Xita Rubert - Die Unordentlichen

"So waren die Tage mit den Kopps diese Sorte Zeit, die man, bevor man davon erzählt, wie ein Theaterstück erlebt, eine Art hingenommenen Scherz oder eine gefeierte Lüge, ohne Zukunft oder Vergangenheit, folgenlos, nur mit Szenen, Bühne, Garderobe, Drehbuch." `Meine Tage mit den Kopps´ wäre der wörtlich übersetzte Titel des Romans, der ein grandioses Stück über die komische Tragödie des Menschseins ist. In diesem Coming-of-Age-Roman erzählt Virginia, siebzehn, drei Tage ihres Lebens. Drei Tage voller unglaublicher Ereignisse, die ihr Leben durcheinanderwirbeln, ihm eine neue Richtung geben, die für sie also nicht folgenlos bleiben.

 

Virginia ist mit ihrem Vater Juan, einem Historiker, von Madrid nach Nordspanien gereist, wo ein Kollege Juans, Andrew Kopp, einen Preis entgegennehmen soll. Der König selbst wird ihn in einem Theater überreichen. Diese Veran-staltung, die laut Kopp sehr langweilig zu werden droht, will er mit einem "Streich" aufmischen. Der Brite will ein State-ment gegen die Monarchie setzen, "das System braucht eine glamouröse Opposition". 

Dieser "Streich" soll am dritten Tag des Aufenthalts über die Bühne gehen.

 

Andrew Kopp ist ein spleeniger Engländer, der lügt, sobald er den Mund aufmacht, der in seiner eigenen Upperclass-Welt lebt, der es gewohnt ist, dass sich die Welt seinen  Vorstellun-gen anpasst.

Angereist ist er mit seiner Frau Sonya, einer Psychiaterin, und Bertrand, dem vierzigjährigen Sohn des Paares.

 

Bertrand eröffnet mit einer Performance den Roman.

Vor dem Hotel klemmt er sich zwischen zwei Autos ein, es sieht aus wie ein Unfall. In den Nachrichten heißt es, "der einzig darin Verwickelte und Betroffene sei ein Mann mit eingeschränkten geistigen Fähigkeiten", er selbst sagt, "er sei Urheber und Opfer seines eigenen Unfalls".

Virginia wird gebeten, Bertrand aus dieser Lage zu befreien, bzw so auf ihn einzuwirken, dass er sich selbst befreit.

Es gelingt ihr, zuvor jedoch hält er eine merkwürdige Rede. Sie klingt wie eine "Imitation akademischer Vorträge", ist jedoch völlig sinnlos.

 

Bertrand übt eine zwiespältige Faszination auf Virginia aus. Sie erkennt in ihm den Behinderten, der zum Künstler erklärt wurde, womit man ihm keinen Gefallen tut, und der ein gewisses Mitleid in ihr auslöst. Zu ihrem eigenen Erstau-nen löst er in ihr aber auch eine unbekannte Begierde aus, ihr Körper reagiert ganz deutlich.

 

Hingezogen fühlt sie sich auch zu Sonya, die die junge Frau zunächst wie einen "einzigen Fehler" behandelt. Im Verlauf des Romans entwickelt sich jedoch die Erkenntnis, dass beide Frauen sich ineinander spiegeln, sie in gleicher Weise unter den Unfähigkeiten ihrer Männer leiden. Es entspinnt sich ein Band, das unauflöslich wird, und beide in ihrer Verletzlich-keit zeigt.

 

Bertrand ist nicht nur Performer, er ist auch Bildhauer. Seine Skulpturen sind angeblich auf einem Schiff ausgestellt, er selbst sagt zu Virginia später, sie seien "in Afghanistan". Er sagt aber auch mehrfach den Satz: "Skulpturen sind flüchtig."

 

Die Flüchtigkeit ist ein Faden, der sich durch den ganzen Roman zieht. Außerdem die Fragen nach der Realität: gibt es sie, unabhängig von der Wahrnehmung und dem "inneren Geschehen"? Lässt sich die Wahrheit von der Realität lösen?

 

Virginia erzählt die Geschichte aus dem Rückblick. Dabei thematisiert sie immer wieder ihr eigenes Schreiben - dies ist für mich das Herzstück des Romans.

 

"Aus empfundenem Unbehagen entsteht, Monate oder Jahre später, der Anlass, zu erzählen."

"Das ist es, was mir beim Schreiben nicht gefällt: Wenn ich es aufschreibe, verliere ich etwas, alles, was ich damals glaubte und war. Dabei mag ich doch jenes Leben noch immer. Noch immer liebe ich sie, die Schwierigen, die Großzügigen, die Aufschneider."

"Es aufzuschreiben bedeutet auch, zu kapitulieren, sich dem Scheitern stellen, es mit Liebe betrachten, umarmen und streicheln, als wäre es das Kaninchen und nicht der Wolf. Die schlimme Wahrheit, das wilde Tier, bei sich aufnehmen ... ich schäme mich nicht für diesen Wunsch, die Wahrheit von der Realität zu lösen, einen gnädigen Schleier darüber auszubreiten ..."

 

Virginia erforscht in ihrem aus der Ich-Perspektive erzählten Roman ihre Reaktionen und Gefühle auf verschiedene Personen und Situationen. Sie nimmt dabei Abschied von der Kindheit, erfährt sich als neu, als fremd. Ist überrascht von sich selbst, auch davon, welche Resonanzen sie in anderen auslöst.

Indem sie aus der Distanz von diesen drei Tagen erzählt, versucht sie auch, Klarheit über den Prozess des Schreibens zu erlangen, und darüber, wie sie mit ihren Erinnerungen umgeht:

"Und von der Realität will ich ja sowieso nicht sprechen, denn das hieße ja, sie würde mir etwas bedeuten, als verriete ich sie nicht bei erstbester Gelegenheit, als wäre ich nicht schon als Lügnerin zur Welt gekommen." 

 

Ist ein Geschichtenerzähler notwendigerweise ein Lügner?

 

Dies alles spielt sie nicht etwa in einer philosophisch trockenen Art, sondern in einem fulminanten, detailreichen Roman durch. Das Debüt der 1996 in Barcelona geborenen Autorin findet vor dem geistigen Augen der Leser:innen auf einer großen Bühne statt. 

 

"Die Skulpturen sind flüchtig, ja, denn wenn sie das Wahre enthüllen, existieren sie nur für einen Augenblick,  verschwinden, wenn man blinzelt." 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Xita Rubert: Die Unordentlichen

Aus dem Spanischen von Friederike von Criegern

Berenberg Verlag, 2024, 123 Seiten

(Originalausgabe 2022)