtert", eine "Folge jahrelanger Fliessbandarbeit."  

 

"Bei ihrer Ankunft fielen die Frauen der angestauten Frustra-tion ihrer Männer zum Opfer."

 Said trinkt zu viel, er schlägt Nadscha und die beiden älteren Töchter Maryam und Sonia, nur die Jüngste, Nour, rührt er nicht an. Er schimpft über seinen älteren Bruder Kader, der schon vor ihm nach Frankreich ging und eine Französin heiratete. Kader leitet erfolgreich die Fabrik von Èves Eltern, ist gesellschaftlich anerkannt. Nach einem Besuch bei den beiden im schicken Einfamilienhaus stellt Said jedoch fest: 

"Die Französin buttert ihn unter. Sie hat ihn zum Schaf gemacht ... Das ist doch keine Frau! Kein Haushalt, keine Küche, keine Kinder!"

 

Ève kann keine Kinder bekommen, Nadscha hingegen wird bald nach der Ankunft in Paris schwanger. Noch ein Kind in dieser Enge? Die Brüder werden sich einig, Nadscha stimmt zu: sie werden das Baby Ève und Kader überlassen. Dort wird es in besten Verhältnissen aufwachsen und alle Chancen haben, die das Land bietet.

 

Überraschend bringt Nadscha Zwillinge zur Welt, Daniel und Amir. Sie behält den schwächeren der beiden, Amir, Daniel wird sofort nach der Geburt Ève übergeben.

Dieses Geheimnis wird zu einem ewigen Schmerz Nadschas, sie hat schon ihren Erstgeborenen verloren, nun musste sie ein weiteres Kind hergeben. Doch sie fügt sich, alle fügen sich in die neue Situation. Die Zwillinge wachsen in dem Glauben auf, Cousins zu sein. Aber sie sind durch ein unsichtbares Band intensiv miteinander verbunden, suchen beide stets die Nähe des anderen. 

 

Said hat Schwierigkeiten, Amir als Sohn anzuerkennen. Er ist in seinen Augen kein richtiger Junge, Daniel hingegen strotzt vor Gesundheit und Kraft. Noch nach einem Tod 1983 schlägt Said Amir ins Gesicht: er vermacht Daniel, der über mehr als genug Geld verfügt, einen Großteil seines Vermögens. Amir, der sich einen Studienplatz für Medizin erkämpft hat, geht leer aus. Er muss sein Studium mit einem Job in einer Bäckerei finanzieren, wo er morgens um vier Uhr anfängt, damit er rechtzeitig um acht an der Uni ist.

 

Amir und Daniel stehen sinnbildlich für die unterschied-lichen Chancen, die von Anfang an festgelegt werden. Durch seine gutsituierte, französische Mutter ist Daniel Teil der Gesellschaft, er wird eines Tages in der Firma einsteigen.

Amir ist die Hoffnung der Familie. Doch die Last wird zu groß werden.

 

In den drei Teilen des Romans werden die Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahre erzählt. Dabei werden die Hoffnungen thematisiert, die mit den neuen Sozialbauten verbunden waren, wo am Anfang ein solidarisches Miteinander jenseits nationaler oder religiöser Grenzen funktionierte. Dies änderte sich mit der Wirtschaftskrise Mitte der 70er, verstärkte sich in den 80ern, als selbst gut ausgebildete Franzosen Schwierigkeiten hatten, einen Arbeitsplatz zu finden. Umso schwieriger wurde es für die Migranten.

 

Neben der persönlichen Geschichte Saids, Nadschas und ihrer Familie, erzählt Lilia Hassaine von den Nachbarinnen und ihren Schicksalen, den Plänen der französischen Regierung, die Migranten mit Geld zur Rückkehr nach Algerien zu bewegen. Sie erzählt vom Los der Frauen und dem der Männer, von Abhängigkeiten, Machtverhältnissen, von all den Ambivalenzen, in denen Migranten leben.

Wobei die Frauen wesentlich empfänglicher für die modernen Ideen sind als die Männer. Was diesen als Verlust droht, bedeutet Freiheiten für jene.

 

Eine tragische Figur ist Maryam, Nadschas älteste Tochter. Sie ist intelligent und aufgeweckt, fantasievoll und lebens-hungrig. Und soll mit fünfzehn verheiratet werden. Sie flieht, wird aber bei ihrer Freundin gefunden und wenig später nach Algerien transportiert, um dort verheiratet zu werden. Said hat dies so entschieden. Nur zu seiner Beerdigung und anlässlich eines weiteren Todesfalls kehrt Maryam nach Paris zurück - ihr weiteres Schicksal bleibt im Dunkeln. Weder wird über sie gesprochen, noch denken Nadscha oder ihre Schwestern an sie. Es ist, als hätte es sie nie gegeben.

Ist das das Schicksal derer, die sich wehren?

 

Sonia fasst die Lebenssituation des `dazwischen´ in wenigen Sätzen gut zusammen:

"Ich kann diese Doppelmoral nicht mehr ertragen, da wird verlangt, dass wir den Rassismus der anderen anprangern, aber bei uns praktiziert man ihn. Ich ertrage diese absurden Regeln nicht mehr, dass man alles der Familie zu opfern hat. Wo ist sie denn, die hochheilige Familie, wenn man sie mal wirklich braucht?"

 

Lilia Hassaine, geb. 1991, bettet die Figuren in ihre Zeit. Das erweitert den Familienroman zu einem aufschlussreichen Gesellschaftsporträt. Sie zeichnet die Entwicklungen nach, die vor langer Zeit einsetzten und bis heute sichtbar und spürbar sind - leider hat sich sehr vieles nicht zum Guten entwickelt. Die Banlieues sind Inbegriff von Armut, Gewalt, Hoffnungslosigkeit geworden, weit entfernt von den Versprechen, die einst mit den modernen Großbauten verbunden waren.

 

Der Roman, der im Jahr 1959 mit einer Szene spielender Kinder in Djemila beginnt, endet an eben diesem Ort.

Daniel ist fast vierzig Jahre später mit seiner Frau und den beiden Töchtern dorthin gereist.

"Jahrelang schleppte ich eine hartnäckige Traurigkeit mit mir herum, der wollte ich auf den Grund gehen. Nicht, um mich darin zu suhlen, ... ich glaube, dass sich alles verwandeln kann, sogar Schlamm, sogar Blei, sogar Schmerz. Unser Gedächtnis sollte kein Stein sein, der uns nach unten zieht, sondern ein Leben, das in unserem Leben enthalten ist, das nach dem Prinzip einer Matroschka der Zeit Relief und den Dingen Perspektive verleiht. Deshalb wollte ich diese Reise machen, mit meinen Kindern."

 

Kann es eine Heilung auf der persönlichen Ebene geben, wenn man weiterhin täglich mit Rassismus konfrontiert wird?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lilia Hassaine: Bittere Sonne

Aus dem französischen von Anne Thomas

Lenos Verlag, 2024, 182 Seiten

(Originalausgabe 2021)