Inhaltlich interessante Bücher, meist (zeit)geschichtlicher Thematik
Wytske Versteeg: Die goldene Stunde
Wegen des Krieges musste Ahmad seine Heimat verlassen. Die Sozial-arbeiterin Mari wird in ihrem Willen zu helfen, manchmal zur Last, nicht nur für Ahmad. Der ehemalige Soldat Tarik übersetzt Ahmads Aufzeichnungen für Mari, die in den Nahen Osten gereist ist, um Ahmad, der abschiedslos verschwand, wiederzufinden. Drei Leben, die unterschiedlicher nicht sein könnten, kreuzen sich, verflechten sich. Doch der psychologisch fein ausgearbeitete Roman ist weit mehr als eine Geschichte über Geflüchtete, Täter und Opfer. Er stellt die Fragen nach Zugehörigkeit und Fremd-Sein, nach Verantwortung, zeigt, wie schwierig es ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Und er ist letzten Endes ein zutiefst berührender Roman über die Hoffnung. Sein letzter Satz lautet "Und da ist so viel Hoffnung"!
Jakub Malecki: Beben in uns
Über siebzig Jahre, von 1938 bis 2004 und drei Generationen erstreckt sich dieser intensive, in der polnischen Provinz spielende Roman. Er wirft die großen Fragen auf: Gibt es ein unentrinnbares Schicksal? Hat der Mensch einen freien Willen? Wieviel Unglück kann ein Mensch ertragen, bevor er beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen? Kann die Unglücksspirale durchbrochen werden? Anhand zweier Familien spielt Jakub Malecki diese Fragen in einem bildgewaltigen, sehr klug komponierten Roman durch. Er porträtiert Menschen wie Landschaften präzise und beeindruckt durch seinen so feinen wie kraftvollen Stil. Eine echte Entdeckung!
Víctor Català: Ein Film (3000 Meter)
Mit diebischer Freude an der Beschreibung von Menschen zeichnet Caterina Albert i Paradís (1869-1966), die unter dem Pseudonym Víctor Català veröffentlichte, die Lebensgeschichte des Waisenhauskindes Nonat Ventura nach. Der Roman spielt im Barcelona der 1920er Jahre im Milieu der kleinen und ganz kleinen Leute. Nonat leidet darunter, nichts über seine Herkunft zu wissen, ist sich aber sicher, dass sie nur eine noble sein kann und die Welt ihm sein Recht auf ein angesehenes Leben in Reichtum vorent-hält. Nun, dann nimmt er sich eben, was er braucht. Er wird zu einem Meisterdieb, doch auch er ist nicht unfehlbar. Der Roman ist ein Feuerwerk an lebendigen Beschreibungen und überraschenden Wendungen. Die Autorin enthält sich völlig moralischer Urteile, sie setzt Nonats Leben und die Großstadt Barcelona in Szene - das Buch ist äußerst frisch, vergnüglich, kurzweilig und auch nach fast 100 Jahren kein bisschen angestaubt.
Patricia Paweletz: Meerjungfrauengesang
Über vier Generationen und einhundert Jahre deutsche Geschichte erstreckt sich dieses vielstimmige, auf dem Zeitstrahl vor- und zurückspringende Buch. Vier Frauenleben werden in Episoden erzählt, ein jedes ist durch die Ereignisse der Zeit geprägt. Aber auch durch das, was von Mutter zu Tochter weitergegeben wird an Wissen und an Verschwiegenem. Wie in jeder Familie gibt es Geheimisse, die noch mehr auf denen lasten, die sie nicht kennen, als auf denen, die sie bewahren. Nicht immer müssen sie aufgelöst werden, um in ein eigenes Leben, zu einer eigenen Stimme zu finden. Dies gelingt der 1970 geborenen Philippa, die ihren Frieden mit der Vergangenheit schließen kann.
Elena Winter: Im Orbit
Leonie ist 23, lebt alleine in ihrer "Raumkapsel", die sie nur verlässt, um zur Arbeit zu gehen. Die schlaflosen Nächte verbringt sie in Gesundheits-foren, diese ersetzen den nicht vorhandenen Freundeskreis. Und Symptome hat sie eine Menge, die Arztbesuche häufen sich. Eigentlich ist Leonie aber vor allem einsam. Bis Torsten ihre Umlaufbahn kreuzt und ganz neue Symptome hervorruft... Der Debütroman Elena Winters ist eine sehr humorvolle Geschichte über eine junge Frau, die etwas schräg im Leben steht, erzählt mit viel Empathie und Witz,
er ist ein großes Lesevergnügen.
Nino Vetri: Marcitero
Im fiktiven Dorf Marcitero auf Sizilien regieren Dummheit, Sturheit, Größen-wahn, Brutalität, Überlegenheitsgefühl, Frauen- und Fremdenfeindlichkeit. Nino Vetri mischt sie und noch weitere schlechte Eigenschafen zu dem toxischen Cocktail namens Populismus: Man schreit nach Unabhängigkeit und wartet gleichzeitig auf den starken Mann. Vetri entwirft mit seiner überzeichneten Realität eine bitterböse Komödie, das Lachen bleibt einem jedoch immer wieder im Hals stecken.
Lisa Weeda: Tanz, tanz, Revolution
Im fiktiven Besulia, einem Land im Osten Europas, das von seinem nördlichen Nachbarn überfallen wurde, gibt es einen traditionellen Tanz, mit dem Tote wieder zum Leben erweckt werden können. Damit möglichst viele Menschen diesen Tanz lernen, dreht die junge Anna Videos von ihrer Großmutter und stellt sie ins Internet. Es ist die verzweifelte Hoffnung, dass viele Menschen tanzen, sich bewegen, ihre Kraft für andere geben, damit diese leben können. Doch wie lange hält die Aufmerksamkeit der Welt vor, wann wendet sie sich anderen Ereignissen zu, wann setzt Kriegsmüdigkeit ein, wird die Sehnsucht nach der eigenen Normalität stärker als das Mitgefühl für andere? Indem sie verschiedene Erzählstimmen zu Wort kommen lässt, chronologisch rückwärts erzählt, eine uralte Legendengestalt mit der modernen Welt verbindet, schafft Lisa Weeda ein grandioses, vielschichtiges Werk über unsere Zeit. Sie ruft auf, hinzuschauen und vor allem, sich zu bewegen. Ohne Bewegung gibt es weder eine Revolution noch Frieden.
Simone Kucher: Die lichten Sommer
Zwei Frauen stehen im Mittelpunkt dieses Romans: die 1932 in Tschechien geborene Nevenka und ihre Tochter Liz, die 1950 in Deutschland zur Welt kam. Dazwischen liegt die Flucht aus Tschechien, das mühsame Leben in Baracken. Liz, die mit vierzehn anfängt, in einer Fabrik zu arbeiten, träumt davon, Sekretärin zu werden. Doch es kommt anders, sie heiratet sehr früh, bekommt rasch hintereinander drei Kinder. Und spürt immer deutlicher, dass sie immer noch der Flüchtling, die aus den Baracken ist. Noch in den 1970er Jahren ist sie keine Ansässige. Wie mit diesem "Klammergriff" der Vergangen-heit umgehen? Nevenka hat kaum etwas aus ihrem Leben erzählt, vielleicht wäre es einfacher, Liz wüsste, was ihre Mutter erlebt hat. So ist diese bewegende Geschichte aus einer bislang wenig beschriebenen Zeit auch eine Aufforderung, miteinander und nicht übereinander zu sprechen.
Lilia Hassaine: Bittere Sonne
Fünf Jahre nachdem Said nach Paris ging, um dort in der Autoindustrie zu arbeiten, kann er seine Frau Nadscha und die drei Töchter nachholen. Die Hoffnungen Nadschas zerschellen schnell an den Verhältnissen, in denen sie nun lebt. Zwar ist das Zusammen-leben mit den anderen Familien in einem der neuen Sozialbauten der Banlieue noch von Solidarität geprägt, doch die wirtschaftliche Situation bleibt schwierig. Noch schwieriger ist die Zerrissenheit zwischen den Traditionen und den Versprechen und Verlockungen des modernen Frankreich. Von den Sechzigern bis in die achtziger Jahre spannt sich dieser Familienroman, der sich zu einem aufschlussreichen Gesellschaftsporträt entwickelt. Lilia Hassaine zeichnet lebendige Figuren, die alle um ihr Leben kämpfen. Die Umstände stehen der Erfüllung ihrer Wünsche diametral entgegen.
Laura Lichtblau: Sund
Der Sund, zwischen Dänemark und Schweden gelegen, ist für die Ich-Erzählerin zunächst ein Ort des Rückzugs. Sie wartet auf ihre Geliebte und arbeitet an einer Recherche über ihren Urgroßvater. Diese unterbricht sie, um auf die Insel Lykke zu gehen, wo sie sich in einem ehemaligen Wanderheim einquartiert. Dort verzahnen sich die Geschichte der Insel, auf der sich eine Einrichtung zur Zwangssterilisation befand, mit der Familiengeschichte der Erzählerin. Ihr Urgroßvater war ein "nationalsozialistischer Orthopäde", Mitglied des "wissenschaftlichen Beirats" der Nazis und Unterstützer der Euthanasie. Dieses dunkle Kapitel wird auf der Insel wie in der Familie totgeschwiegen, in mühsamer Arbeit gelingt der Erzählerin die Rekonstruktion dessen, was geschehen ist und wer daran beteiligt war. Der Roman ist ein dichtes Gewebe an Eindrücken, Gedanken und Gefühlen, und im Mittelteil eine ungeschönte Sammlung an Fakten. Zugleich einen Sog entwickelnd und den Leser:innen viel Raum lassend, beeindruckt der Roman durch seine kluge Komposition und poetische Sprache.
Imre Rochlitz: Wie ein Film in Zeitlupe - Eine unglaubliche Flucht in Jugoslawien zwischen 1938 und 1945
Als Dreizehnjähriger verlässt Imre Rochlitz im Juli 1938 Wien, als Jude kann er dort nicht länger leben. Über sieben Jahre währt seine Odyssee durch Lager und Gefängnisse, immer wieder rettet ihn nichts als der Zufall. Nach der Kapitulation Italiens 1943 schließt er sich den Partisanen in Jugoslawien an, er kämpft nicht nur gegen den Feind, sondern auch für die Menschlichkeit. Seine persönliche Geschichte fügt er in die Geschehnisse der Zeit ein, stets ist der historische Hintergrund gegenwärtig. Das gesamte Buch, das an vielen Stellen durch Mark und Bein geht, zeichnet sich durch Ausgewogenheit, Nüchternheit, Detailreichtum und dem Bemühen aus, sich selbst nicht als Helden darzustellen. Der Autor hält sich fern von Hass oder später Rache, er stellt dar, was er erlebte und ist durchweg grundehrlich. Ein sehr lehrreiches, erstaunliches und in jeder Hinsicht gelungenes Buch.
Elisabeth Schneider:
Nach dem Wassertag
Maria, geboren 1884, aufgewachsen in einer streng protestantischen, deutschstämmigen Familie in Bosnien, verlässt 1912 wegen der drohenden Kriegsgefahr und wirtschaftlicher Schwierigkeiten zusammen mit ihrem Mann und zwei Kindern Sarajevo. Sie möchten in Hamburg einen Neuanfang wagen. Dies ist nicht der erste in Marias Leben, das ihr kaum eine Möglichkeit zur Entfaltung gab. Nach dem Tod der Mutter übernahm sie mit zwölf Jahren die Verantwortung für Haus, Hof und drei jüngere Brüder, von einem weiteren Besuch der Schule konnte das intelligente Mädchen nur noch träumen. Mit fünfzehn entflieht sie der unerträglichen Enge, heiratet - und kommt vom Regen in die Traufe. Elisabeth Schneider zeichnet Maria sehr lebendig und komplex, bettet sie in den historischen Kontext, lässt die Zeit um die Jahrhundertwende aufleben und erschafft eine Frauenfigur, die exemplarisch für eine ganze Generation steht.
Laura Freudenthaler: Arson
Die Ich-Erzählerin, eine junge Schrift-stellerin, arbeitet über "Todeszonen". Die Beschäftigung damit wird zu einer Obsession, die sie zunehmend an sich selbst und an der Welt verzweifeln lässt. Sie lernt einen Mann kennen, der am Meteorologischen Institut arbeitet und weltweit Brände beobachtet. Er leidet unter Schlaflosigkeit, sie unter einer nicht heilenden Wunde, beide könnten für den Klimawandel stehen, der sich auch in unkontrollierbaren Feuern zeigt. Laura Freudenthaler zeigt eine Welt, die sich am Kipppunkt befindet, wie ihre Figuren. Sie spiegelt Innen- und Außenwelt perfekt ineinander und zeichnet damit genaue Charaktere beider.
Jacqueline Moser: Wir sehen uns
Dieser feine Roman spürt den Verbindungslinien verschiedener Menschen nach, erzählt von ihrem Alltag mit seinen Begegnungen, Trennungen, Sehnsüchten und Ohnmachten. Das Bindungsglied ist ein in Basel gelegenes Haus, es sind aber auch eine gewisse Melancholie und der Traum von einem anderen Leben, die in allen wohnen. Einer Malerin gleich porträtiert Jacqueline Moser ihre Figuren, Strich für Strich erhalten sie Kontur; die Leerstellen, die sie lässt, sind eine Einladung an die Leser:innen, das Bild weiter zu malen.
Inghill Johansen: Ein Bungalow
Ein in die Jahre gekommenes Haus beherbergt die Erinnerungen der Ich-Erzählerin, die mit diesem Haus älter wurde. Sie erinnert sich an ihre Mutter, denkt über Alltägliches nach, verknüpft kleinste, unscheinbarste Beobachtungen mit den Fragen des Lebens, für die das Haus lange Zeit sinnbildlich steht. Doch die Erzählerin beginnt, das Haus abzustreifen, sich neue Räume zu schaffen. Still und reduziert ist dieses aus Kurzprosa bestehende Werk, das nicht nur von Vergänglichkeit, sondern auch von Verwand-lung und Versöhnung erzählt.
René Fülöp-Miller:
Die Nacht der Zeiten
Der 1955 erstmals publizierte Roman nimmt eine Schlacht des Ersten Weltkriegs als Ausgangspunkt für einen Roman über den Krieg an sich. Gegen die Elemente der Natur kämpfen, über Befehle nicht nach-denken, sondern sie ausführen, den Tod entindividualisieren, Hunger und Durst ertragen wie eine nicht mit Vernunft zu bekämpfende Bürokratie der Amtswege, die eigene Menschlichkeit Stück für Stück aufgeben - der Roman beschreibt eindrücklichst, was der Krieg mit und aus den Menschen macht. Eine Feststellung wie "Kriege sind nur für den Tod da" und viele weitere Aspekte heben den Roman ins Überzeitliche. Am Ende defilieren die Kriegstoten aller Zeiten, aller Länder in einer Vision am Ich-Erzähler Adam Ember vorbei, ihre Kriegsgesänge werden abgelöst von den Klagen und Anklagen der Frauen. In einem Nachklang finden sich Fingerzeige, die bis in unsere Gegenwart reichen - das uralte Menschheitsthema `Krieg´ wird in "Die Nacht der Zeiten" zwischen Realität und Mythos in all seinen Facetten all seines gefährlichen Glanzes beraubt.
Maria Kuncewiczowa: Zwei Monde
Die zwei Monde symbolisieren die unterschiedlichen Welten, die im polnischen Städtchen Kazimierz Dolny in den Jahren der Zwischenkriegszeit zusammentreffen: Die der Einheimi-schen und Sommerfrischler, die der Christen und Juden, der Armen und Reichen, der Männer und Frauen. Maria Kuncewiczowa (1895-1989) lebte viele Jahre dort, bezaubert von der Vielfalt und Eigenartigkeit der Stadt. In den zwanzig Geschichten, aus denen der Roman besteht, werden Stadt, Umland, der Weichselstrand und all die vielen verschiedenen Menschen, die dort leben und arbeiten oder sich vergnüglich tummeln, lebendig. Ihr Blick ist klar, sie errichtet keine Idylle, zeichnet deutlich die unterschiedlichen Möglichkeiten aufgrund des Geschlechts, der sozialen Stellung und der Religion auf. Doch sie wählt einen poetisch-leichten Ton, lässt den Blinden, die Schneiderin oder die Bettlerin so lebendig werden wie den Herrn Rechtsanwalt oder die diversen Maler, die der Faszination des Ortes ebenso erlagen wie die Schriftstellerin selbst.
Thomas Oláh: Doppler
Ein Autounfall, den der junge Erzähler als einziger überlebt, katapultiert ihn ins "Exil": zu den Großeltern in ein österreichisches Dorf, das vom Wein lebt. In jeder Hinsicht. Er muss sich arrangieren mit einer Familie der lachenden Tanten, grausamen Onkels, enthusiastischen Cousins... Diese Welt der 1970er Jahre besteht aus Gewalt, Alkohol, Stillstand, katholischer Kirche - von all dem erzählt der Roman jedoch so urkomisch, so doppelbödig, witzig und skurril, dass es ist ein großes Vergnügen ist, in diesen Sumpf einzutauchen.
