David Grossman - Kommt ein Pferd in die Bar

Grossmans Roman ist die Niederschrift eines einzigen Abends: der Stand-up-Comedian Dovele, siebenundfünfzig Jahre alt, ist nach Netanja gekommen, um seinen Zuhörern einen vergnüg-lichen Abend zu bereiten.

Der Saal ist voll besetzt, er fängt an mit Witzen, Slapsticks, er schafft es sehr schnell, sein Publikum auf seine Seite zu bringen. Gebannt hören die Leute zu, auch wenn seine Witze manchmal knapp an einer Beleidigung vorbeischrammen oder nicht wirklich witzig sind.

 

Dovele ist ein begnadeter Schauspieler: von einer Sekunde zur nächsten kann er seinen Gesichtsausdruck oder seine Körperhaltung so weit verändern, dass er zu einer anderen Person zu werden scheint. Auch dies fasziniert sein Publikum, das weitgehend gleichgesetzt werden kann mit seinen Lesern. 

 

Ein besonderer Gast befindet sich im Saal: Avischai Lasar, pensionierter Richter des obersten Gerichtshofes.

Avischai und Dovele kennen sich aus Kindertagen, sie besuchten zusammen den Mathenachhilfeunterricht und gingen immer gemeinsam den Weg zurück nach Hause.

 

Dovele hat Avischar, der sich überhaupt nicht mehr an Dovele erinnert, extra für diesen Comedy-Abend eingeladen.

"Ich möchte, sagte er schnell, spuckte die Worte regelrecht aus, ich möchte, dass du mich sieht. Dass du mich ganz genau anschaust, und dann sagst du mir -

Was sag ich dir dann?

Was du gesehen hast."

 

Beklommen geht Avischar hin und schnell wird klar,

dass Dovele nicht im Sinn hat, einen lustigen Abend zu veranstalten. Er hat nichts Geringeres im Sinn, als vor den Richter zu treten und dessen Urteil anzunehmen.

 

Der ganze Abend schwankt zwischen Witzen, Episoden, eingeblendeten Reaktionen des Publikums, dem zunehmend das Lachen im Hals stecken bleibt und auch den Saal verlässt (am Ende sind noch eine handvoll Zuhörer anwesend), den Entblößungen Doveles, seine Verführung des Publikums, denn das beherrscht er virtuos - aus Comedy wird eine Mischung aus Lebensbeichte und Gerichtsverhandlung.

 

Avischar kommt die Rolle des Richters zu. Weil es sein Beruf ist, Menschen einzuordnen und weil er als vierzehnjähriger eine ganz entscheidende Rolle in Doveles Leben gespielt hat. "Du hast mich ausradiert", sagt Dovele am Telefon, als er Avischar einlädt.

 

Avischar ist derjenige, der Dovele noch aus seinem ersten Leben kennt. Nach der Trennung der beiden Kinder - das waren sie beide noch, mit vierzehn - sahen sie sich nicht wieder bis zu jenem Abend.

Mit im Saal ist auch eine sehr kleine Frau, die den Jungen Dovele kennt. Sie hält nicht mit ihren Erinnerungen zurück, berichtet laut davon, dass Dovele immer auf den Händen lief, dass er "ein guter Junge war." Ihr kommt in dieser Geschichte die Rolle einer Zeugin zu, an ihr und ihren Reaktionen misst sich der Wahrheitsgehalt dessen, was Dovele erzählt.

 

Am entscheidenden Tag seines Lebens waren die beiden Jungen zusammen in einem paramilitärischen Trainigslager für Jugendliche in der Wüste. En passant lässt Grossman hier einfließen, dass diese Wehrertüchtigungslager in der israelischen Wüste nicht weit weg waren von den Lagern der HJ. Dort wurde der kleine Dovele von allen verspottet, lächerlich gemacht, als Ball benutzt, auf viele verschiedene Arten gequält. Avischar hätte ihm vielleicht helfen können, doch er hat sich abgewandt...

 

Genau in der Mitte des Buches erinnert sich Avischar daran, dass er in den schlimmen Nächten in Gadna-Lager die Decke über den Kopf zog, als es die Jungs besonders lustig trieben.

 

Ohne Vorwarnung wird Dovele mitten am Tag plötzlich aus diesem Lager abgeholt. Ihm wird lediglich mitgeteilt, die Beerdigung, die erste seines Lebens, sei um vier Uhr, das könnten sie gerade noch schaffen. Dovele wird in ein Militärfahrzeug gesetzt und zurück nach Jerusalem gefahren.

 

Die einzige Frage, die Dovele beschäftigt ist: ist es die Mutter oder der Vater? Das hat ihm niemand gesagt.

