Vincent O. Carter - Meine weisse Stadt und ich

Das Bernbuch

"Wenn ich das Mövenpick betrat, fielen den Leuten Messer und Gabeln aus der Hand, sie verdrehten die Köpfe, saßen mit offenen Mündern da, Babys kreischten hysterisch los und Frauen riefen: "Gott steh uns bei!" Die ganz Mutigen hielten ihre Babys hoch, damit sie sich den schwarzen Mann ansehen konnten. Auf den Straßen kam es fast zu Auffahrunfällen, weil die Fahrer damit beschäftigt waren, mich anzugaffen. Ich übertreibe nicht, ich war so einzigartig in dieser Stadt, dass jeder - wirklich jeder -, der mich finden wollte, es schaffte."

 

Die Stadt ist Bern, das Jahr 1953, der "schwarze Mann" der Schriftsteller, der nach Europa zurückgekehrt ist, um dort zu leben und zu schreiben. 1944/45 war er als amerikanischer Soldat in Frankreich gewesen, also versucht er es zuerst in Paris. Die Stadt nimmt ihn nicht freundlich auf, er reist weiter nach Amsterdam, hier ist es nicht besser, auch in München nicht. Warum Bern? 

 

"Tja, aber warum bin ich dann hiergeblieben und habe all das auf mich genommen?"

 

Das ist eine der Fragen, um die sich das Buch dreht.

Es handelt aber auch von der Distanz zur Heimat, die es braucht, um sie deutlicher zu sehen.

Von den Schwierigkeiten, als Künstler ein Auskommen zu haben. Sich immer wieder dafür rechtfertigen zu müssen, dass man anscheinend nicht arbeitet. Kein Rentenkonto hat.

Es handelt von den vielen Wegen, die gegangen werden können oder müssen, um sich selbst als Individuum zu bilden, zu finden.

Und davon, dieses in der Gemeinschaft zu verorten.

 

Er erzählt von der Fast-Unmöglichkeit ein Zimmer zu finden. Von Begegnungen mit jungen Frauen, Vermietern, Freunden und Freunden von Freunden, von Eltern seiner Schüler (er unterrichtet Englisch). 

Von Kino- und Cafébesuchen, Spaziergängen durch die Stadt, Einladungen (ohne die hätte er an vielen Tagen hungern müssen), von seiner eiskalten Mansarde, von Geldsorgen und bitterer Armut.

 

Er berichtet davon, wie er lernt, damit zu leben, überall als "Neger" bezeichnet zu werden, phonetisch liegt dies für ihn sehr nah an "Nigger". Manchmal nennen die Leute ihn auch so.

 

"Ich habe nichts gegen - gegen - Nig - Schwarze. Sie sind - du bist genauso viel wert wie - wie ich - wie jeder andere..."

 

Immer wieder ist er erstaunt, wie naiv die Menschen ihm begegnen, zum Beispiel, indem sie ihm einfach in die Haare fassen, sie meinen das nicht böse.

 

Eine Zeitlang arbeitet er für das Radio. Er macht Sendungen, regelmäßig gibt es Streit über die Musik, die darin gespielt werden soll. 

 

"Dieser Streitpunkt lief darauf hinaus, dass ich den disziplinierten, geschulten Ausdruck in der Musik von Schwarzen dem undisziplinierten, ungeschulten Ausdruck vorzog, den meine Freunde euphemistisch als "natürlich" bezeichnen. Dieser "natürliche Ausdruck" so argumentierten sie, sei den tiefsten Empfindungen der Schwarzen, der primitiven Einfachheit und der rhythmischen Intensität Afrikas näher, während das verfeinerte Produkt des Konservatoriums eine "europäisierte Verfälschung seiner "Ursprünglichkeit" sei. 

Da ich aber der erste schwarze Amerikaner war, den die meisten von ihnen je gesehen, geschweige denn gesprochen hatten, überraschte es mich, dass sie über die "tiefsten Empfindungen" von Schwarzen so genau Bescheid wussten."

 

Schicht für Schicht legt Vincent O. Carter das frei, was heute als Alltagsrassismus bezeichnet wird.

Zum Teil mag das an einer gewissen Provinzialität der kleinen Schweizer Hauptstadt liegen, doch die Erfahrungen Carters (geb. 1924 in Kansas City, gest. 1983 in Bern) in anderen Städten und Ländern gleichen jenen in Bern, der Stadt, die in diesem Buch auf einzigartige Weise porträtiert wird, bis hin zur Architektur.

 

In die Beschreibung seines Lebens in Bern fügt der Autor mehr und mehr philosophische Gedanken ein.

Diese drehen sich um das "Ich", ein "Ihr" oder "Wir", um das Anderssein. Mit Ironie und einem lebensnotwendigen Humor schaut er auf sich selbst, hinterfragt sich permanent, ob er nicht doch der "hypersensible Nigger" ist.

 

 

Durch das ganze Buch ziehen sich Überlegungen über die Spinne, Symbol der Vollkommenheit. Ihre Kunst, ihre Freiheit, ihre unbedingte Identität geben ihm immer wieder Anlass, eine neue Frage zu stellen oder eine alte noch einmal zu bedenken. Nicht zuletzt dieses Symbol hält das vielfältige Buch, das Autobiographie, Tagebuch, Essay und Bericht ist, zusammen.

 

Geschrieben bzw fertiggestellt  im Jahr 1957, veröffentlicht 1973, ist es ein auch heute noch sehr lesenswertes Buch, das keiner Frage ausweicht und stets um Balance bemüht ist.

 

Eine schöne, empfehlenswerte Entdeckung!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vincent O. Carter: Meine weisse Stadt und ich; Das Bernbuch

Aus dem amerikanischen Englisch von piciao und Roberto de Hollanda; Nachwort von Martin Bieri

Limmat Verlag, 2021, 440 Seiten

(Originalausgabe 1973)