Ralph Roger Glöckler:
Der König in seinem Käfig
Von Macht und Selbstermächtigung, von Unterdrückung, Revolte und Träumen handelt dieser Roman, dessen Heldin Anna ist. Anfang dreißig, Ziehtochter des Präsidenten, gefangen in einem Leben, das sie nicht selbst gewählt hat, kommt sie plötzlich in Kontakt mit Daniel, dem Traumdeuter des Präsidenten. Sie fängt an zu verstehen, in was für einem Land sie lebt, fragt sich, wie sie sich verhalten soll. Ralph Roger Glöckler stellt den inneren Konflikt Annas schlüssig dar, noch deutlicher wird das System Diktatur, das er von allen erdenklichen Seiten detailliert, sprach- und bildgewaltig beleuchtet.
Valentina Mira: X
Auf einer Party nach dem Abitur wird Valentina von G. vergewaltigt. Dies, und die Tatsache, dass ihr Bruder Andrea ihr nicht glaubt, dass ihm die Freundschaft zu G. wichtiger ist, er sich dessen Faschistengruppe anschließt und verschwindet, veranlasst Valentina dazu, Briefe an Andrea zu schreiben, und so das jahrelange Schweigen zu brechen. In ihrem Briefroman erzählt sie ihre persönliche Geschichte, die sie jedoch zu einer Auseinandersetzung mit dem Patriarchat, dem Kapitalismus und der strukturellen Gewalt entwickelt. Ohne Pathos, sehr klar und dezidiert, ihre Wut nicht verschweigend, erschafft Valentina Mira eine überzeugende Heldin in einem klug komponierten Roman, den man nicht mit dem letzten Satz beiseite legen kann.
María Gainza: Schwarzlicht
Die argentinische Schriftstellerin und Kunstkritikerin begibt sich in diesem funkelnden Roman in die Welt der Fälscher:innen und stellt dabei die grundsätzliche Frage: Was ist ein Original? Dies gilt auch für die Rekonstruktion eines Lebens durch Biograf:innen, die versuchen, einzelne Bilder zu einem Ganzen zusammenzu-setzen. Vielstimmig und weiträumig ist dieser Roman, er ist fantasievoll, nachdenklich und von einem wundervollen Witz getragen.
Theres Essmann: Dünnes Eis
Marietta ist neunundneunzig, seit Jahrzehnten trägt sie ein Geheimnis mit sich, das sie nicht einmal ihrem Mann anvertrauen konnte. Doch nun lernt sie ein syrisches Flüchtlingskind kennen, eine junge Fotografin, und sie erfährt die Geschichte ihres griesgrämigen Nachbarn, der noch immer ein Hitlerbärtchen trägt.
Alles zusammen wühlt sie auf, fügt aber auch lose Enden ineinander - manchmal braucht es ein ganzes langes Leben, um sich einem traumatischen Erlebnis zu stellen. Theres Essmann verknüpft in ihrem vielschichtigen, weiträumigen, poetischen und klug komponierten Roman viele Fäden zu einem so dichten wie zarten Gewebe. Die Geschichte erzählt vom Schrecklichsten, vom Schönsten, von Gewalt und Versöhnung.
Jane Campbell: Kleine Kratzer
Diese vierzehn Erzählungen sind das Debüt der 1942 geborenen Schrift-stellerin. Alle Heldinnen ihrer Storys sind jenseits der siebzig – alleine das ist eine Seltenheit in der Literatur.
Sie wehren sich dagegen, auf das Abstellgleis geschoben zu werden, weil sie nicht mehr „nützlich“ sind. Sie sind selbst überrascht, wie spät im Leben die Liebe kommen kann, vielleicht sogar zum ersten Mal, nach Jahrzehnten neben einem Ehemann und mit Kindern. Überraschend auch manchmal für die Frauen selbst, dass sogar Begehren sich einstellen kann, man hatte gelernt, ohne dieses Gefühl auszukommen. Sie sind nicht die guten Geister, die dem Leben entsagt haben, nehmen noch immer Korrekturen an ihrer Denkweise vor, verschließen sich nicht dem Unerwarteten. Mit hintergründig-abgründigem Humor legt Jane Campbell die verkrusteten Denkweisen frei, die noch immer, aller Aufklärung und Toleranz zum Trotz, ein völlig falsches Bild vom Alter pflegen.
Bernhard Strobel:
Der gute Mann Leidegger
Leidegger möchte gern ein guter Mann sein. Einer, der sich von den alten Vorstellungen von Männlichkeit gelöst hat, der ohne Lüge leben, aus Klischees ausbrechen und eine standhafte Moral haben möchte. Schwierig, schwierig, wenn man ein "Affärenbetreiber" ist und ständig Angst davor hat, dass das ganze Kartenhaus einstürzt. Der hochkomische Roman, der an keiner Stelle in den Klamauk abflacht, ist eine Aneinanderreihung von witzigen Szenen, die zeigen, wie sich der gute Mann immer mehr verstrickt. Er ist die humorigste Auseinandersetzung mit der toxischen Männlichkeit, die man sich vorstellen kann.
Sofia Yablonska:
China, das Land von Reis und Opium
Mit Mitte zwanzig reist die Schriftstellerin und Fotografin Sofia Yablonska 1932 im Auftrag einer französischen Filmgesellschaft nach China. Sie wohnt nicht in abgesicherten Bereichen, als "erste weiße Frau" lebt sie allein in einem chinesischen Viertel Yunnans, von dort aus unternimmt sie gefährliche Fahrten in die Berge. Sie will Leben, Gewohn-heiten, Kunst und Glaube der Chinesen verstehen - nicht um sich selbst zu finden reist sie. Ihre Beobachtungen hält sie mit der Kamera fest (die hier abgedruckten Fotos zeugen von ihrem genauen Blick) sowie in ihrem Travelogue, einer Vereinigung von Reisebericht, Tagebuch und Essay. Man taucht tief in ein in ein Land, das Europa noch immer fremd ist, und man kann die Autorin für ihren Mut, ihre Unvoreingenommenheit und ihren immer wieder rettenden Witz nur bewundern.
Erika Apfelbaum: Melas zwanzigstes Jahrhundert - Das Leben und Überleben meiner Mutter
Mit dem Leben ihrer Mutter erzählt Erika Apfelbaum die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts aus der Sicht einer Frau. Geboren 1899 in eine großbürgerliche jüdische Familie, in Wien und Berlin lebend, muss sie mit ihrem Mann Max und der Tochter 1937 Deutschland verlassen. Fünf Jahre später wird Max deportiert und in Auschwitz ermordet, Mela und die neun-jährige Erika entkommen durch den Mut eines Gendarmen. Völlig auf sich allein gestellt, hat Mela den eisernen Willen, ihrer Tochter das bestmögliche Leben zu sichern. 1947 beginnt sie in Paris zu arbeiten und macht eine traumhafte Karriere in einem internationalen Unternehmen. Über ihre Erinnerungen spricht sie kaum. Erika recherchiert jahrelang und schafft es, aus winzigen Puzzleteilen ein Gesamtbild zusammenzufügen, das fundiert und fein ein Jahrhundert und ein Leben porträtiert.
Steven Uhly: Die Summe des Ganzen
Ein junger Mann kommt täglich in eine kleine Kirche, um dort zu beichten. Nur scheibchenweise kann er von seiner Sünde, die er "unvermeidlich" begehen wird, berichten, dann flieht er. Mit den Brocken, die er dem Padre hinwirft, entfacht er dessen besiegt geglaubte Begierde, schließlich Eifersucht, Gefühle, die sich sintflutartig Bahn brechen. Steven Uhly erzählt in einer seltenen Kombination von Einfühlsamkeit und Spannung von den Folgen des sexuellen Missbrauchs junger Menschen, die ein Leben an diesen Taten zu tragen haben.
Roland Freisitzer: Die Befreiung
Die junge Dirigentin Clara hat bereits die ersten Stufen der Karriereleiter erklommen. Dieser Weg endet abrupt, als sie öffentlich macht, von einem berühmten und gefeierten Maestro vergewaltigt worden zu sein. Man glaubt ihr nicht, in den Medien - der Stardirigent hat beste Kontakte - tobt eine Hetzkampagne gegen Clara. Roland Freisitzer, selbst Komponist und Dirigent, schreibt über das Machtgefüge in der Musikbranche, aber nicht nur dort. Er schreibt über toxische Männlichkeit, Brutalität und die Verfügbarkeit der Frau, überall auf der Welt. Eindrücklich und erschütternd ist dieser Roman, aber er ist auch eine Geschichte der Befreiung.
Lindita Arapi: Albanische Schwestern
Alba, Ende dreißig, lebt mit ihrem Mann Thomas in Wien. Sie kommt aus Albanien, arbeitet nun bei der Ausländerbehörde, gilt als Beispiel gelungener Integration. Wie fremd sie sich dort fühlt, weiß nur sie selbst. Einzig die Telefonate mit ihrer in Tirana lebenden Schwester Pranvera geben ihr Kraft, aber die Angst, ihr ständiger Begleiter, wächst sich zu Panikattacken aus, Alba kann irgendwann das Haus nicht mehr verlassen. Ihr Leben nimmt eine völlig unerwartete Wendung, als sie zur Beerdigung ihres Vaters in ihre Heimat reist, zum ersten Mal trifft sie dort eine ganz und gar eigenständige Entscheidung. Der Roman bettet die persönlichen Lebensgeschichten in die Traditionen und Entwicklungen Albaniens, in die Erwartungen des Westens und in das große Thema Migration ein. Er ist ein weiträumiger Text, der den Lesenden die Figuren nahe bringt, und auch die Strukturen freilegt, die es so schwer machen, einen eigenen Weg gehen zu können.
Esther Kinsky: Weiter Sehen
Die Erzählerin hegt eine große Leidenschaft für das Kino. Dieser Ort der gemeinsamen Erfahrung, der Verständigung und auch der Magie, steht exemplarisch für das WIE des Sehens und des Weiter Sehens über das eigene Wohnzimmer hinaus. Sie wagt es, an einem kleinen Ort in Südungarn ein verlassenes Kino wiederzubeleben, sie versucht es. Diese persönliche Geschichte ist eingebettet in die Entwicklungen der Gesellschaft. Das Buch erzählt auf verschiedenen Ebenen von Menschen und ihrer Wahrnehmung der Welt, von Standortbestimmungen und der Bereitschaft, das Mögliche zu denken.
Lina Meruane: Nervensystem
Die Protagonistin, eine Physikerin, kämpft nicht nur mit ihrer Doktorarbeit und den Geistern der Vergangenheit, sie kämpft auch gegen eine rätselhafte Krankheit. Diese ist der Anlass, sich mit den Krankheiten ihrer Familie zu beschäftigen und dabei all den Fäden nachzuspüren, die die Menschen wie ein Netz verbinden.
Lina Meruane verknüpft sehr geschickt die persönlichen Schicksale mit der Geschichte verschiedener Länder, denn Krankheiten und Traumata wüten in den Menschen und der Gesellschaft. Die Gewalt durchzieht die Jahrhunderte, so, wie das Nervensystem einen Menschen.
Luise Maier: Ehern
Luise Maiers eindrücklicher Roman kreist um die Weitergabe von Traumata über Generationen hinweg. Die Ich-Erzählerin Ida beginnt mit Mitte zwanzig, die Geschichte ihrer Familie zu erforschen, um so auch herauszu-finden, wer sie ist, woher sie kommt. Die Autorin verwebt die Biografien von Idas Vorfahren, vor allem die ihrer Großmutter Magdalena, mit der Geschichte des 20. Jahr-hunderts. Und sie fächert auf, wie sehr manche der damals herrschenden Ideen bis heute nachwirken, bis in das Leben Idas, geboren 1990, hinein. Klug legt die Autorin Spuren aus, zieht Verbindungslinien, verzahnt Episoden, Erinnerungen, Träume, Realität und die Ablagerungen von Generationen in einem einzelnen Menschen zu einem Gesamtbild. Das Bild der Matrjoschka ist ein sehr schönes für Idas Erkenntnis, all die Mütter ihrer Linie in sich zu tragen und trotzdem ihren eigenen Weg gehen zu können.
Raymond Vouillamoz: Eugènie,
Die Magd des Kretins - Tagebuch einer Reise
In diesem "Tagebuch einer Reise" vereinen sich die Lebensgeschichten eines Kretins aus bester Familie und die eines Waisenmädchens. Am Ende des 18. Jahrhunderts im Wallis beginnend, über die napoleonischen Kriege, die Kolonisierung der Krim, bis hin zum zweiten Weltkrieg führt die Reise, in deren Verlauf die persönlichen Geschichten in die Zeitgeschichte eingebettet werden. Vor allem die Biographie der Eugènie ist eine erstaunliche: sie heiratet, wird Mutter, erlernt den Beruf der Hebamme und gehört am Ende ihres Lebens zum inneren Kreis am Zarenhof. Die Tagebücher erzählen von den Einflüssen der Zeit und Welt auf das Leben der Menschen, aber auch von den Möglichkeiten des Einzelnen, eigene Wege zu gehen.
Andrej Blatnik: Platz der Befreiung
Dieser Roman, der im Jahr 1988 mit den Demonstrationen für Freiheit und Unabhängigkeit beginnt, und bis in die Gegenwart reicht, erzählt von der Entstehung des heutigen Sloweniens. In dieses Gesellschaftsporträt ist das Bild eines namenlosen Helden gewebt, sowie eine Liebes-Fast-Liebes-geschichte, die die vielen einzelnen Episoden des Romans miteinander verbindet. Die Bandbreite reicht von fabulierlustigen Gesprächen bis zu allgemeinen Bemerkungen über gesellschaftliche Themen, von hoher Philosophie bis zur "wilden Mathematik" von Wohnungs-vermittlern. Die Vielfalt ist beeindruckend, in jeder Hinsicht.
Simone Atangana Bekono:
Salomés Zorn
Salomé, Tochter einer Niederländerin und eines Kameruners, erfährt ihr Leben lang Rassismus bis hin zu gewalttätigen Angriffen. Eines Tages wehrt sie sich. Dafür bekommt sie sechs Monate Jugendhaft mit Wiederein-gliederungstherapie, die ausgerechnet ein Mann durchführt, der an einer rassistischen TV-Show teilgenommen hat. Was hat Salomés Zorn so groß werden lassen? Was hat ihn zur Explosion gebracht? Es geht nicht nur um diese eine Tat, sondern um die Strukturen einer Gesellschaft, die ausgrenzt. Salomé muss lernen, ihre Wut zu zähmen, was müssen all die Menschen um sie herum lernen?
Manuel Chaves Nogales:
¡Blut und Feuer!
In neun Erzählungen, entstanden 1936/37, reflektiert der zu diesem Zeitpunkt im Pariser Exil lebende Autor und Journalist Manuel Chaves Nogales die erste Zeit des Spanischen Bürgerkriegs. Er weigert sich seine "Wahrheit des liberalen Intellektu-ellen, des Bürgers einer demokrati-schen und parlamentarischen Republik" zu verraten. Er stellt sich auf keine Seite, in seinen Erzählungen beschreibt er die Grausamkeiten aller an diesem Krieg Beteiligten dar. Er versteht es, einen klaren Blick auf die Fakten zu behalten, einen Spannungsbogen aufzubauen und mit seinen vielfältigen Figuren und der Beschreibung all dessen, was passiert, die LeserInnen für einen heute nur scheinbar weit entfernten Konflikt zu interessieren. Die Grundkonstellation hat sich nicht verändert. Gewalt erzeugt Gewalt, das ist keine neue Erkenntnis, aber Chaves Nogales gießt diesen Gedanken in beeindruckende Erzählungen, die brennend aktuell sind.
Tatjana Gromaca:
Die göttlichen Kindchen
Eine Ich-Erzählerin berichtet von ihrer Mutter und deren Hochs und Tiefs, den Krankenhausaufenthalten, dem stetigen Kampf gegen ihre Ängste. Diese Mutter ist ein Sinnbild für die Gesellschaft Kroatiens in den 1990er Jahren: das Land kämpft mit den Folgen des Krieges, der die Menschen zu Bestien gemacht hat. Doch das eigenwillige Buch ist weder räumlich noch zeitlich begrenzt, es erzählt vom "Bodensatz" in den Menschen, von ihren Fluchten, ihren Versuchen, keine Verantwortung zu übernehmen, und damit niemals frei sein zu können.
Tom Vuk: Josip
Tom Vuk fiktionalisiert in diesem Roman die Lebensgeschichte seines Vaters, der in den 1960er als junger Mann nach Deutschland kam. Nicht, um viel Geld zu verdienen, sondern um sich abseits der Erwartungen seiner Familie ein eigenes Leben aufzubauen. Mit vielen Geschichten verschiedener Personen spannt der Autor einen weiten Bogen durch das 20. Jahrhundert, erzählt von Krieg und Liebe, von Eifersucht und Scham, von Arbeit, Armut und begrabenen Träumen. Aber auch von Mut und Kraft. Das sehr lesenswerte Debüt ist eine bilderreiche Charakterstudie, es erzählt nicht von Integration, sondern von Emanzipation.
Pico Iyer: Japan für Anfänger
Pico Iyer, der seit über 30 Jahren in Japan lebt, empfindet sich selbst noch immer als "Anfänger". Er erlebt das Land widersprüchlich, rätselhaft und überaus faszinierend. Diese Faszina-tion gibt er in seinem aus hunderten Mosaiksteinchen bestehenden Buch an seine LeserInnen weiter. Er schreibt ohne Wertung über Religion und Rituale, über Tempel, Straßen und die U-Bahn, über Männer und Frauen, Gefühle und Abschottung, über Ähnlichkeiten und Unterschiede, über Schein und Sein... Die lehrreiche wie vergnügliche Lektüre weitet den Blick, sie gleicht einer Reise mit einem Führer, der sich nicht anmaßt, jedes Rätsel lösen zu können.
