Volha Hapeyeva - Samota

Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber

Auf zwei Zeitebenen spielt dieser Roman, der von Einsamkeit, Stille, der Natur und dem fragwürdigen Umgang des Menschen mit dieser erzählt. Aber auch von Empathie, vom Unerklärli-chen und davon, dass alles mit allem zusammenhängt und Sprünge möglich sind, die die Logik nicht vorsieht. Ein sehr nachdenklicher und warmherziger Roman, der sich dem magischen Realismus nicht verschließt, und dessen Protagonistin und Ich-Erzählerin Maja eine Wissenschaftlerin ist.

 

Als Kind wurde bei Maja Hypersensibilität diagnostiziert, ein Grund dafür, dass sie sich für die Wissenschaft entschied. Sie versprach "Objektivität und Minimierung von Emotionen".

Dass sie Vulkanologin wurde, hängt mit einem Ereignis in ihrer Kindheit zusammen, das sich auf einer Reise mit ihren Eltern und ihrem Hund Kosja (Kurzform für Kassawur) nach Japan zutrug:

 

"In der Stadt, in die wir reisten, war alles anders. Die Men-schen, das Essen, die Gerüche. Doch dieses eine Jahr ist völlig aus meinem Gedächtnis gefallen. Man erzählte mir später, es habe erneut einen Vulkanausbruch gegeben und wir mussten abreisen, allerdings ohne Kosja. Die Eltern sagten mir damals nichts. Auch sie verstanden nicht wirklich, was geschehen war. Kosja wurde eine Woche nach dem Ausbruch gefunden."

 

Maja befindet sich momentan in Japan, ihre Forschung ist jedoch ins Stocken geraten. Sie beschließt, an den Ort zu fahren, "an dem ich damals mit den Eltern war, als Kassawur starb".  Sie muss mit diesem Tod abschließen, der "ein Trigger für mich geworden" war, der sie einen Weg einschlagen ließ, der sie von sich selbst wegführte. 

 

In Japan trifft Maja ihre Freundin Helga-Maria. Diese ist plötzlich da, als Maja im Hotel in der Badewanne liegt und spricht über Muscheln. Die beiden Frauen kennen sich schon länger, doch Maja ist überrascht zu hören, dass Helga-Maria "Tierpsychotherapeutin" ist. Zur Zeit kümmert sie sich um den Hund Isama. Außerdem erfindet sie Prophezeiungen für Glückskekse, hält aber auch Vorträge an der Uni. Und sie hat die Gabe, aus dem Nichts aufzutauchen und nach Belieben zu verschwinden. Sie ist viel in Bewegung, fährt Bus, Taxi, Bahn, fliegt irgendwohin. Sie ist in vielem das Gegenteil Majas, vor allem hebelt sie immer wieder die Logik Majas aus, ohne dabei jedoch verrückt zu wirken. Sie kann argumentieren, doch sie zieht andere Verbindungslinien.

 

Kosja und Helga-Marias Hund Isama sind nur zwei von sehr vielen Tieren, die im Roman vorkommen. Es wird ein Zeitungsartikel zitiert, der von Kühen berichtet, die Suizid begingen. Es findet die symbolische Beerdigung eines ent-laufenen Katers statt. Es gibt schweigende Pferde, ertrunkene Schafe, verschwundene Hunde. Und Wölfe.

 

All diese Episoden hinterfragen den Umgang des Menschen mit der Natur. Ganz konzentriert wird dieser anhand eines im Hotel stattfindenden Kongresses zur "Regulation von Tierpopulationen" beleuchtet. Maja wird heimliche Zeugin von Aussagen der Referentin, die ein Schlaglicht auf Tier-quälerei werfen und in Maja Zweifel an der Menschheit hinterlassen.

 

Tierquälerei ist auch ein Thema des zweiten Erzählstrangs, in dessen Mittelpunkt Sebastian steht. Mit einem Brief, den er an seine Geliebte schreibt, wird er in den Roman eingeführt. Er schreibt mit einer Feder, streut Schreibsand über das Geschriebene. Er hat ein Zimmer bei Herrn Zikade gemietet, eine Bedienstete serviert das Essen. Ein weiterer Mieter ist Herr Mészáros, ein finsterer Jäger. Die Atmosphäre und auch die Tatsache, dass Herr Zikade einst das Amt des Henkers innehatte, deutet auf eine vergangene Zeit hin, der Ton entspricht dem des 19. Jahrhunderts.

Dass dem jungen Sebastian ein tragisches Schicksal beschieden ist, sei hier verraten. Ebenso dass sein Mitgefühl, das sich der rücksichtslosen Ausbeutung der `Ware Wolf´ entgegenstellt, nicht jedem gefiel.

 

An einem Punkt verknüpfen sich die Geschichten von Maja, Helga-Maria und Sebastian. Ungeachtet der Wahrscheinlich-keit, dass sie nicht in der gleichen Zeit leben. 

 

"`Du weißt, du wirst es längst schon erraten haben, dass die Zeit gar nicht existiert´, sagte sie zu mir. `In dem Sinn, dass keine Realität jenseits unserer Wahrnehmung existiert, so wie es ja auch keine Farbe gibt. All das ist Dekoration, die unser Gehirn mit seinen Fähigkeiten erschafft. Tatsächlich ist Gras rosa, jedenfalls in der Realität des Spatzen, genau wie du und ich, und nicht grün oder blau."

 

Hier folgt ein Exkurs über die Zeit, ein Thema, das sich neben Realität und Wahrnehmung ebenfalls durch den ganzen Roman zieht. Wie auch die Empathie. Hier ein Gedanke Majas:

 

"Empathie ist wirklich eine komplizierte Charaktereigen-schaft. Man kann immer Argumente dafür und dagegen finden und auf dieser feinen weißen Linie stehen bleiben,

die das eine vom anderen trennt."

 

Das bedeutet, man kann sich für oder gegen das Mitgefühl entscheiden. Es wohnt, wie die Einsamkeit, im Zimmer gegenüber.

 

Maja hat versucht, ihre Gefühle zu unterdrücken, doch sie sind immer noch so stark, dass selbst Filme sie im Innersten erschüttern können. Nur für die Tiere konnte sie ihr Mit-gefühl zulassen. 

Für mich liegt die Lesart nahe, dass sie alles, was jenseits ihrer Logik liegt, in die etwas verschrobene Figur Helga-Maria auslagert. Diese spricht gern von Harmonie und Liebe, wandert ganz selbstverständlich zwischen Orten und Zeiten und überbrückt damit leichtfüßig das, was in Maja so weit auseinanderliegt oder lag. Denn ganz am Ende verschwindet Helga-Maria. Vielleicht für immer.

 

Volha Hapeyeva spricht viele Themen an, gibt viele Denkan-stöße. Sie schreibt in unterschiedlichen Stilen, spricht in verschiedenen Tonlagen. Die philosophischen Überlegungen flicht sie elegant in die Gedanken und Gespräche ihrer sensiblen Figuren ein, so werden sie Teil der Geschichte und verbleiben nicht im Reich der Theorie.

 

Für Maja schließt sich am Ende ein Kreis und eine neue Lebensmöglichkeit erscheint:

"Nicht Alleinsein, sondern allein Sein. Nicht einsam sein, sondern eins sein. Allsein." 

Dies kann nur mit Empathie gelingen, für Mensch und Natur.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Volha Hapeyeva: Samota.

Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber

Aus dem Belarusischen von Tina Wünschmann und Matthias Göritz

Literaturverlag Droschl, 2024, 192 Seiten

 (Originalausgabe 2021)