Für den Jungen wird das zu einer Fahrt durch die Hölle, was nicht an der Hitze liegt. Er steigert sich in den Gedanken hinein, dass er es in der Hand hat, zu wessen Beerdigung er fährt. So lange alles noch im Ungewissen ist, kann er entscheiden, ist er der Richter, der Herr über Leben und Tod.

 

Mal drängt sich der Vater in den gedanklichen Vordergrund. Er war gewalttätig, aber auch verantwortungsbewusst und geschäftstüchtig. Und er hat die Mutter geliebt.

Die Mutter war schwer depressiv nach ihren Erlebnissen während der Nazizeit, aber für sie fühlt sich Devele verantwortlich. Abend für Abend spielt er Theater für sie, um sie aufzumuntern. Immer heimlich, so lange der Vater, der das nicht geduldet hätte, noch nicht zu Hause war.

 

Das Publikum kann während des Vortrages "einen Blick in die Hölle von jemand anderem" werfen - ist das der Grund, warum nicht alle Leute gehen?

Und Avischar? Sieht er das, worum er gebeten worden war?

"Das, was von einem Menschen ausgeht, ohne dass er Kontrolle darüber hat. Etwas, das niemand sonst

auf der Welt besitzt."

 

Dovele meint, mit seinem Entschluss, mit seiner Ument-scheidung im letzten Moment für den Tod eines seiner beiden Eltern verantwortlich zu sein. Damit hat sich beschmutzt, er fühlt sich "dreckig bis auf die Knochen."

"Ich glaub manchmal, der Dreck dieser Abrechnung ist in meinem Blut bis heute nicht zerfallen. Konnte er doch auch nicht. Wie denn? So ein Dreck - ... radioaktiv ist der."

 

Am Ende des Abends sind nur noch Dovele und Avischar im Saal, Dovele zitiert Kafka: "Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!" ("Das Urteil")

Man kann nicht in einer Kugel, einer Explosion oder am Strick ertrinken, nur im Schmerz. Und was verursacht größere Schmerzen als eine alte Schuld...

 

Dovele spricht die ganze Zeit über in der Ich-Form zu seinem Publikum/zum Leser. Er erzählt sein Leben.

Avischar hört zu, macht sich seine Gedanken, lässt auch Erinnerungen zu, ebenfalls in der Ich-Form.

Dadurch erhält die Geschichte eine Doppelperspektive, einmal die Erzählung als solche und ihre Ergänzung oder Spiegelung in Avischars Worten.

 

"Ich bin ein Hurensohn, merkt euch das! Schreib das auf, Herr Richter, berücksichtige das bei der Festsetzung des Strafmaßes. Glaubt ja nicht, ich bin bloß diese nette, fröhliche Witzkanone, ein Imperium von Lachsalven. Ich bin ein Hurensohn seit damals, als ich mit gerade mal vierzehn und einer beschissenen Krämerseele in dem Wagen saß und meine elende Rechnung aufgemacht habe, die beschissenste und abgründigste Rechnung, die ein Mensch in seinem Leben aufmachen kann. Ihr glaubt ja nicht, was ich da alles draufgesetzt habe. Den dreckigsten Kleinkram hab ich aufgelistet, in den paar Minuten, die wir von unserem Haus bis zum Friedhof brauchten. Wie ein kleiner Krauter hab ich die beiden gegeneinander aufgerechnet. Einen Kassenbon hab ich aus ihnen gemacht! Aus ihrem und aus meinem Leben!"

 

Das hat mit Comedy nichts zu tun. Die formale Anlage des Romans als eine One-Man-Show gibt dem Autor die Möglichkeit, durchgängig in der direkten Rede zu erzählen und dabei nicht den inneren Monolog zu pflegen.

Hier spricht jemand nicht mit sich selbst, er spricht mit seinem Richter.

Der erkennt kurz vor Ende des Abends, dass Dovele ihn mit keinem Wort erwähnt hat in der langen langen Geschichte. Damit hat er sich zu erkennen gegeben, gezeigt, was man nicht unter Kontrolle hat, das, wobei man sich nicht verstellen kann.

 

Ein grandioser Roman, der manchmal genau wie die Witze hart am Rand des Erträglichen entlang balanciert, jedoch aus ganz anderen Gründen.

Das Leben des Kindes scheint früh besiegelt worden zu sein.

Was hat er daraus gemacht?

Sag mir, was du gesehen hast!

 

 

 

 

 

 

 

David Grossman: Kommt ein Pferd in die Bar

Übersetzt von Anne Birkenhauer

Hanser Verlag, 2016, 252 Seiten

Fischer Taschenbücher, 2017, 304 Seiten

(Originalausgabe 202014)