Sarah Elena Müller: Bild ohne Mädchen
Dieser sehr intensive, atmosphärisch dichte Roman erzählt von einem Mädchen, dessen einziger Verbündeter ein Engel ist. Die Eltern sind mit sich selbst beschäftigt, Freunde hat es nicht. Es ist fasziniert vom Fernsehen, das darf es nur beim Nachbarn Ege. Dort schaut sie bald nicht nur völlig versunken zu, sie steht auch vor der Kamera, die Lebens-gefährtin Eges filmt. Es geht um Werden und Sein, um die Herstellung von Zusammenhängen, um Vorbestimmung und Zuschreibungen, darum, dass "alles seinen Preis hat".
Es geht um die Folgen der sogenannten Sexuellen Revolution, um Verantwortungslosigkeit, Blindheit und darum, den Absprung zu schaffen. Ein bestens komponierter, verstörender Roman, den man mehr als einmal lesen wird.
Olga Ravn: Die Angestellten - Ein Roman über Arbeit im 22. Jahrhundert
Der Roman ohne klassische Handlung besteht aus dutzenden "Zeugenaus-sagen", die ein "Ausschuss" zusammen trägt. Er will wissen, wie sich die Aufnahme einiger Gegenstände in das "Sechstausender-Schiff", das irgendwo im Universum unterwegs ist, auf die Menschen und Humanoiden, die dort gemeinsam arbeiten, auswirkt. Die Angestellten erzählen von ihren Sehnsüchten nach Liebe
und anderem, ihnen noch von der Erde in Erinnerung Gebliebenem, und ihrem Versuch, sich in die entmensch-lichte Arbeitswelt einzufinden. Der Roman hat absolut
nichts von einem politischen Pamphlet, er ist hochpoetisch, fließend, melancholisch. Die Angestellten stellen sich die Frage, ob es noch richtig ist, wie es ist, das sollten auch die LeserInnen tun. Ein sehr gelungenes Debüt der 1986 geborenen Autorin.
Bernd Marcel Gonner:
Sediment und Sedum
Im Jahr 2010 kauft sich der Autor Bernd Marcel Gonner einen Hof in Franken. Es ist eine alte Kulturlandschaft, die zu erhalten viel Arbeit und Wissen erfor-dert. In seinem Werk verwebt Gonner seine Beobachtungen und Erlebnisse sowie die konkrete Beschreibung seiner Tätigkeiten mit naturkundlichen, historischen und kulturellen Aspekten zu einem dichten Teppich an Natur-Erfahrung. Der viel-fältige, poetische Text wurde 2021 mit dem Deutschen Preis für Nature Writing ausgezeichnet, herausgehoben wurde vor allem die literarische Kunstfertigkeit, mit der die "Arbeit an der Natur" sichtbar gemacht wird. Ein Kleinod, ein Schriftsteller, den es zu entdecken gilt!
Manuel Chaves Nogales: Deutschland im Zeichen des Hakenkreuzes
In April und Mai 1933 bereist der spanische Journalist und Schriftsteller Manuel Chaves Nogales Deutschland. Er berichtet über das dort Gesehene und Erlebte in der Zeitung AHORA, deren Chefredakteur er war. Seine Reportagen sind glasklar, hellsichtig, getragen von seinem Anspruch, Informationen zu liefern, und nicht Meinungen zu verbreiten. In seinen Analysen geht er auf alle erdenklichen Aspekte des Lebens ein, sie sind ein wertvolles Zeugnis eines Zeitgenossen, dessen Weitblick immer wieder staunen lässt. Und daneben die Frage aufwirft, wie blind andere waren. Manuel Chaves Nogales vereint Journalismus mit Literatur, seine zwölf Reportagen sind in einem brillanten Stil geschrieben, allein dieser macht sie lesenswert.
Ali Al-Kurdi: Der Schamaya-Palast
Im Schamaya-Palast, ehemals ein prächtiges Gebäude im jüdischen Viertel von Damaskus, leben mehr als 50 Familien, alle palästinensische Flüchtlinge. Diese provisorische Heimat ist ein Labyrinth, zugleich ein Labor, wie Zusammenleben gelingen kann. Der Roman erzählt von Ahmad, der dort wohnt, und seinem Freund George, einem Christen, der mit und in dem Palast begreift, was ein Leben als Flüchtling bedeutet. Der von tiefem Humanismus und großer Empathie getragene Roman verwebt die unterschiedlichsten Schicksale und Lebenswege in die aus zwei Perspektiven erzählte Geschichte der Freunde. Sehr lebendig und sinnlich, sehr berührend und erschreckend, unmittelbar ins Innerste der Figuren blickend, und zugleich die Umwelt beleuchtend, ist der Roman die Beschreibung einer untergegangenen Welt und das Plädoyer dafür, dass es möglich ist, in Frieden miteinander zu leben.
Lisbeth Exner: Realitätenhandlung - Neunundvierzig Minuten
Der Roman ist ein Kammerstück für sechs Personen, die eine knappe Stunde zusammen in einer Wohnung verbringen. Diese soll geräumt, die demente Mittsiebzigerin, die hier ihr ganzes Leben verbrachte, "delogiert" werden. Die aberwitzige, tragikomische Gesellschaftsstudie zeichnet Figuren, die an der Grenze zur Karikatur und zugleich sehr individuell dargestellt werden. Und sie schaut auf all das, was "Besitz" mit sich bringt. Das Thema `Wohnen´ erweitert sich zum Thema `Leben´ - der Debütroman Lisbeth Exners ist hochkonzentriert, sehr bedenkenswert und ein großes Lesevergnügen.
Franco Supino: Spurlos in Neapel
Ein Ich-Erzähler, der als Kind italienischer Migranten in der Schweiz aufwuchs, begibt sich auf Spurensuche nach Neapel. Er sucht nach der eigenen (Familien)Geschichte und nach der eines schwarzen Camorrabosses. Dieser machte eine erstaunliche Karriere und verschwand dann mit Anfang zwanzig spurlos. Franco Supino verknüpft die Themen Heimat, Identität, Migration, Kriminalität, Zufälle und mehr zu einem Roman, der sich trotz seiner Komplexität sehr flüssig liest und aus vielen Mosaiksteinen ein eindrückliches Bild zusammensetzt.
José Ovejero: Aufstand
Madrid 2017, die Stadt und ihre Menschen leben Jahre nach der Immobilienkrise noch immer in prekären und unwürdigen Verhältnissen. Alles ist im Würgegriff der Investoren und Banker, der Kapitalismus tötet, hier wie in aller Welt. Aus diesem System will die 17jährige Ana ausbrechen. Sie zieht in ein besetztes Haus, wird Teil einer Szene, die einen Aufstand vorbereitet. Ihr gegenüber stellt José Ovejero Aitor, Anas Vater, Teil des Systems, schwankend zwischen Verständnis für die junge Rebellin und Angst um seine Tochter. Der Autor beschreibt zwei Generationen, verschiedene Lebensentwürfe, in beiden die untrennbare Verbindung des Politischen und Privaten, er beschreibt den Weg einer jungen Frau, die sich nicht beirren lässt, die sich freischwimmt.
José Carlos Llop:
Der Bericht "Guillermo Stein"
Der 1968 in Palma spielende Kurzroman erzählt von Pablo, einem bei seinen Großeltern lebenden zwölfjährigen Schüler eines Jesuiten-kollegs. José Carlos Llop verknüpft diese persönliche Geschichte mit der der Insel, die Ende der 60er Jahre noch tief im Faschismus Francos steckt und wo Ereignisse aus dem Bürgerkrieg noch immer das Leben der Protagonisten bestimmen. Im Hintergrund schwebt stets die Frage: Was wissen wir von anderen, was über uns selbst? mit - die Antwort darauf ist erstaunlich.
Johanne Lykke Holm: Strega
Neun Mädchen verbringen einige Monate als Saisonarbeiterinnen in einem Hotel - in das niemals ein Gast kommt. Das labyrinthartige Gebäude ist ein Labor, in dem sich die Mädchen in ihre Rolle als Frau einüben sollen. Der Stil ist sinnlich, der Roman liest sich wie ein Märchen, doch die Aussage ist eine klar politisch-feministische. Es geht um Erziehung und Gehorsam, um Erwartungen, um Mädchen- und Frauenmörder, um Selbstermächtigung und die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens. Der Roman ist schlicht der Hammer!
Usama Al Shahmani:
Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt
Dafer Schiehan musste die Diktatur Saddam Husseins wegen eines kritischen Theaterstücks verlassen. 2002 floh er aus dem Irak, in der Schweiz fand er eine neue Heimat.
Der stark autobiografisch inspirierte Roman schildert das Leben in der Diktatur, die Flucht, den beklemmen-den Alltag im Schwebezustand des Asylsuchenden und wie Dafer es schaffte, sich ein eigenes Leben aufzubauen.
Die Natur und die deutsche Sprache halfen ihm, ein Gleich-gewicht zu finden und nach langer Reise die Selbstverständ-lichkeit, "dass er da ist" zu erfahren.
Aysegül Celik: Papierschiffchen in der Wüste - Roman in Erzählungen
Der aus zehn Erzählungen bestehende Roman ist im Südosten der Türkei angesiedelt. In einer Gegend, in der sich mehrere Ethnien, Sprachen, Kulturen und Religionen begegnen, in der noch sehr alte Traditionen lebendig sind. Diese aufzubrechen, einen eigenen Weg zu finden, die eigene Geschichte selbst zu erzählen, ist der tiefe Wunsch der Romanfiguren, meist Frauen. Sie sind Christinnen oder Jesidinnen, sie haben den gleichen Traum. Aysegül Celik verwebt Mythen und Märchen, Träume, Hoffnungen und die Realität zu einem poetischen und sensiblen Text, dessen Kernaussage lautet: Eine bessere Welt ist möglich!
Toril Brekke:
Ein rostiger Klang von Freiheit
Agathe, die siebzehnjährige Ich-Erzählerin, erlebt Ende der 1960er Jahre die Umbrüche in der norwegi-schen Gesellschaft und in ihrem eigenen Leben. Sie erprobt neue Freiheiten und sie wird mit Familien-geheimnissen konfrontiert, die Jahrzehnte unter Verschluss waren.
Mit ihrem fein komponierten Roman zeichnet Toril Brekke ein Porträt der Zeit, mehr noch das Bild einer starken jungen Frau, die erfahren muss, wie mächtig das Unausgesprochene ist.
Omar Youssef Souleimane:
Der letzte Syrer
Syrien im Arabischen Frühling 2011: eine Gruppe junger Menschen kämpft für ihre Freiheit, ihre Ideale. Die friedliche Revolution mit dem Ziel, eine Demokratie zu errichten, wird jedoch zunehmend von Islamisten unter-wandert, diese haben ganz andere Ziele. In den politischen Kampf verwebt Souleimane das Ringen seiner Figuren um Selbstbestimmung, um eine eigene Identität und ein erfülltes Leben. Er zeichnet sie sehr genau, viele Dialoge machen den Roman lebendig. Er ist poetisch, er ist auch brutal, denn ein junger Aktivist wird in das Folter-und Todeszentrum des Regimes gebracht. Doch es geht dem Autor nicht um die Darstellung der Gewalt, sondern um die Darstellung der Macht. Mit diesem gelungenen Debütroman ruft der im französischen Exil lebende Autor einen fast vergessenen Krieg in Erinnerung, darüber hinaus macht er deutlich,
wie grundlegend das Recht auf Selbstbestimmung ist.
ReisRé Soupault:
Überall Verwüstung. Abends Kino;
Reisetagebuch
Mit ihrem Vélosolex, einem Fahrrad mit Hilfsmotor, reist die Schrift-stellerin, Übersetzerin und Fotografin Ré Soupault im Jahr 1951 einige Wochen durch Süddeutschland. Von Basel aus fährt sie mehr als 1500 km, ihr wichtigstes Gepäckstück ist die Schreibmaschine. Das Reisetagebuch ist eine Aufnahme von Deutschland sechs Jahre nach Kriegsende. Es ist ein feines Porträt diverser Städte und seiner Menschen, eine Suche nach Verständnis der Situation, und auch ein Versuch, sich selbst in dieser veränderten Nachkriegswelt zu verorten.
Der Text beeindruckt mit seinen vielfältigen Reflexionen
und seiner Zugewandtheit. Ohne Übertreibung kann
Ré Soupaults Werk als ganz groß bezeichnet werden.
Rebekka Salm:
Die Dinge beim Namen
Dieser Roman spielt in einem Schweizer Dorf, er stellt jedoch ganz allgemein die Frage nach dem menschlichen Zusammenleben. Sein Dreh- und Angelpunkt ist ein Vorfall aus dem Jahr 1984. Ausgehend von diesem Ereignis entwickelt die Autorin eine dichter und dichter werdende Geschichte mit einer überschaubaren Anzahl an Personen. Aus deren Handeln und Schweigen webt sie das Porträt einer geschlossenen Gesellschaft, in der jeder alles über jeden weiß, zumindest zu wissen glaubt. Es werden Geschichten hinter vorgehaltener Hand erzählt, jeder strickt seine eigene Variante, es stellt sich die Frage: wann wird ein Ereignis wahr? Und: an welchem Punkt lädt man Schuld auf sich?
Esther Kinsky: Fremdland
In dieser Erzählung lotet Esther Kinsky das komplexe Thema Heimat und Fremde aus. Sie schreibt über das "Zwischenland" Banat, in dem sie einige Jahre lebte. Über ihre Reise nach Weißkirchen, heute in Serbien gelegen. Sich verändernde Grenzen, aber auch wandernde Flussbetten, die Rosenspur, die die türkischen Eroberer hinter-lassen haben, Rosen, in denen sich die "Ankömmlinge aus einer Fremde" durchzusetzen scheinen, oder die unendlichen Blautöne des Himmels - die Erzählung ist eine genaue Betrachtung des Landes, des Geländes, der Landschaft, und sie ist ein Nachdenken über die Frage, wie Fremde zu Heimat werden kann.
Walerjan Pidmohylnyj: Die Stadt
Die Stadt Kyjiw, in die Stepan Radtschenko in den 1920er Jahren kommt, ist für den Jungen vom Dorf ein Versprechen der Zukunft.
Er will studieren und aktiv die neue sozialistische Welt mitgestalten - doch er verlässt den vorgezeichneten Weg, um Schriftsteller zu werden. In seinem Leben spiegelt sich die Situation und das Denken der Metropole, Stepan verkörpert eine Epoche. Grandios erzählt, ist Pidmohylnyjs Roman ist ein Klassiker der ukrainischen Literatur, nun wurde er fast 100 Jahre nach seinem Erscheinen erstmals ins Deutsche übersetzt. Eine große Entdeckung!
Ana Schnabl: Meisterwerk
Ana Schnabls Mitte der 1980er Jahre in Slowenien spielender Roman erzählt von der jungen Lektorin Ana und dem Schriftsteller Adam. Obwohl beide verheiratet sind und obwohl Adam in Dissidentenkreisen verkehrt, während Ana der Geheimpolizei Informationen liefert, entwickelt sich eine Liebes-geschichte, die beide an ihre Grenzen bringt. Psychologisch scharf gezeichnet, in das Zeitgesche-hen eingebettet und durchzogen von Reflexionen über Schicksal, Liebe, Verrat, Schuld und vielem mehr, ist Ana Schnabls Buch ein intensives, inhaltlich und literarisch erstaunlich reifes Romandebüt der 1985 geborenen Autorin.
Adania Shibli: Eine Nebensache
Am 13. August 1949 wird in der Negev-Wüste ein Beduinenmädchen von israelischen Soldaten vergewaltigt und ermordet. Jahrzehnte später liest eine Palästinenserin, deren Geburt exakt
25 Jahre nach diesem Ereignis stattfand, davon in einem Zeitungs-bericht. Sie macht sich auf von Ramallah in die Wüste, möchte etwas über das Mädchen herausfinden, die Geschichte aus deren Perspektive neu erzählen. Der unglaublich intensive Roman spiegelt die Vergangenheit in der Gegenwart, berichtet in scheinbar nüchternem Ton von Besatzung, Schikanen und dem geringen Wert eines palästinensischen Lebens in Israel, er gibt dem "Vorfall" von damals etwas grauenhaft Ewiges.
Somerville & Ross: Durch Connemara
Mit dem Eselskarren in Irland
Zwei Schriftstellerinnen, die ihre Werke stets gemeinsam verfassen und so erfolgreich sind, dass sie von ihrem Schreiben leben können, reisen 1890 durch das westirische Connemara.
Ihr Zugtier ist eine Eselin, die in ihrer Eigenwilligkeit den beiden Damen in nichts nachsteht, so dass alleine die Fahrt an sich ein Abenteuer ist.
Das Besondere sind jedoch die Begegnungen mit den verschiedensten Menschen, meist wird von diesen in Zusammenhang mit ihren Häusern erzählt. Das gibt den Autorinnen zugleich Gelegenheit, den geschichtlichen Hintergrund mit einzuflechten, was aus dem Reisebericht eine umfassende Reflexion über Land und Leute ohne jeden pittoresken Kitsch macht. Dem kritisch-ironischen Blick der beiden Reisenden entgeht absolut nichts, ihre Darstellung des Landes und seiner Bewohner ist von Sympathie getragen. Was für eine Reise!
Thomas Brunnschweiler:
Die Zwischengängerin -
Das abenteuerliche Leben der Susanna Carolina Faesch
Carolina Faesch kam 1852 als Acht-jährige mit ihrer Mutter nach New York. Damit eröffnete sich der gebürtigen Schweizerin eine neue Welt, in der sie vor allem eines faszinierte: die Indianer und ihre Kultur. Nach Scheidung, Erziehung eines Sohnes, Berufstätigkeit und einer beglückenden Beziehung mit einer Frau, übertrat sie eine weitere Schwelle in ihrem Leben: sie wurde Sekretärin des legendären Sitting Bull. Als Grenz- oder Zwischengängerin versuchte sie zwischen den Ureinwohnern und den Weißen zu vermitteln, wobei ihr Herz eindeutig den verfolgten Stämmen gehörte. Thomas Brunnschweiler hat, gestützt auf ein Tagebuch Carolinas und einigen Notizen, ihre Lebensgeschichte rekonstruiert und fiktionalisiert. Dabei erzählt er auch die Geschichte der Native Americans, thematisiert die Frage, wer eigentlich die Wilden sind und vor allem: wie weit kann man sich in eine andere Kultur einleben und sie mit dem Herzen verstehen?
Thomas C. Breuer: Als Champion Jack Dupree mir half, im strömenden Regen einen Opel anzuschieben
In zehn Stories erinnert sich der Kabarettist, Moderator und Schrift-steller Thomas C. Breuer, geb. 1952,
an seine Jugend in der Provinz.
Von Bad Ems über Koblenz nach Trier führte sein Weg, vom Elternhaus in diverse WGs. Seine stete Begleiterin, Lebensgefährtin und Hilfe in allen Lagen: die Musik, ohne die er das Erwachsenwerden nicht überlebt hätte. Das Buch ist ein lebendiges Bild der 1960er und 70er, angereichert mit je einer Trackliste zum Nachhören, angereichert auch mit ganz viel Humor, Selbstironie, Genauigkeit und nicht zuletzt Dankbarkeit.
Jonathan Garfinkel: Gelobtes Haus - Meine Reise nach Jerusalem
Mit Anfang dreißig reist der kanadische Jude Jonathan Garfinkel zum ersten Mal nach Israel. Er sucht nach einem bestimmten Haus, in dem ein Araber und ein Jude unter einem Dach leben - Symbol oder Frage, ob auch Israelis und Palästinenser friedlich in einem Land leben können. Die Reise wirft alles, war er bisher über das Gelobte Land gelernt hat, durcheinander. In vielen Begegnungen und Gesprächen lernt er eine andere Realität kennen. Das Buch ist getragen vom Ringen um Verständnis - der Geschichte und Religion, der Politik und dem eigenen Selbst. Ein äußerst dichtes Buch, vielfältig und beeindruckend gut komponiert.
Dany Laferrière:
Granate oder Granatapfel, was hat der Schwarze in der Hand?
Dieser aus unzähligen Episoden und Reflexionen bestehende Roman ist ein Roadtrip durch Nordamerika. Unternommen von einem jungen schwarzen Autor aus Kanada, der im Auftrag eines Magazins reist, um eine große Reportage zu verfassen. Das Buch ist weit mehr geworden, es ist eine Beschreibung der USA, eine Suche nach der DNA des Landes, und es ist ein Selbstporträt des Schriftstellers. Es ist vielfältig in Stil und Inhalt, an Gedankenreichtum und Tiefe.
Manuel Chaves Nogales:
Ifni, Spaniens letztes koloniale Abenteuer
Nach Jahrzehnten völliger Vergessen-heit wurde der spanische Journalist und Romanautor fünfzig Jahre nach seinem Tod wiederentdeckt. Er war zwischen 1921 und 1936 in allen wichtigen Zeitungen präsent, auch von seinem Londoner Exil aus veröffentlichte er bis zu seinem Tod 1944 in aller Welt. Dem Diktator Franco gelang es trotz der Berühmtheit Chaves Nogales, seinen Namen zu tilgen. Heute gehört er in Spanien wieder zu den bedeutendsten Intellektuellen, nun kann er erstmals auch auf Deutsch gelesen werden. In der Reihe "Iberisches Panorama" wird sein Werk in 14 Bänden aufgelegt - eine äußerst spannende Entdeckung.
Isabella Huser: Zigeuner
Die 1958 in der Schweiz geborene Autorin, über die Vaterseite zu den Jenischen gehörend, rekonstruiert die Geschichte ihrer Familie. Zentral dabei die Praxis der "Kindwegnahme", die, um die jenische Kultur zu tilgen, bis in die 1970er Jahre hinein praktiziert wurde. Isabella Huser erschafft lebendige Personen, geht zurück bis ins 17. Jahrhundert, verfolgt die Entstehung der modernen Schweiz und geht auf verschiedensten Ebenen der Frage nach: Was macht "das Fremde" aus, was "das Heimische"?
Stig Dagerman: Deutscher Herbst
Im Herbst 1946 reist der junge schwedische Schriftsteller Stig Dagerman im Auftrag der Tageszeitung "Expressen" durch das zerstörte Deutschland. Er besucht die großen Städte, fährt aufs Land, trifft Menschen in Kellern, bei Wahlkampf-veranstaltungen, im Zug oder bei Gerichtsverhandlungen. Sein Interesse
gilt den Einzelnen, das, was er erfährt, verknüpft er mit übergeordneten Fragestellungen. Die Texte sind erstaunlich reif, sie sind vielfältig und gekonnt, empathisch, aber nicht unkritisch. Das Buch aus der Zeit eines Landes, als noch nicht absehbar war, wohin es sich entwickeln wird, ist heute so aktuell wie damals.
Nina Bouraoui: Geiseln
Der ganz auf seine Heldin Sylvie konzentrierte Roman ist zugleich ein intimes Porträt der Mittfünfzigerin und ein Bild der modernen (Arbeits) Welt. Freiheit, Mann und Frau, oben und unten in der Gesellschaft, vor allem aber Gewalt, sind die Themen des Romans, der mit klarer Sprache formuliert, dass Arbeits- und Gefühlsleben nicht zu trennen sind.
Dato Turaschwili:
Das andere Amsterdam
Der georgische Schriftsteller Dato Turaschwili hat ein dreimonatiges Stipendium in Amsterdam bekommen. Er nutzt die Zeit für Streifzüge durch die Stadt und die Geschichte, denn er sucht nach Spuren seines Großvaters. Dieser floh Ende 1944 von Frankreich nach Holland - auf der Suche nach einer buchstäblich vom Himmel gefallenen Frau. Vermutlich schaffte er es nicht nach Texel, jener Insel, auf der 1945 achthundert georgische Kriegsgefangene einen Aufstand gegen die Deutschen durchführten. Dato Turaschwili verknüpft Geschichte und Zeitgeschehen, politische Ereignisse und private Erlebnisse zu einem höchst interessanten Roman, in den sich eine zweite Stimme, eine weibliche Perspektive, in Form einer Brieffreundin mischt. Der Roman zeichnet sich außerdem durch viele verschiedene Tonlagen aus, er ist eine vielseitige und bereichernde Lektüre.
Johannes Anyuru: Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken
Mit einem Anschlag auf einen Göteborger Comicladen beginnt dieser vielschichtige Roman, der die Linearität der Zeit, die Zuverlässigkeit der Wahrnehmung und der Realität infrage stellt. Zwei Erzählstränge umarmen einander: der eines schwedischen, muslimischen Schriftstellers, in dessen Leben die Geschichte der jungen Attentäterin fließt. Sie meint, aus der Zukunft zurückgekommen zu sein in unsere Zeit, um in die Geschehnisse einzugreifen. Der politische und poetische Roman ist ein dichtes Gewebe aus Fragen, aus Suche, Trauer und auch Hoffnung.
Leela Goldmund: Insektenglück
Die Kindheit Brigittes endet abrupt mit dem Eintritt ihrer Eltern in die Bhagwan-Sekte. Ende der 1970er zieht die Siebenjährige mit ihrer Mutter in die Züricher Kommune, dort sind Kinder nur störende Elemente auf dem Weg der Selbstentfaltung. Aus ihren Erinnerungen und den Reflexionen der Erwachsenen knüpft Leela Goldmund ihre biographische Erzählung, die deutlich aufzeichnet,
wie aus einer Befreiungsbewegung ein autoritäres System werden kann und wie die Spaltung in "Wir" und "Die" funktioniert.
Ralph Roger Glöckler:
Kurs auf die Freiheit - Portugal nach der Nelkenrevolution
Die literarische Reisebeschreibung führt nach Portugal in der zweiten Hälfte der 1970er. Die jahrzehntelange Diktatur ist überwunden, Aufbruch-stimmung herrscht, aber auch noch viele alte Strukturen. Der Autor durchquert das Land von Nord nach Süd, sucht die Begeg-nung mit Bauern, Fischern und Handwerkern. Wunderbare Beschreibungen der Berge oder des Meeres nehmen genauso für dieses Buch ein, wie die Zeichnung der Menschen und ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen. Der Autor schafft in poetischer Sprache einen "geistig-emotionalen Raum", in den er die LeserInnen einlädt. Man lernt ein Land und eine Lebensart kennen, wie viel von dieser Zeit vor vierzig Jahren mag davon noch bestehen?
Katixa Agirre: Die lustlosen Touristen
Bei den Anschlägen in Madrid 2004 lernen sie sich kennen, einige Jahre später fahren Ulia und Gustavo in die Heimat Ulias, ins Baskenland. Diese Reise führt tief in die Vergangenheit der jungen Frau und in die des Landes, und sie beleuchtet die gegenwärtige Lebenssituation des Paares. Sehr klug und raffiniert komponiert Katixa Agirre (geb. 1981) einen Roman aus drei Erzählsträngen, der viele Themen anschneidet und immer wieder auf die vielen Formen des Terrors und der Liebe, sowie die Suche nach der Heimat zurückkommt.
Harry Martinson:
Schwärmer und Schnaken
Harry Martinsons Naturschilderungen sind außergewöhnliche Essays.
45Texte aus den Jahren 1937-1939 versammelt dieser Band und gibt einen tiefen Einblick in das Werk des Schriftstellers, der die Beschreibungen von Pflanzen, Tieren, Bächen, Wiesen etc. mit Betrachtungen über Politik, Geschichte und Gesellschaft verbindet. Mit großer Sprachkraft und ungeheurem Variantenreichtum knüpft er die "Bande zwischen der Natur und der menschli-chen Seele" neu, verliert dabei aber nicht die Umstände des menschlichen Lebens aus den Augen.
Volha Hapeyeva: Camel Travel
Ein Kurzroman in 20 Geschichten aus dem Leben Volhas. Die Heldin und
Ich-Erzählerin teilt mit der Autorin Name, Alter und Herkunft, sie berichtet aus ihrer Kindheit in den 1980er und 90er Jahren in Weiß-russland. Mit großer Kunst - eine solche ist die Leichtigkeit mit der sie erzählt - bringt sie persönliche Erlebnisse, den Zeitgeist und ihre Schlüsse, die sie aus all dem Erfahrenen zieht, in Einklang. Ernst und Heiterkeit durchziehen den Roman, der das Debüt einer jungen Autorin ist, die etwas zu erzählen hat.
Leonardo Sciascia:
Ein Sizilianer von festen Prinzipien
Zwei zentrale Texte Leonardo Sciascias vereint in einem Band: "Tod des Inquisitors" und "Der Mann mit der Sturmmaske". In beiden dient die Geschichte als Echoraum der Gegenwart - hier der auf dem Scheiterhaufen verbrannte Häretiker Fra Diego La Matina aus dem 17. Jahrhundert, dort der Chilene Alarcon, der im Jahr 1973 mit einem Wink seines Gewehres entschied, wer "zu Folter und Tod bestimmt war". Der sizilianische Autor schreibt über die Inquisition als Struktur, als weiterhin präsentes System, innerhalb dessen sich auch der gesichtslose Mann mit der Maske bewegt. Es sind Texte über Gerechtigkeit, Freiheit, Würde, Respekt. Zum besseren Verständnis tragen umfangreiche Anmerkungen sowie ein Essay von Maike Albath und eine Abhandlung von Santo Piazzese bei - der feine Band ist eine "Verneigung vor Leonardo Sciascia" und eine Erinnerung daran, dass ein Tribunal nur dann eine Chance hat, wenn "es in seiner Umgebung an jedweder intellektuellen Kraft fehlt"!
Sofia Yablonska:
Der Charme von Marokko
Eine junge Frau reist im Jahr 1929 für drei Monate alleine nach Marokko,
aus Abenteuerlust und um sich selbst im Fremden zu spiegeln. Ihr Blick ist unvoreingenommen, weit weg von der kolonialen Attitüde der Franzosen, die sie in Marokko kennenlernt. Sie ist mutig und neugierig und sie versteht es, Menschen wie Situationen fesselnd zu beschreiben. Bei aller Faszination verliert sie nicht den kritischen Blick, ihre Fragen kreisen um kulturelle Identität, Zugehörigkeit und Selbstbestimmung. Sofia Yablonskas Travelogue ist ein Reisebericht, aber auch ein Erfahrungsbericht. Ergänzt wird der Text durch ihre Fotos, die einen präzisen Blick zeigen. Ein sehr schön ediertes Buch, hier stimmt alles.
Jurica Pavicic: Blut und Wasser
Im September 1989 verschwindet die
17-jährige Silva aus der Kleinstadt Misto in Kroatien, damals noch Jugoslawien. Bis ins Jahr 2017 reicht die Suche nach ihr - Jurica Pavicic schlägt einen Bogen von der Zeit vor dem Krieg bis in die heutige des Turbo-Tourismus. Was ein Krimi hätte werden können, entwickelt sich zu einem Gesellschaftsporträt, in dieses eingebettet die Fragen: wie stark konstruieren Zufälle ein Leben? Wie stark ist das Echo der Vergangenheit? Außerdem, dezidiert politisch: wie leicht schlüpfen manche Menschen durch alle Maschen? Ein interessanter, flüssig geschriebener Roman, vielfältig und viele Fragen aufwerfend.
Steven Price: Der letzte Prinz
Der kanadische Schriftsteller Steven Price, geb. 1976, zeichnet das Leben des sizilianischen Dichters Giuseppe Tomasi di Lampedusa - Schöpfer des weltberühmten Romans "Il Gattopardo" - nach. Er lässt den Dichter zum Romanhelden werden, beschreibt die Entstehung des Buches, die Welt der fünfziger Jahre und mit den Erinnerungen des Fürsten auch die Jahrzehnte zuvor.
Er lässt Lampedusas Familie und Freunde lebendig werden, notiert seine Gedanken über die Veränderung der Welt.
Der Roman von Steven Price ist ein eigenständiger Text, ein beeindruckendes Echo eines großen Werkes - beide stellen die Frage: Wann ist eine Zeit vergangen? Fußt doch jede Zeit, jedes Werk, auf einem Vorangegangenen...
Marco Balzano: Ich bleibe hier
Anhand des Lebens Trinas, geboren um 1900, erzählt Marco Balzano fünfzig Jahre Südtiroler Geschichte. Die Zwangs-Italianisierung ab 1923, die Unterdrückung durch den Faschismus, die `Option´, ins Deutsche Reich Hitlers auszuwandern, parallel dazu der Bau des Staudammes und die Flutung des Tals am Reschenpass: Trinas Leben ist mit den politischen Ereignissen aufs engste verknüpft. Sie entscheidet sich zu bleiben, zu kämpfen für ihr Recht auf Heimat. Im Kleid von Lebenserinnerungen erzählt Marco Balzano im Kern von Machtausübung, Machtmissbrauch.
Er verändert den Blick auf eine pittoreske Landschaft, lenkt ihn unter die glitzernde Oberfläche.
Jens Wonneberger:
Mission Pflaumenbaum
Ein Dorf im Osten Deutschlands, dreißig Jahre nach der Wende: Kramer fährt übers Wochenende hin, um seine Tochter zu besuchen, die ihren Traum vom Leben auf dem Land verwirk-lichen möchte. Er begegnet dort dem alten Rottmann, Chronist und `Stimme des Volkes´, der überall auftaucht, wo Kramer hingeht, und ihm von den Geschehnissen im Dorf erzählt. Bald fängt auch Kramer an, seiner Tochter Tine von der Wendezeit zu berichten - so verschränken sich die Geschichten der Zeiten, der Generationen, der einzelnen Figuren. Der nüchterne und zugleich kunstvolle Ton des Romans verhehlt nicht, dass die große Begeisterung von großer Ernüchterung abgelöst wurde, dass es unter der Oberfläche brodelt.
Christophe Boltanski: Das Versteck
Boltanski schreibt die Geschichte seiner Familie (die "Familienmytho-logie") auf, indem er Raum um Raum des Hauses durchschreitet und anhand der Besonderheiten dieser Zimmer die einzelnen Mitglieder seiner Familie charakterisiert. Das zweistöckige Haus ist die Trutzburg der Familie, ein Ameisenhaufen, für fast zwei Jahre das Versteck des jüdischen Großvaters. Regentin des Hauses ist die Großmutter, eine resolute, jede Konvention verachtende, mutige Frau, die es schafft, das Haus zugleich Gefängnis und Ort größter Freiheit sein zu lassen. Mit der Genauigkeit eines Journalisten hat Boltanski ein poetisches Werk erschaffen, das einem Kaleidoskop gleicht: es besteht aus vielen beweglichen Elementen.
Frédéric Brun: Perla
Perla, die Mutter des Ich-Erzählers, wurde 1944 nach Auschwitz deportiert. Sieben Monate verbrachte sie dort, eine Zeit, die ihr ganzes Leben prägen wird. Nach ihrem Tod begibt sich ihr Sohn auf Spurensuche, denn sie hat ihm nie erzählt, was ihr im Konzentrations-lager widerfuhr. Die persönliche Geschichte der Mutter bettet Frédéric Brun ein in die Geistesgeschichte Deutschlands und die ungläubige Frage, wie dieses Land Novalis, Hölderlin,
Caspar David Friedrich und Hitler hervorbringen konnte.
Der Gedanke, mit unlösbaren Widersprüchen leben zu müssen, wird illustriert von 15 Abbildungen, die Gemälde der Romantik und Aufnahmen des Autors aus Auschwitz zeigen - das preisgekrönte Debüt ist eine eindrucksvolle Lektüre, der Auftakt einer Familien-Trilogie, die weit über das Thema Familie hinausgeht.
Michael Stavaric: Fremdes Licht
Ein Eisplanet in ferner Zukunft,
das traditionelle Grönland des 19. Jahr-hunderts und als Verbindungsglied die Weltausstellung in Chicago 1893 - Symbol für den Aufbruch in eine hochtechnisierte Welt - zwischen diesen Zeitebenen bewegt sich der Roman, der als Science Fiction beginnt und einen weiten Bogen in die Vergangenheit schlägt. Unglaublich vielfältig in Stil und Inhalt stellt Michael Stavaric anhand der beiden Hauptfiguren Elaine und Uki die großen Fragen der Menschheit. Der aus vielen Blickwinkeln zu lesende Roman ist beeindruckend gut, spannend, poetisch und realistisch zugleich.
Anke Gebert: Wo du nicht bist
Das "Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes" vom 15. September 1935 verhinderte die Hochzeit der Christin Irma mit dem Juden Erich, die einen Tag später hätte stattfinden sollen. Irma beweist großen Mut, indem sie sich nicht von Erich trennt, auch wenn er sich dafür ausspricht, um sie zu schützen. Nach dem Krieg erfährt Irma, dass der Mann, mit dem sie im Herzen längst verheiratet war, nicht zurückkommen wird. Sie beginnt einen Kampf mit den Behörden, um trotzdem als seine rechtmäßige Ehefrau anerkannt zu werden. Der Roman beruht auf einer wahren Begebenheit. Er erzählt über die Liebesgeschichte hinaus ein Stück deutscher Geschichte, gut fassbar, da sie an zwei lebendig geschilderten Menschen festgemacht wird.
Paolo Rumiz: Der unendliche Faden
Paolo Rumiz unternimmt eine Rundreise zu fünfzehn Abteien der Benediktiner in verschiedenen Ländern Europas. Er sucht die Quellen, Wurzeln und Fundamente, auf denen das politische und kulturelle Europa ruht und sich speist. Die Reise wird "immer mehr zu einer Wiederentdeckung der Werte, die von der Moderne zunichte- oder lächerlich gemacht werden." Aus Beschreibungen, Dialogen und Reflexionen entsteht ein Text, der eine Vielfalt an Begegnungen beschreibt, vor allem aber ein flammendes Plädoyer für Europa ist - ein gastfreundliches und mensch-liches Land, orientiert an den Grundsätzen derer, die es ideell begründeten: den Benediktinern.
Stefan Zweig: Der Zwang
Stefan Zweigs Geschichte aus dem Jahr 1920 von Zwang und Wille, Mut und Feigheit stellt den Maler Ferdinand in den Mittelpunkt. Er ist mit seiner Frau Paula in die Schweiz gegangen, um sich der Einberufung zum deutschen Militär zu entziehen. Doch die Macht der Kriegstreiber reicht über die Grenzen des Landes hinaus - Ferdinand muss sich entscheiden, ob er sich widersetzt oder der amtlichen Aufforderung zur Musterung folgt. Paula repräsentiert die Stimme der Freiheit und Menschlichkeit und erinnert Ferdinand an die Wahlmöglichkeit jeden Individuums.
Die zeitlose Erzählung wird kongenial ergänzt durch Holzschnitte Frans Masereels, mit dem Stefan Zweig der Kampf gegen Krieg und Ungerechtigkeit und auch eine tiefe Freundschaft verband. Bild und Text ergänzen sich und bringen die Aussage der Geschichte voll zur Geltung.
Edvarts Virza: Straumeni
Ein Gehöft auf dem lettischen Land ist der `Held´ dieses Romans, der auf eine Handlung völlig verzichtet. Im Mittel-punkt stehen die Jahreszeiten und die mit ihnen verbundenen Tätigkeiten. Sehr detailreich und genau schildert Edvarts Virza den Dreiklang von Arbeit, Glaube, Natur. Das "Paradies", das er beschreibt, ist kein Schlaraffen-land, aber die Arbeit sinnstiftend, die Menschen aufgehoben. Der Roman wurde schnell nach seinem Erscheinen im Jahr 1933 zum Nationalepos eines erst fünfzehn Jahre zuvor unabhängig gewordenen Landes - das Leben war sicher nie so, wie es dargestellt wird, aber der Roman war eine Quelle für die Identität der jungen Nation. Und für den heutigen Leser ist es ein Einblick in eine geordnete Gesellschaft, "in der alles und jeder Wertschätzung erfährt und in der nichts und niemand überflüssig ist", wie Berthold Forssman in seinem erhellenden Nachwort schreibt.
Thomas Brussig: Die Verwandelten
Zwei Jugendliche verwandeln sich in einer Autowaschanlage in Waschbären! Diese völlig absurde Idee ist die Ausgangsbasis einer Satire, die vor Augen führt, wie unsere moderne, von den Medien geprägte Gesellschaft funktioniert. Thomas Brussig zeigt Gier, Juristerei, Eitelkeit, Einfalt und noch viel mehr. Er zeigt, wie wir alle mit-spielen und das Rad am laufen halten. Er hat Tiefe, dieser Roman, auch wenn er im komischen Kleid daherkommt.
Isabel Figueiredo: Roter Staub
Mosambik am Ende der Kolonialzeit.
Erinnerungen
Dieses "Heft mit Erinnerungen an die Kolonialzeit" räumt gründlich mit dem Ammenmärchen auf, der portugiesische Kolonialismus sei ein sanfter gewesen.
Aus der Perspektive des Kindes erzählt die Autorin, die 1963 in Mosambik als Tochter portugiesischer Siedler zur Welt kam, von Rassismus und Gewalt, vom Glauben der Weißen, die Neger seien Tiere. Sie verließ das Land 1975, als es die Unabhängigkeit erkämpfte, lebte fortan als retornado bei der Großmutter. Die Erinnerungen beschreiben das Ringen mit dem Vater, die Suche nach der eigenen Identität, und sie sind eine schonungslos ehrliche Darstellung der Verhältnisse in Afrika. Isabel Figueiredo entwickelt eine eigene literarische Stimme, es gelingt ihr, lebendige Figuren zu erschaffen, die an ihre Eltern und die Großmutter angelehnt sind. Eine bereichernde Lektüre, die auch einen Ausweg aus rassistischem Denken aufzeigt:
im anderen sich selbst zu erkennen.
Jonathan Coe: Middle England
Im Kleid eines Familienromans versucht der 1961 geborene Autor zu ergründen, was "Merrie, Deep, Old England" in den Brexit getrieben hat. Wenige Haupt- und viele Nebenfiguren stehen jeweils für eine Generation, Schicht, politische Haltung, dies gibt dem Autor die Möglichkeit, aus vielen vielen Winkeln auf die Entwicklungen der letzten vierzig Jahre zu blicken. Er komponiert einen spannenden Roman, der stete Wechsel an Personen und Perspektiven entwickelt einen starken Sog - man kann sie kaum aus der Hand legen, diese Geschichte aus dem Herzen Englands.
Michael Lichtwarck-Aschoff:
Der Sohn des Sauschneiders
Der berühmte Biologe Paul Kammerer und Franz, der Bub vom Land, haben ein Ziel: die Vererbbarkeit von erlern-ten Eigenschaften zu erforschen. Sie tun dies vor dem Ersten Weltkrieg am Wiener Vivarium - streng beobachtet von den Gegnern Kammerers. Franz, dessen Lebenstraum es ist, das hornlose Rind zu züchten, gerät schließlich in arge Nöte, denn er ist grundehrlich und manchmal muss auch in der objektiven Wissenschaft ein wenig nachgeholfen (sprich: getrickst) werden. Lichtwarck-Aschoff nimmt Fäden aus Wissenschaft und Geschichte auf, fügt einige Figuren hinzu, und spinnt daraus eine hintergründige, von Sprachwitz und Phantasie getragene Geschichte, die fasziniert. Und auch ein helles Licht auf die Gegenwart wirft.
Ian McEwan: Die Kakerlake
Jims Sams hat nur ein Ziel: er will den "Reversalismus" einführen. Diesem Ziel dient er mit jeder Faser seines Körpers, so sehr, dass er bald kaum noch weiß, wozu diese neue Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung gut sein soll.
Egal - er will den Willen des Volkes umsetzten und Großbritannien in die Freiheit führen. Ganz unverkennbar handelt es sich beim Premierminister Sams um Boris Johnson, das Pikante: Sams ist eigentlich eine Kakerlake,
die in die Downing Street geraten ist, sich wie Kafkas Held Gregor Sams verwandelte und dort plötzlich die Fäden der Macht in der Hand hält. McEwans Politsatire spielt mit der Realität und beschreibt einen Wahn, der sich Realpolitik nennt. Der Roman garantiert ein fieses Lesevergnügen.
Jeanne Benameur:
Das Gesicht der neuen Tage
Der Kriegsreporter Étienne wird entführt. Nach einigen Monaten kommt er frei (getauscht? freigekauft? - auf jeden Fall zur Ware geworden), kehrt zurück ins Haus seiner Kindheit in einem französischen Dorf, zu seiner Mutter und dem alten Freund Enzo. Jeanne Benameur zeichnet Étiennes Weg zur inneren Freiheit nach, intensiv, sensibel, mit großer Empathie, in einer klaren und ganz eigenen Sprache. Im Zusammensein mit Jofranka, der Dritten im Bunde von damals, wird ihm klar, dass es ein zurück nicht geben kann, er muss ein neues Leben "erfinden".
Aus dem alten mit hinübernehmen kann er die Liebe zur Natur und zur Musik.
Robert Scheer: Matthäus-Passion
Lothar Matthäus, der Ex-Fußballgott, ist Trainer einer israelischen Mannschaft. Das war er tatsächlich, im Jahr 2008. Auf der Suche nach einem Mittelfeldspieler fährt er zusammen mit seinem Dolmetscher, dem Ich-Erzähler dieses Roadmovies, durchs Land. Begleitet von dessen Onkel Sauberger, der das Trio mehr als einmal aus einer unangenehmen Situation befreit. Jedem Kapitel des Romans ist ein Thema eingeschrieben, das (selbst)ironisch betrachtet wird, seien es die Schabbat-Regeln, die Religionstouristen, die russischen Einwanderer oder die spezielle Philosophie des Bauches,
die Onkel Sauberger pflegt. Informativ, amüsant und leicht, aber auch hintergründig und ernst ist das Buch - die überbordende Phantasie des Autors ist eine Freude.
Steven Millhauser:
Stimmen in der Nacht
In sechzehn Erzählungen führt Millhauser vor Augen, wie nah unter
der sichtbaren Welt die verborgene, verdrängte, liegt. Wie leicht sich diese Bahn bricht und in die Vollkommenheit der Kleinstadt eindringt. Unter dieser
lebt eine "Alternativstadt", eine dunkle,
"die sich dem Aufbrechen von Grenzen verschrieben hat".
Er schlägt einen großen Bogen, über Mythen und Märchen, die Bibel und die Geschichte, hin zu einem kunstvoll gestalteten Triptychon, in dem er die zuvor aufgefächerten Gedanken wieder zusammenbringt.
Cesare Pavese: Das Haus auf dem Hügel
Turin 1943/44, die Stadt wird bombardiert, wer kann, flieht in die Hügel außerhalb der Stadt. Dort lebt Corrado, der Held des Romans schon seit Jahren, hierhin zog er sich in seine selbstgewählte Einsamkeit zurück. Durch Zufall trifft er Cate, eine Liebe aus vergangenen Tagen wieder, sie hat einen achtjährigen Sohn, der Corrados Kind sein könnte. Cate gehört zu einem Kreis von Widerständlern, sie ist eine sehr selbständige Frau geworden. Diese Begegnung weckt nicht nur Erinnerungen, sie verändert das Leben Corrados. Der Krieg holt schließlich auch ihn mit voller Wucht ein, er flieht, zuerst versteckt er sich in einem Kloster, dann schlägt er sich in sein Heimatdorf südlich Turins durch. Eingebettet ist dieses historisch genaue Dokument in die Überzeitlichkeit der Landschaft, die mehr ist als das, sie ist ein heiliger Ort, Träger einer uralten Kultur. Pavese arbeitet in seinen Roman die Fragen nach Verantwortung, Schuld, Angst, Einsamkeit, Krieg und Bürgerkrieg ein, er entwickelt einen überaus vielfältigen Reigen unterschiedlichster Charaktere (keineswegs verengt er seine Sicht auf den Ich-Erzähler). Seine präzise, rhythmische und moderne Sprache hat Maja Pflug trefflich ins Deutsche übertragen, sie hat das Werk entstaubt und ins Heute geholt.
Das ist Literatur auf allerhöchstem Niveau.
Llucia Ramis: Verortungen
Eine dreißigjährige Journalistin,
auf Mallorca aufgewachsen, zum Studium nach Barcelona gezogen und dort noch lebend, besucht ihre Eltern in Palma. Hier wird sie nicht nur mit einem völlig veränderten Vater konfrontiert, sondern mit den vielen Erinnerungen, die an bestimmte Orte gebunden sind. Schmerzhaft erinnert sie den Verlust dieser Kindheitsorte, die eine letzte Sicherheit in einer unsicheren Zeit waren. Doch der Roman ist weit mehr als eine Familien-geschichte, es geht um Veränderungen, Verantwortung (ganz explizit behandelt er die Verantwortung von Schreibenden), Wirtschaftskriminalität, Probleme des Alters, von Beziehungen, die Veränderungen durch das Internet - der autofiktionale Roman ist ein sehr gutes Beispiel für diese Erzählform, die Werk und Autor nicht mehr trennt.
Sehr spannend.
Sibylle Berg: GRM
GRM, Grime, ist die Musik derer, die sich noch nicht ergeben haben.
Der schönen neuen Überwachungswelt. Der Roman spielt in Großbritannien, in der Gegenwart und der nahen Zukunft. Der Weltuntergang hat nicht stattge-funden, die Welt ist nur schlimmer geworden. Im Grunde sind die Menschen überflüssig, man muss sie nur irgendwie beschäftigen. Um die Macht zu fühlen. Die vier Helden des Romans - Kinder - wehren sich, ziemlich lange. Sibylle Berg hat die Realität ein wenig weiter gedreht, die Zukunft, die sie entwirft, ist nicht abwegig, sie ist auf grausame Weise realistisch. Und fast alle machen mit.
Kai Wieland: Amerika
Ein Fremder kommt als Chronist in ein halb verlassenes Dorf im Schwäbischen Wald. Er sitzt in der einzigen Kneipe und stellt den Stammgästen Fragen -
es dauert nicht lange und sehr alte Geschichten kommen ans Licht, sogar ein Geheimnis, das jahrzehntelang gehütet worden war. Manchmal muss ein Fremder kommen und die Fragen stellen... Kai Wieland stammt aus dieser Gegend, er kennt die Mentalität, er hat die persönlichen Geschichten seiner Figuren gekonnt mit dem Zeitgeschehen verknüpft, er hat den Ton sehr gut getroffen - ältere Leser werden diese Typen wiedererkennen, jüngere viel lernen können in diesem Roman, der so nah an der Realität angesiedelt ist.
Francesca Melandri: Über Meereshöhe
Luisa und Paolo begegnen sich zufällig auf der Fähre, die sie zur Gefängnis-Insel bringt, auf der Luisas Mann, ein Mörder, und Paolos Sohn, ein Terrorist, im Hochsicherheitstrakt sitzen.
Ein Sturm verhindert die Rückfahrt,
sie müssen die Nacht auf der Insel verbringen - sie fangen an zu reden, sich zu erklären, die Erinnerungen in Worte zu kleiden, Verbindungen herzustellen. Im Schutz der Nacht entsteht eine große Nähe und Aufrichtigkeit, sich selbst und dem anderen gegenüber. Melandris fesselnde Geschichte handelt an zwei Tagen und zwei Nächten, sie erzählt jedoch mehr als ein ganzes Leben.
Luo Lingyuan:
Die chinesische Orchidee
Su Lifei stammt aus einer durch die Kulturrevolution verarmten Familie. Sie möchte die Schande, zu den "Schwarzen" gehört zu haben, endgültig abwaschen. Die Ehre der Familie wieder herstellen bedeutet ab den 1990er Jahren: reich werden. Lifei gelingt ein märchenhafter Aufstieg von der kleinen Angestellten zur Immobilien-maklerin. Dass dabei viel Bestechungsgeld bezahlt wird, auch in Form von Sex - Lifei ist eine sogenannte "Ernai",
eine Konkubine - versteht sich von selbst. Da zwar der Kapitalismus eingeführt wurde, aber die Partei immer noch herrscht, müssen dort, bei den Wichtigen und Mächtigen, die Hebel angesetzt werden, sonst bleibt jede Geschäftsidee auf der Strecke. Lifeis Denken und Handeln lässt einen tiefen Blick in das System der Korruption, aber auch in die Seele eines Menschen zu. Stilistisch erinnert er an das berühmte asiatische Lächeln - vor allem Lifei wirkt manchmal sehr naiv, aber das ist nur die Oberfläche, unter ihrer glatten Haut sieht es anders aus.
Alexander von Humboldt: Tierleben
Der geniale Wissenschaftler und Vordenker, Dichter und Reisende Alexander von Humboldt (1769-1859) hinterließ ein fast unüberschaubar riesiges Werk an Naturbeobachtungen. Ein Teil davon - die "Tierleben" - war nach einer Publikation zu Lebzeiten Humboldts bisher nicht mehr öffentlich zugänglich. Nun liegen fünfzehn Texte über Tiere, ergänzt durch Abbildungen, Anmerkungen und ein erläuterndes und erhellendes Nachwort, in einer wunderbar sorgfältig edierten Ausgabe vor, Chapeau!
Gioacchino Criaco:
Die Söhne der Winde
Drei fünfzehnjährige Jungs sind die Protagonisten dieses Romans, der in Africo, Kalabrien, spielt. Sie wachsen in den 1970er Jahren in eine Gesellschaft hinein, die von Armut geprägt ist.
Die Väter arbeiten im Norden,
die Mütter auf den Feldern als Tagelöhnerinnen unter schlechtesten Bedingungen. Die Jungs wissen, auch sie werden weggehen müssen, die Heimat ihrer Kindheit gibt ihnen keine Chance. Oder doch? Sie sind leicht gefundenes Fressen für die Krake Mafia, die ihre gierigen Hände nach den Armen ausstreckt, sie braucht immer Nachschub.
Criaco, der selbst aus Africo stammt, beschreibt sehr genau das Leben der Menschen, vor allem seiner drei Helden.
Er gibt damit einen Einblick in eine Welt, aus der viele
Fakten bekannt sind, er jedoch gibt den Menschen Gesicht und Stimme.
Willi Wottreng: Ein Irokese am Genfersee. Eine wahre Geschichte
Deskaheh, Chief der Irokesen und Sprecher der Six Nations, reist 1923 nach Genf, um die Rechte seines Volkes gegen Kanada durchzusetzen.
Mehr als ein Jahr verbringt er in der Schweiz, begeistert seine Zuhörer für die Sache der "Rothäute", doch politisch erreicht er nichts, denn der Völkerbund interessiert sich nicht für die Angelegenheiten eines kleinen Volkes, das nach seiner Ansicht auf kanadischem Gebiet lebt.
Die wahre Geschichte rückt ein Ereignis in den Mittelpunkt, das im Kern von der sehr unterschiedlichen Auslegung des Begriffes "Demokratie" handelt und von der Macht des Stärkeren. Einer Stärke, die nicht zuletzt auf Reichtum und der Bereitschaft zur Gewalt gründet, und heute so lebendig ist wie in den 1920er Jahren.
Marius Daniel Popescu:
Die Farben der Schwalbe
Der Protagonist, ein Wanderer zwischen der Schweiz und Rumänien, reist anläss-lich des Todes seiner Mutter in das Land seiner Kindheit, das Land der "Einheits-partei". Die aufkommenden Erinnerungen an das weit entfernte Damals verwebt er mit Erlebnissen und Ereignissen die bis in die Gegenwart reichen. Aus verschiedenen Blickwinkeln und von mehreren Erzählstimmen getragen, setzt sich ein Lebens-Bild zusammen, das vielfältiger nicht sein könnte. Ganz berührend ist die Verbundenheit mit seiner Tochter,
die sich in Spiel, auch Sprachspiel, ausdrückt - immer wieder wird deutlich, dass die Sprache es ist, die die verschiedenen Welten zusammenhält.
Alvydas Slepikas: Mein Name ist Maryté
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges versuchen viele Kinder, die vollkommen auf sich alleine gestellt sind, über die Memel von Ostpreußen nach Litauen zu kommen, um dort bei Bauern Obdach und Nahrung zu finden. Häufig ernten sie Prügel, sie sind illegal und müssen sich in den Wäldern verstecken. Diesen sogenannten "Wolfskindern" widmet Alvydas Slepikas seinen auf vielen Gesprächen und Recherchen beruhenden Roman, der vor allem eines sehr deutlich macht: die Grausamkeit des Krieges.
Am allerdeutlichsten wird dies an den Kindern, deren Leid weit über das offizielle Ende des Krieges hinaus andauert.
Lucía Puenzo: Die man nicht sieht
Ismael, Enana und Ajo bilden ein perfekt eingespieltes Diebestrio. Weil sie so gut sind, werden sie von ihrem Patron Guida nach Uruguay geschickt, um dort die Villen einiger Superreicher auszuräumen. Schnell ist ihnen klar, dass der Auftrag, den sie bekommen haben, nicht durchführbar ist. Etwas länger dauert es, bis sie merken, dass sie nur Rädchen in einem ganz anderen Spiel sind - und nichts als Kanonenfutter. Lucía Puenzo hat ein tempo- und bildreich erzähltes Sozialdrama geschrieben, das mit vielen überraschenden Wendungen aufwartet und den Leser mit einer harten Welt konfrontiert.
James Baldwin: Beale Street Blues
"Der wird noch versuchen, mich dranzukriegen" - so Fonny, nach dem Zusammenstoß mit einem weißen Officer. Er sollte recht behalten: der Zweiundzwanzigjährige wird wegen einer Vergewaltigung, die er nicht begangen hat, verhaftet. Von jenem Mann, der die weiße Justiz in Person ist - ein rassistischer Officer, der sich in seiner Ehre verletzt gefühlt hatte. Und der am längeren Hebel sitzt, salopp gesagt. Vor allem Fonnys Freundin Tish, 19, versucht zusammen mit ihrer Familie alles Erdenkliche, um Fonny aus dem Gefängnis zu holen, denn Tish ist schwanger. Diese junge Frau erzählt in sich verschränkenden Handlungssträngen aus Vergangenheit und Gegenwart die Geschichte einiger Individuen, genauso aber die des Landes und der Afroamerikaner. Vielschichtig und präzise, im Ton direkt, jung, weltlich, entsteht so ein Bild von Leid und Hoffnung, Ungerechtigkeit und Liebe.
Andor Endre Gelléri: Stromern
In 31 Erzählungen, die in den 1920er und 30er Jahren in Budapest spielen, breitet Gelléri die Schicksale vor allem der armen Bevölkerung aus.
Deren Leben ist von der Weltwirt-schaftskrise geprägt, sie kämpfen um ihr Überleben - und ihre Würde.
In zugleich konkreten und abstrakten, klaren und verspielten, phantasie-vollen und plastischen Bildern erzählt der Dichter vom Streben nach Glück, der Lebenskraft und auch von Situationen, in denen es einen Zauberer bräuchte. Gelléri, mit nur 39 Jahren an Typhus gestorben (im Mai 1945, nach der Befreiung Mauthausens) hat den Menschen mit seiner einzigartigen Literatur, die noch heute aktuell ist
und nichts von ihrem Zauber eingebüßt hat, ein Denkmal gesetzt. Spricht man über Armut, muss zugleich über Menschenrechte gesprochen werden.
Archil Kikodze: Der Südelefant
Der Ich-Erzähler überlässt seinem Freund Tazo für einen Tag seine Wohnung, dieser trifft sich dort mit einer Frau. Beide sind gute Vierzig,
sie kennen sich seit Jahrzehnten, die Freundschaft ist alt genug, um eine solche Bitte zuzulassen, auch wenn sie sich seit Jahren nicht gesehen haben. Der Ich-Erzähler streift diesen einen Tag durch die Stadt Tiflis und erinnert sich an sein Leben, seine Filme, seine Lieben, seine Reisen und Begegnungen. Dieser eine Tag bringt eine solche Fülle
an Gedanken und auch Ereignissen, sie gleichen einer Reise durch ein Leben, eine Stadt, ein Land. Der Leser wird reich beschenkt mit einer Geschichte, die aus vielen vielen Geschichten besteht, und ihm das ferne Georgien sehr
nahe bringt.
Dawit Kldiaschwili:
Samanischwilis Stiefmutter
Der alte Samanischwili will nach dem Tod seiner Frau wieder heiraten.
Dies stürzt seinen Sohn Platon in Schwierigkeiten, denn ein Bruder würde bedeuten, dass er sein karges Erbe auch noch teilen müsste. Er hat die gute Idee, für den Vater eine zweifach verwitwete ältere Frau zu finden, die garantiert keine Kinder mehr bekommen wird. Die Suche nach ihr gestaltet Kldiaschwili (1862-1931), der 1930 den Titel "Volksdichter Georgiens" erhielt, zu einer Gesellschafts-studie, die auf lebendige und tragikomische Art den verarmten georgischen Adel, die sogenannten "Herbstfürsten", beschreibt, und dabei aufzeigt, welche Blüten Armut im Verein mit Dünkel treibt. Die von ihm porträtierten Typen sind noch immer jung und frisch (der Roman erschien 1896), das Buch gehört immer noch zu den beliebtesten in Georgien - noch immer erkennen sich die Leser in den beschriebenen Figuren wieder.
Die vorliegende Deutsche Erstübersetzung gibt Gelegenheit, diese Welt zu erkunden, die kurzweilige Lektüre gleicht einem Theaterstück, das vor dem geistigen Auge entsteht,
so plastisch sind die Menschen porträtiert.
Aka Morchiladze: Der Filmvorführer
Den Filmvorführer Islam Sultanow und den fast vierzig Jahre jüngeren Beso verbindet eine enge Freundschaft.
Islam ist Freund, Vater und Mentor in einer Person, er greift immer wieder in das Leben Besos ein, rettet ihm durch seine Weitsicht sogar einmal das Leben. Der im georgischen Tiflis und einer Kleinstadt in Westgeorgien spielende Roman beleuchtet die 1970er und 80er-Jahre, jene Zeit,
als das Sowjetreich zerfiel und eine neue Struktur sich erst herausbilden musste. Der Roman ist die Übersetzung von Besos Memoiren - so der Autor in einem kurzen Vorsatz. Dieser Kniff ermöglicht es ihm, mit den Augen eines naiven Menschen, der jedoch einen unbestechlichen Blick auf seine Welt und seine Zeit wirft, große Geschichte im Leben eines Einzelnen durchzuspielen. Beso wird zum Chronisten einer Geschichte, die bis in die 20er-Jahre zurückreicht und die womöglich seine Zukunft bestimmen wird.
Josepha Mendels: Du wusstest es doch
Um der Besetzung durch die Nazis zu entgehen, flieht der Dichter Frans Winter 1943 aus den Niederlanden nach London. Er lässt seine Frau und zwei kleine Kinder zurück - und nimmt sich vor, jegliche Erinnerung in einen geheimen Winkel seines Herzens zu schließen. In London trifft er Henrietje Bas, ebenfalls Holländerin und Jüdin.
Die beiden leben eine exzentrische Liebe, von Anfang an um deren Ende wissend, denn sobald der Krieg vorbei ist,
wird Frans zurückkehren in sein altes Leben.
Josepha Mendels gelingt es, einen Roman, der in finsteren Zeiten spielt, vollkommen frei von Bitterkeit und Pathos zu schreiben. Die Geschichte ist komisch und tragisch, frisch, unkonventionell und ehrlich und setzt allen unabhängigen Frauen ein Denkmal. Und sie ist in einem in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Ton verfasst.
James Baldwin: Von dieser Welt
Gott-Vater, Familie, Macht, Angst, Not, religiöse Tradition und Erweckung, Auflehnung, Hass, sexuelle Orientierung, schwarze Historie Amerikas, New York in den 1930ern - dies alles erzählt anhand der Geschichte des vierzehnjährigen John Grimes. Er ist der Mittelpunkt dieses autobiographisch gefärbten Romans,
in ihm kulminiert eine lange Geschichte der Schwarzen in den USA. In drei Teilen fächert Baldwin den Kampf des Protagonisten mit oder gegen seinen Vater und Gott auf, erzählt exemplarisch und überzeitlich vom Ringen um ein selbstbestimmtes Leben.
Felix Jackson: Berlin, April 1933
Nach viermonatiger Abwesenheit kehrt der Jurist Dr. Hans Bauer im April 1933 nach Berlin zurück. Und muss entsetzt feststellen, wie sehr sich die Stadt verändert hat. Nach kürzester Zeit regieren Hass und Gewalt, durch die Bevölkerung geht eine Schneise. Jude oder Arier, darauf reduziert sich das Leben. Er stellt bei Durchsicht der Familienpapiere fest, dass er selbst einen jüdischen Vorfahren hat - damit kann er nach den neuen Gesetzen nicht mehr als Anwalt tätig sein.
Durch einen unheilvollen Pakt mit dem Verantwortlichen für den "Schutz des deutschen Blutes" kann er weiterarbeiten, doch der Preis dafür ist sehr hoch - und schützt Bauer letzten Endes nicht vor Verrat. Eine Vielzahl an Nebenpersonen zeigen eine große Breite an Schicksalen auf.
Diese ergeben zusammen mit Bauers Tagebucheinträgen, seinen Reflexionen und der Stimme des Erzählers ein sehr dichtes Bild der damaligen Atmosphäre. Aus der Rückschau geschrieben, teilweise autobiographisch und klug komponiert, gelingt Felix Jackson, geborener Joachimson,
ein eindrucksvolles Zeit- und Menschenporträt.
Nan Shepherd: Der lebende Berg
Dieses fast in Vergessenheit geratene Buch ist eine der bedeutendsten Naturschilderungen des 20. Jahrhunderts. Nan Shepherd durchstreift das Berg-massiv der Cairngorms im Nordosten Schottlands bei jeder Jahreszeit, bei Tag und bei Nacht. Tausende Kilometer legt sie zurück und entdeckt bei jedem Schritt Neues. In der Natur um sich herum oder in sich selbst.
Stets sucht sie nach der Verbindung zwischen dem Außen und ihrem Inneren, die Bergwelt mit ihren spektakulären oder völlig unscheinbaren Erscheinungen eröffnet ihr Blicke in die eigene Seele. Präzise Beschreibungen, philosophische Überlegungen, ein Verweben des Kleinsten mit dem großen Ganzen in einer poetischen Sprache ohne jeden Hang zur Überheblichkeit zeichnet Shepherds Werk aus.
Es ist ein schmales Büchlein, das den Eindruck eines Riesenwerkes zurücklässt.
H.G. Wells (Text) & Nicole Riegert (Illustration): Die Insel des Dr. Moreau
Der Schiffbrüchige Edward Prendick strandet im Südpazifik auf einer Insel, auf der ein biologisches Experiment stattfindet. Der aus London stammende Dr. Moreau versucht dort, Tiere zu Menschen "umzugestalten."
Prendick wird Zeuge von schmerz-haften Operationen, er erlebt die Geschöpfe, die ihm eher Karikaturen des Menschen zu sein scheinen als Menschen mit Verstand, Gefühl und Schönheit, inmitten einer undurchdringlichen und phantastischen Natur. Dr. Moreau regiert sein "Tiervolk" mit Gesetzen und mit Religion, er lässt sich verehren wie ein Gott. Doch sein Experiment gerät außer Kontrolle und er wird Opfer seiner Hybris. Wells Roman, 1896 erschienen, gehört in die Reihe des englischen Schauerromans, mit allen Finessen der Kunst kreiert er eine Geschichte, die gekonnt mit der Angstlust des Lesers spielt. Diese wird verstärkt von den ausdrucksstarken Holzschnitten Nicole Riegerts, die diese Ausgabe trefflich illustriert hat. Sie geben der Geschichte eine weitere Dimension, eine eindrucksvolle Tiefe. Ein bedenkens- und betrachtenswertes Buch.
Michael Lichtwarck-Aschoff:
Als die Giraffe noch Liebhaber hatte
Vier Entdeckungen
Saint-Hilaire, Lavoisier, Pasteur, Bernard: große Namen aus zwei Jahrhunderten Wissenschaft - als diese noch in den Kinderschuhen steckt. Wie viel Zufall, Risiko, persönliche Opferbereitschaft und nicht zuletzt wie viel Hilfe von Menschen, die heute in keiner Geschichte der Medizin, Biologie oder Chemie vorkommen, nötig war, um zu den bahnbrechenden Erkenntnissen zu kommen, erzählt Lichtwarck-Aschoff in literarisch glänzend geschriebenen Geschichten. Dabei verwebt er Tatsachen,
die nicht gänzlich unbekannt sind, so geschickt und bewahrt so konsequent den Blick von außen, dass ganz neue Zusammenhänge offenbar werden - und die oft kuriosen Umstände exakter Wissenschaft.
Andrea Wulf: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur
Das Universalgenie Humboldt prägte unsere heutige Vorstellung von der Natur wie kein Zweiter. Er konnte beweisen, dass die Natur ein großes Geflecht ist, in dem alles mit allem zusammen hängt. Sehr früh erkannte er auch, dass dieses System ein verletzliches ist: jeder Eingriff des Menschen hat Folgen. Ausgedehnte Forschungsreisen, Kontakte zu Wissenschaftlern auf der ganzen Welt, nicht endende Wissbegier, Mut, Phantasie und Einfühlungs-vermögen waren seine Methoden der Weltaneignung.
Andrea Wulf untersucht die Quellen, aus denen Humboldt sich speist. Sie zeichnet seine Entwicklung als Wissen-schaftler und als Mensch auf, sie stellt seine Erkenntnisse vor, und berichtet von den Einflüssen, die er auf nach-folgende Wissenschaftler(generationen) und auf die Weltsicht jedes Einzelnen hat. Sie zeichnet das Bild eines einzigartigen und faszinierenden Mannes, der nicht hoch genug geschätzt werden kann. Mit ihrem Buch, das so viele Facetten in sich vereinigt, gelingt ihr ein ganz großer Wurf, zumal sie sich nicht in all den Einzelheiten verliert, sondern stets das große Ganze im Auge hat und sehr anschaulich und gut erzählen kann.
Agota Kristof: Das große Heft
Um ihre Kinder vor dem Krieg zu schützen, bringt eine Mutter ihre Zwillinge, ca. neunjährige Jungen, zur Großmutter aufs Land. Diese ist nicht etwa gütig, die Jungen müssen sich dort ihr Essen und ihre Unterkunft selbst verdienen und verrichten bald sämtliche Arbeiten auf dem Hof.
Doch das ist längst nicht alles: sie lernen lügen, stehlen, betteln, hungern und töten - alles, was man zum Überleben in Kriegszeiten braucht. Und vielleicht nicht nur in diesen Zeiten. Die Kinder haben einen unbändigen Lebenswillen, sie sind mutig und scheinen über einen unberührbaren Kern zu verfügen, der sie das alles aushalten lässt. Agota Kristof erzählt in kurzen Abschnitten klar und schnörkellos, vor allem ungeschönt, von diesen jungen Leben und ihrem Ringen um Zukunft.
Niroz Malek:
Der Spaziergänger von Aleppo
In 57 Miniaturen denkt Niroz Malek über das Leben in seiner Heimatstadt Aleppo nach. Er ist nicht geflohen,
mit dem Zurücklassen seiner Bücher, Schallplatten und anderer Kunst-gegenstände hätte er seine Seele zurückgelassen. So bleibt er und schreibt auf, was er sieht, hört, träumt. Damit zeichnet er sein persönliches Bild einer zerstörten Welt. Als eine Art Chronist der Überlebenden oder des Überlebens ermöglicht er mit seinem poetischen Werk einen ganz anderen Einblick in diese Welt, als ein Bericht in der Presse dies je könnte.
Iwan Bunin: Verfluchte Tage,
Ein Revolutionstagebuch
Bunin (1870-1953) beschreibt in
seinem literarischen Tagebuch die Zeit zwischen Januar 1918 und Juni 1920.
Er erlebt die blutige Revolution in Moskau und in Odessa mit, er ist angewidert von der ausufernden Gewalt und er ist entsetzt über die Kulturkatastrophe, die die Revolution bedeutet. Sie ist für ihn eine Vernichtung jeglicher geistigen Freiheit, da sie freies Schaffen und Schöpfen unmöglich macht. In anekdotischen Miniaturen beleuchtet Bunin die chaotischen Entwicklungen und vollzieht damit literarisch nach, was in der Realität vor sich geht. Körperlich, geistig und seelisch erschöpft, kann er Russland 1920 verlassen,
er lebt fortan in Frankreich. 1933 bekommt er als erster russischer Schriftsteller den Nobelpreis, was ihn nicht davor bewahrt, in Vergessenheit zu geraten. "Verfluchte Tage" legt Zeugnis davon ab, dass Literatur Zeitzeugnis sein, und zugleich die Zeiten überdauern kann. In seiner Genauigkeit und Fülle ist es ein einzigartiges Dokument, sein Stil,
seine Tiefe und seine sprachliche Vielfalt machen es zu großer Literatur.
Arthur Miller (Text) & Franziska Neubert (Illustrationen): Fokus
Das Leben Lawrence Newmans,
eines Mannes von knapp fünfzig Jahren, verändert sich schlagartig als dieser eine Brille bekommt. Plötzlich sieht er aus wie ein Jude, d.h. plötzlich gehört er nicht mehr dazu. Er verliert seine Arbeit, sein Ansehen, ist Anfeindungen ausgesetzt, schließlich gewalttätigen Übergriffen. Im Lauf der Zeit verschafft ihm die Brille jedoch einen genaueren Blick auf die Realität, als er ihn jemals hatte. Dieser setzt einen Entwicklungsprozess in Gang, der ihn erkennen lässt, dass es nicht wichtig sein sollte, zu "welcher Rasse ein Mensch gehörte." Der 1945 erschienene und im letzten Kriegsjahr in New York spielende Roman bricht mit einem Tabu: er thematisiert den Antisemitismus in Amerika und er ist heute noch immer oder wieder von erschreckender Aktualität. Daneben ist er ein glänzendes literarisches Werk, das mit einer dichten Struktur sehr tief in die Seele eines Individuums und die einer Gesellschaft hineinführt.
Nicol Ljubic: Ein Mensch brennt
In der Person des neuen Untermieters Hartmut Gründler bricht die Politik in das Leben der Familie Kelsterberg ein.
Der Roman spielt in Tübingen, Mitte der 1970er Jahre. Hanno Kelsterberg ist acht als Gründler einzieht, der Hannos Mutter mit seinem Kampf für eine bessere Welt fasziniert. Sie engagiert sich neben ihm für die Abschaffung der Atomenergie, entfremdet sich darüber der Familie, nicht nur Hanno fühlt sich in die zweite Reihe geschoben.
Nach Gründlers Selbstverbrennung in Hamburg im November 1977 zerbricht die Familie vollends, Marta widmet ihr Leben nun voll und ganz dem Andenken Gründlers und setzt seinen Kampf fort. Der Roman ist aus der naiven Perspektive des Kindes erzählt, der auf tragische Ereignisse blickt und versucht, sie zu verstehen. Dabei würde er viel lieber einfach Fußball spielen und sich seinem Sammelalbum widmen. In den Blick des Kindes mischt sich die Rückschau des Mittvierzigers Hanno, der eins ganz klar herausstellt: Gründler war ein Getriebener, der über dem Kampf für die Menschheit den einzelnen Menschen aus den Augen verlor. Die Frage, wohin Idealismus führen kann, zieht sich somit durch den ganzen Roman, den der Autor als einen "Familienroman" bezeichnet. Einer Familie, in die der Fundamentalismus eingebrochen ist.
Karl Friedrich Borée: Frühling 45 -
Chronik einer Berliner Familie
Borée porträtiert durch die Augen seines Protagonisten und Ich-Erzählers Stein
die Zeit von Februar-August 1945.
Die Familie Stein konnte Charlottenburg verlassen, weil sie in Föhren, am Stadtrand gelegen, ein Haus zugewiesen bekam.
Dort erleben Stein, seine Frau und seine Tochter das Kriegsende und die Übergangszeit mit all ihren Schrecken und Hoffnungen. Hunger und Gewalt, aber auch unverhoffte Menschlichkeit prägen die Zeit. Lügen und Gerüchte wechseln sich ab mit wunderbaren Neuigkeiten, wichtig ist, dass das "Tor der Hoffnung" wieder offen steht.
Borée liefert eine große Fülle an Informationen, er hat eine unmissverständliche Haltung, er ist ein grandioser Beobachter und porträtiert in seinem auf Tagebuch-aufzeichnungen beruhenden Roman verschiedene Menschen und ihr jeweiliger Umgang mit der Katastrophe sowie die Verwerfungen, die eine Zeitenwende mit sich bringt.
Uwe Rada: 1988
Im Mai 1988 lernen sich der Westberliner Jan und die polnische Doktorandin Wiola in Kreuzberg kennen. Es entwickelt sich eine komplizierte Beziehung, über der die Frage: ist es Freundschaft oder ist es Liebe? schwebt. So vielschichtig das Verhältnis der beiden, sind die Vorgänge in Mitteleuropa.
Jan, der mit Wiola nach Polen reist, begreift, dass Berlin und die dortige Revoluzzer-Szene eine Spielwiese ist, im Vergleich zum bitteren Ernst der politischen Lage in Polen. Aus dem Rückblick, mit einem Abstand von fast dreißig Jahren, erzählt Jan die Geschichte seiner Liebe zu Wiola, die so eng mit den Geschehnissen
der Zeit kurz vor der Zeitenwende verwoben ist, dass man die eine nicht ohne die andere erzählen kann. So entsteht eine episodisch-elliptische "Wiolastory", die dem Leser viel über Polen, Westberlin und die BRD, Revolutions- und andere Romantiker, sowie die Suche nach Boden unter den Füßen erzählt.
Gerdt Fehrle:
Wie Großvater den Krieg verlor
Ein "Knabe" ist der Adressat vieler kleiner Geschichten, die den Roman zusammensetzen. Der Knabe hat sie von den beiden Großvätern gehört,
die beide Otto heißen und durch das angehängte Geburtsjahr unterschieden werden. Otto Nullacht und Otto Elf nehmen das Kind mit auf Spaziergänge und berichten von der Zeit vor dem Krieg, diesem selbst, seinem Ende und der schwierigen Nachkriegszeit. Ergänzt werden die Geschichten durch
einen Erzähler, der aus den Puzzleteilen ein Bild formt.
Dieses zeigt auf fesselnde und authentische Art, wie erschütternd die Erlebnisse in der Vergangenheit waren,
wie tief sie in den Köpfen verankert sind und noch an die Enkelgeneration weitergegeben werden. Fehrle gelingt ein vielstimmiger Roman, der den Charme des mündlichen bewahrt hat und gleichzeitig die Gestaltungsmöglichkeiten der Literatur nutzt. So ist der Roman Familiengeschichte
und Ab-Bild einer Zeit, die zugleich weit zurückliegt und doch sehr nah da ist.
Shenaz Patel: Die Stille von Chagos
Zwischen 1967 und 1973 wurden ca. 2000 Menschen von den Inseln des Chagos-Archipels deportiert. Die USA haben die unter britischer Herrschaft stehenden Inseln im Indischen Ozean für 50 Jahre gepachtet, um auf Diego Garcia eine Militärbasis zu errichten. Von hier aus operieren die B-52-Bomber im Mittleren Osten.
Shenaz Patel hat das "alte" Leben auf der Insel, die Deportation und den Versuch eines Lebens im Exil an drei Menschen aufgezeichnet. Bis heute hat die chagossianische Bevölkerung nicht Fuß fassen können auf Mauritius, noch immer sind sie Fremde. Ohne Chancen. Sie leben mit und
für ihre Erinnerungen, doch den jungen Leuten ist selbst
dies verwehrt. Schlicht und eindringlich, ohne folkloristische Neugier zu bedienen, ohne einen anklagenden Ton, beschreibt die auf Mauritius lebende Schriftstellerin
das Schicksal eines Volkes, das stellvertretend für viele Menschen steht, die Opfer der großen Politik wurden.
Johannes V. Jensen: Himmerlandsvolk
In zwölf Erzählungen schildert der Literaturnobelpreisträger von 1944 das dörfliche Leben der vorindustriellen Zeit. Selbst in Himmerland, Dänemark, geboren, porträtiert Jensen Menschen, die vor allem eines teilen: ein sehr hartes Leben.
In diesem gedeihen eher Hass und Neid als Hilfsbereitschaft, Armut und Kargheit bringen als Kehrseite der Medaille Unmäßigkeit hervor, die Leben zerstören kann. Die klar und ohne Abschweifungen geschriebenen Geschichten wirken wie die Porträts Edvard Munchs oder Paula Modersohn-Beckers: man schaut den Menschen gerade ins Gesicht, ihr Leben ist ihrem Körper eingeschrieben.
Die Farben sind klar, die Dargestellten ungeschönt und wahrhaftig.
John Clare: Reise aus Essex
Clare gehört in England zu den großen Naturdichtern der Romantik.
In Deutschland ist er weitgehend unbekannt, nun liegt endlich ein Band mit autobiographischen Schriften vor, die es ermöglichen, den Dichter zu entdecken. Detailliert und mit dem Anspruch der Wahrhaftigkeit beschreibt Clare in diesen Fragmenten seine Entwicklung von Kindesbeinen an bis zum Mannesalter und sich einstellendem Erfolg als Dichter. Herzstück des Buches ist der Bericht über einen viertägigen Gewaltmarsch nach der Flucht aus einer psychiatrischen Anstalt, in die er mit achtundvierzig Jahren eingewiesen worden war. An Körper und Seele völlig zerschunden kommt er zu Hause an, sein Text beschreibt eindrücklich seine Verzweiflung. Er kommt nicht wieder auf die Beine und verbringt die letzten dreiundzwanzig Jahre seines Lebens in der Psychiatrie. Doch die Gedichte und Essays, die er zuvor schrieb, sind einzigartig und machen ihn zu einem großartigen Chronisten des englischen Landlebens.
Graham Greene & Annika Siems:
Der dritte Mann
Wien, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, die Stadt ist unter den Alliierten aufgeteilt. Dorthin kommt Rollo Martins auf Einladung seines Freundes Harry Limes. Doch Martins kommt gerade rechtzeitig zur Beerdigung Harrys, er wurde überfahren. Martins kommen Zweifel, er vermutet einen Mord. Er spürt dem Vorfall nach und muss erfahren, dass Harry der Kopf einer Schieberbande war, die mit Penicillin sehr viel Geld verdiente. Es entwickelt sich eine spannende Kriminalgeschichte, die im Kern die Frage nach Gut und Böse stellt. Der gleichnamige Film von Carol Reed ist ein Klassiker, die Lektüre des Buches ist trotzdem sehr lohnenswert, da hier die erzählerische Tiefe besser erfasst werden kann. Außerdem bereichert Annika Siems die vorliegende Ausgabe mit ihren Tuschezeichnungen in Sepia und Schwarz, deren Licht- und Schattenspiele den Geist der Zeit und der Stadt wunderbar in Szene setzen.
Mark Mulholland:
Eine wahnsinnige und wundervolle Welt
Irland in den 1980er und 90er Jahren, der Konflikt mit den Briten währt Jahrzehnte. Jeder (junge) Mensch muss sich die Frage stellen, wie er sich zur IRA verhalten soll. Johnny, der Held des Buches, geb. 1972, wird von seinem Geschichtslehrer zum Scharfschützen ausgebildet, seinen ersten Mord begeht er mit sechzehn Jahren. Kein Mensch ahnt, welches Doppelleben er führt, er selbst ist davon überzeugt, das Richtige zu tun. Bis er als Neunzehnjähriger Cora kennen lernt, das Mädchen, mit dem er sein Leben verbringen möchte. Er muss ihr versprechen, "nichts Böses zu tun" -
dies setzt einen Prozess in Gang, in dem starke Zweifel am Sinn des bewaffneten Kampfes in ihm aufkommen.
Zum einen Teil ist das Buch ein Entwicklungsroman,
der Leser begleitet Johnny auf seinem Weg ins Leben.
Zum anderen ist es ein politisches Buch, das ganz konkret aufzeichnet, wie ein vererbter Konflikt das Leben eines Menschen bestimmt. Wie ein junger Mann, der sich als Befreier sieht, zum Terroristen wird. Und wie schwer es ist, aus einem Krieg wieder herauszukommen.
Antanas Skema: Das weisse Leintuch
Skema schrieb diesen Roman zwischen 1952 und 1954, der Held Antanas Garsva
ist sein Alter Ego. Der während des Zweiten Weltkrieges aus Litauen über Deutschland in die USA emigrierte Dichter arbeitet als Liftboy und versucht in immer neuen Ansätzen das zu fassen, was in diesem
20. Jahrhundert geschehen ist. Mit Litauen und der europäischen Kultur, mit seinem eigenen Leben.
Es entsteht ein dichtes Geflecht aus Erinnerungen, Episoden, Überlegungen und Wahrnehmungen, das up and down des Aufzugs begleitet das Hin und Her der Gedanken Garsvas.
Der Leser hat die Aufgabe, viele Puzzleteile zusammen zu setzen - er wird dafür mit einem außergewöhnlichen Leseerlebnis belohnt.
Takis Würger: Der Club
Hans wird von seiner Tante aus einem Internat in Bayern an die Universität in Cambridge geholt. Er soll dort studieren,
vor allem aber ein Verbrechen aufklären, von dem sie ihm nicht sagt, worum es sich handelt. Hans lässt sich auf dieses Experiment um Lüge und Wahrheit ein.
Er findet Aufnahme in das Boxteam der Uni und in den legendären Pitt Club, der mit dem Verbrechen in Zusammenhang steht. Dieses Debüt ist Entwicklungs- und Gesellschaftsroman, der Held muss lernen, welch mächtige Triebfeder Rache ist. Er ist nicht der "Hans im Glück", aber er ist sehr reflektiert und hat gute Chancen, dass das Glück im Leben sich noch einstellen wird.
Gerdt Fehrle: Unter uns das stille Land
Ben kommt 1933 als Zwölfjähriger wie vom Himmel gefallen in die englische Kleinstadt Wells. Linda erhält von der Lehrerin den Auftrag, sich um ihn zu kümmern. Anfangs macht sie das nur widerwillig, später wird Ben zum Teil der Familie.
Der Kriegsausbruch 1939 verändert das Leben aller, Ben und Linda gehen beide zur Air Force. Er ist ein kaltblütiger und sehr erfolgreicher Pilot, der den ganzen Krieg über fliegt, Linda überlebt wie durch ein Wunder den Angriff auf Coventry. Nachdem sich ihre Wege getrennt hatten, treffen sie 1944 in Wells wieder zusammen. Ben wagt erst jetzt, Linda sein Geheimnis zu offenbaren, das er die ganzen Jahre über gehütet hat. Sie glaubt ihm nicht und verlangt einen Beweis, den er nicht erbringen kann.
Der Roman ist ausgeklügelt konstruiert, in den Erzählfluss gestreute Hinweise (Ben ist nicht der Einzige, der ein Geheimnis hat) bauen eine große Spannung auf. Es gibt nicht die eine Hauptperson aus deren Perspektive alles erzählt wird, die historische Zeit ist nicht nur Hintergrund, sondern dramatisches Element, das das Geschehen vorantreibt.
Die facettenreiche und gut erzählte Geschichte bleibt spannend bis zur letzten Seite.
.
Francesca Melandri: Eva schläft
Eva, uneheliche Tochter Gerdas, bekommt völlig unerwartet einen Anruf von Vito.
Das ist jener Mann, der als junger Carabiniere aus Kalabrien seinen Militärdienst in Südtirol ableistete und sich dabei in Gerda verliebte. Kurz vor der geplanten Hochzeit verschwand er aus Tirol, aus Gerdas und Evas Leben. Nun liegt er im Sterben und möchte Eva noch einmal sehen. Diese tritt die Reise mit dem Zug an - von Bozen nach Reggio Calabria, das sind fast 1400 Kilometer. Sie hat viel Zeit, um über die Vergangenheit nachzudenken. Dabei wechseln sich Passagen aus ihrem eigenen Leben ab mit einer umfassenden Darstellung der Geschichte des Landes, die eine harte und wechselhafte war. Die einzige Konstante: der Kampf um Unabhängigkeit. Dieser wurde mit Worten und Bomben ausgetragen, Angst und Gewalt trafen jeden, der dort lebte - bis hin zu Foltertoten im Bozener Gefängnis. Der Roman basiert auf historischen Fakten, in die so geschickt die Geschichte Gerdas und Evas eingewebt ist, dass der Leser zugleich einen Roman und ein Geschichtsbuch liest.
Pola Oloixarac: Kryptozän
Cassio, geboren Anfang der 1980er Jahre, ist ein Computer-Wunderkind. Zusammen mit dem Internet wächst er auf und lehrt schon als Vierzehn-jähriger das Pentagon das Fürchten. Er wird einer der ganz Großen in der Hacker-Szene - mit Menschen kann er überhaupt nicht umgehen. Nach einer Phase des Frustes und Stillstandes bekommt er das Angebot, bei einem Projekt mitzuarbeiten, das sich mit der Erfassung von Gendaten befasst. Im Klartext geht es um die Verbindung von digitaler und biologischer Welt. Cassio macht diesen letzten Schritt und nimmt damit an einem Experiment teil, das mit der Erforschung und Kartierung des Dschungels im 19. Jahrhundert begann und dessen Zauberwort "Transhumanismus" war.
Elena Ferrante: Meine geniale Freundin
Dieser Roman spielt in den 1950er Jahren
in Neapel. Die unzertrennlichen und sehr ungleichen Freundinnen Elena und Lila kämpfen um ihren Platz im Leben.
Die hochintelligente Lila hat das Pech, nach der Grundschule in der Schusterwerkstatt ihres Vaters mitarbeiten zu müssen, während Elena Mittelschule und Gymnasium besuchen darf. Trotz all ihrer Bildung fühlt sich Elena nicht gleichwertig: Lila ist ihr im Leben immer mindestens einen Schritt voraus. Doch auch Lila steht auf wackligen Füßen und gibt einen
Teil ihrer eigenen Sehnsüchte an Elena ab. Es entsteht eine spannungsreiche Beziehung mit wechselseitigem Bewundern, Fremdsein, Vertrauen und Unverständnis.
Dies alles eingebettet in ein reiches Geflecht aus Beziehungen zu Verwandten, Nachbarn, Mitschülern, Verehrern und Freunden - und in die Stadt Neapel, die eine weitere Protagonistin des Romans ist. Die Geschichte ist sehr plastisch, sehr lebendig, hochinteressant, wunderbar menschlich und erzählt Geschichte aus weiblicher Sicht.
Andrea Stefanoni: Die erinnerte Insel
Consuelo und Rogelio müssen Spanien verlassen, weil Rogelio auf Seiten der Republikaner gekämpft hat.
In Argentinien bauen sie sich ein neues Leben auf, was ihnen mit harter Arbeit gelingt. Sie besitzen bald ein Haus auf ihrer eigenen kleinen Insel, ihre beiden Kinder können in Sicherheit aufwachsen. Consuelo macht nur einmal einen gravierenden Fehler,
die Vertrautheit mit ihrer Tochter Elvira leidet sehr darunter. Doch Jahre später kommt Elvira mit ihren Kindern immer wieder zu Besuch. Diese genießen das abenteuerliche Leben auf der Insel, die Enkelin Sofia fühlt sich tief mit Consuelo verbunden. Sie wird später die Familiengeschichte erforschen und aufschreiben, dabei gelingt ihr neben dem Porträt der Familie auch ein fundierter Blick auf eine Epoche Europas und das Thema Auswanderung bzw Neuanfang.
Shumona Sinha: Kalkutta
Trisha kehrt anlässlich der Einäscherung ihres Vaters in ihre Heimatstadt Kalkutta zurück. Vor vielen Jahren verließ sie diese, um in Paris zu leben. Mit der Rückkehr in das Elternhaus und der Berührung vieler Gegenstände kommen die Erinnerungen zurück. Sie erzählt von den Eltern und der Großmutter, geht bis zur Urgroßmutter zurück, deren Leben wie ein Stück mystische Urgeschichte erscheint. Sie berichtet aber auch ausführlich von der politischen Entwicklung Indiens bzw Westbengalens seit den 1970er Jahren.
Sehr eindrucksvoll verflicht die Autorin die feinen Fäden menschlicher Beziehungen mit den kollektiven Geschehnissen eines Landes. Sie reflektiert die "Macht der Worte", denen der "Brunnen aus Schweigen" gegenübersteht. Mit ihrer Geschichte öffnet sie eine Tür in ein fremdes Land - und versucht dem Schweigen (der Mutter) zu entkommen.
James L. Mitchell: Szenen aus Schottland
Eine Auswahl von sieben Erzählungen und Essays aus dem 1934 erschienenen Werk "Scottish Scene" gibt einen profunden Einblick in die Erzählkunst des schottischen Schriftstellers, der in seiner Heimat sehr berühmt, hierzulande weitgehend unbekannt ist. Selbst aus einer Bauernfamilie stammend, kennt Mitchell das harte Leben
auf dem Land, dessen karge Erde nur widerwillig Früchte hervorbringt. Der Menschenschlag ist ähnlich hart und im ewigen Kreislauf von säen und ernten gefangen - und das unter noch immer feudalen Zuständen. Als Utopie taugen die Städte nur bedingt, sind die Slums von Glasgow oder die Armenviertel von Aberdeen Beweise dafür, dass es noch viel Ungerechtigkeit gibt. Der überzeugte Kosmopolit Mitchell beschreibt ganz eindrücklich und eindringlich das Leben der Menschen, und er weist ganz klar darauf hin, wie er sich eine Lösung der Probleme vorstellen kann. Seine Texte sind kritisch und voller Liebe zu den Menschen und der Landschaft, ohne Romantik, dafür mit viel Empathie und warmherziger Ironie.
Bastian Asdonk: Mitten im Land
Ein Ich-Erzähler gibt seinen Bürojob und sein ganzes bisheriges Leben auf.
Er lässt sich auf dem Land nieder, die Früchte seines Gartens sollen ihn ernähren. Das Vorhaben fängt gut an,
er ist glücklich mit der körperlichen und sinnvollen Arbeit. Doch dass die Dorfbewohner den Fremden nicht wollen, wird ihm schnell sehr drastisch klar gemacht. Die Lösung könnte die Aufnahme in eine Hofgemeinschaft sein, in der sich der Erzähler wohl und sicher fühlt. Doch die entpuppt sich als die andere Seite derselben Medaille und der Leser begreift fassungslos,
wie unmöglich es sein kann, nach eigenen Vorstellungen in Frieden zu leben. Sich der Modernisierung zu verweigern, dann in extrem dunkle Zeiten und Denkmuster zurückführen.
Paul McVeigh: Guter Junge
Mickey hat gerade die Elementary School hinter sich und träumt von einer besseren Zeit auf der St. Malachy´s - die neue Schule ist seine einzige Hoffnung, den Grausamkeiten seiner Klassenkameraden zu entkommen. Doch der Traum platzt, seine Eltern haben kein Geld für diese Schule. Neun Wochen Sommerferien verbleiben ihm, um sich mit diesem Gedanken anzufreunden, neun Wochen,
die er in seinem Stadtteil Ardoyne, Belfast, verbringt.
Der katholische Teil ist genau so arm wie die protestan-tischen Teile, in der Stadt regiert die Gewalt der Briten, der IRA und der Randalierer von beiden Seiten. Kein guter Ort für ein verträumtes, naiv-ehrliches und phantasievolles Kind, das nicht in die Kategorie "ein richtiger Junge" fällt.
Er möchte auch lieber ein guter Junge sein, um seine Mutter glücklich zu machen, die sehr unter dem saufenden Vater leidet. Mickey träumt unverdrossen von einem Leben in Amerika, er schmiedet Pläne, wie er gleichzeitig den Vater loswerden und dorthin gelangen könnte - und all das neben der ersten Liebe, dem Verlust seines geliebten Hundes und der alltäglichen Gewalt um ihn herum.
Ein sehr warmherziges Buch, das einen Kämpfer in den Mittelpunkt stellt: er kämpft für sein Leben, seine Zukunft, seine Träume.
Nona Fernandez:
Die Toten im trüben Wasser des Mapocho
Rucias und Indios Vater verschwand, als die beiden kleine Kinder waren. Die Mutter verließ am nächsten Tag Santiago de Chile und ging mit ihnen nach Europa. Viele Jahre später kommt die Mutter bei einem Autounfall ums Leben, Indio und Rucia überleben schwer verletzt. Wenig später erhält Rucia einen Anruf von Indio, der nach Chile zurückgekehrt ist, sie solle zu ihm kommen. Sie überquert den Atlantik, findet ihren Bruder aber nicht. Sie gerät ganz tief in ein Geflecht aus Erinnerungen, Träumen und Alpträumen, sie lernt Fausto, den Historiker der offiziellen Geschichte des Landes, kennen, begreift lange nicht, wer er ist. Sehr beeindruckend und hochinteressant schichtet Fernandez, eine der wichtigsten Autorinnen Südamerikas, ihren Roman, der viele Fragen stellt, wenige Antworten gibt. Die Protagonisten führen vor, wie schwierig es ist, festen Boden unter die Füße zu bekommen. Als radikal Entwurzelte bleibt ihnen nur die Liebe zueinander, doch auch die ist verboten.
J.M. Coetzee: Leben und Zeit des Michael K.
Michael K. gerät wie Kafkas Josef K. in die Mühlen von Mächten, die er nicht greifen kann. Im vom Bürgerkrieg verwüsteten Südafrika der 1980er Jahre irrt der unbedarfte Mann umher auf der Suche nach einem Ort, an dem er in Ruhe leben und einen Garten bebauen kann. Dies bleibt ihm verwehrt. Immer wieder muss er fliehen, wird interniert, flieht wieder und gerät noch weiter an den Rand der menschlichen Zivilisation. Sofern es diese zu dieser Zeit an diesem Ort überhaupt gibt. Michael bleibt ein Fremder, ein Mann, der die existentielle Einsamkeit des Menschen verkörpert. Sprachlich und in seiner Universalität ein sehr eindringlicher und kraftvoller Roman des Nobelpreisträgers. Zur Besprechung
Shumona Sinha: Erschlagt die Armen!
Eine Dolmetscherin der französischen Asylbehörde schlägt in der Metro einem unbekannten Mann eine Weinflasche auf den Kopf. Er hatte sie beleidigt und angegriffen, vor allem aber ist er einer aus jener Masse von Menschen, deren Geschichten sie sich Tag für Tag anhören muss und von denen sie weiß, dass sie erfunden sind. Aus dem einzigen Grund, die Entscheider der Behörde zu überzeugen. Der einem Gedicht von Baudelaire entlehnte Titel ist nicht etwa die Aufforderung, alle Armen totzuschlagen, sondern sich zu überlegen, in welche Mühle das geltende Recht alle stürzt, die mit ihm zu tun haben.
Sinha war selbst Dolmetscherin, sie verlor nach Erscheinen dieses Buches ihren Arbeitsplatz bei der Behörde.
Sie hat aber keine Anklageschrift verfasst, sondern einen sprachmächtigen, bilderreichen Roman, sehr durchdacht und hochpolitisch - und sehr menschlich in der Frage:
Wie weit kann ich gehen?
Michael Wildenhain:
Das Lächeln der Alligatoren
Anfang der siebziger Jahre macht der fünfzehnjährige Mattias Urlaub mit seiner Mutter auf Sylt. Dort lebt der behinderte Bruder in einem Heim.
Als Matthias Marta kennen lernt, eine Pflegerin des Bruders, verliebt er sich in sie. Jahre später trifft er sie in einem Seminar an der Uni wieder. Die alte Verliebtheit ist noch da, kurze Zeit werden sie so etwas wie ein Paar. Dass Marta einer revolutionären Zelle angehört, merkt Matthias spät, ob sie ihn vielleicht nur benutzt hat, fragt er sich ein Leben lang. Dieser komplexe, sehr interessant strukturierte Roman zeichnet über dreißig Jahre hinweg ein Leben auf, das zwischen größtmöglichen Polen schwankt. Der Junge aus
der Villa und die Terroristin, der Professor mit dem geistig behinderten Bruder, der Naziarzt: ihre Leben sind unauflösbar miteinander verwoben.
adriana altaras: titos brille
"Die Geschichte meiner strapaziösen Familie" - so der Untertitel - erzählt die Geschichte der Familie Altaras, die in den 1960ern aus Jugoslawien fliehen musste und in Gießen strandete. Nach dem Tod der Eltern hat die Tochter Adriana eine Mammutaufgabe zu bewältigen: sie muss die Wohnung, die seit 40 Jahren nicht mehr ausgemistet wurde, räumen. Aus Bergen von Papier stürzen Erinnerungen und Informationen auf sie ein, die aus einem schon ziemlich chaotischen Leben ein Karussell machen.
Das lässt sich nur mit ganz viel Witz und Chuzpe meistern. Außerdem hat sie einen westfälischen Ehemann, der ihre "jüdischen Neurosen" mit stoischer Ruhe erträgt...
Adriana Altaras bringt persönliche Erlebnisse und Gefühle, Einsichten und Zweifel wunderbar mit den Ereignissen der Zeitgeschichte unter einen großen Hut. Mal ganz nüchtern, dann wieder sehr bewegt und durchgehend mit sehr viel Humor und sehr guter Beobachtungsgabe.
Penelope Fitzgerald: Die Buchhandlung
Florence Green eröffnet Ende der 50er Jahre eine Buchhandlung in einer Kleinstadt an der englischen Südküste. Damit durchkreuzt sie die Pläne der moralischen Schirmherrin der Stadt,
die in Old House ein Kulturzentrum einrichten wollte. Mrs. Green schlägt sich wacker, doch gegen den Einfluss von Mrs. Gamart kann sie sich schließlich nicht durchsetzen. Die Stärke des Romans, der die englische Klassengesellschaft vor Augen führt, liegt in seinem wunderbar ironischen Stil. Er ist so britisch wie ein Weihnachtspudding und noch köstlicher.
Jonas Lüscher: Frühling der Barbaren
Preising, ein Schweizer Unternehmer, urlaubt in einem tunesischen Luxus-Resort, als das englische Finanzwesen zusammenbricht. Da in diesem Hotel auch eine Gruppe von siebzig Engländern weilt, die eingeflogen wurde, um standesgemäß die Hochzeit eines Paares zu feiern, das
"in der City tätig ist", erlebt Preising dort den Kollaps der westlichen Zivilisation.
Ist ein Mensch ohne Kreditkarte immer noch ein Mensch?
So platt fragt Lüscher nicht, er spielt die Geschichte mit scharfsinniger Ironie, die sich mitunter ins Groteske steigert durch. Er hütet sich vor Schwarz-Weiß-Denken, und arbeitet sehr viele Farbtupfer in seine konzentrierte Geschichte ein. Damit vereinigt er gekonnt Tiefgang mit Unterhaltungswert.
Nadine Gordimer:
Ein Mann von der Straße
Abdu, ein illegal in Johannesburg lebender Araber und Julie, eine Tochter aus bestem Haus, verlieben sich ineinander und werden ein Paar. Als er ausgewiesen wird, tut sie das Undenkbare: sie begleitet Abdu in sein Heimatland. Dort ist er wieder Ibrahim, eingebunden in eine Großfamilie und er will nur eines: so schnell wie möglich wieder weg.
Sein großer Traum ist Amerika. Julie hingegen lebt sich unerwartet gut ein, sie scheint in dem muslimischen, rückständigen Land einen Platz gefunden zu haben.
Der Roman ist eine sehr subtil erzählte Liebesgeschichte, eingebettet in kulturelle und politische Zusammenhänge,
die ihm eine sehr große Dimension geben und die Fragen nach Herkunft, Prägung, Wahlfreiheit und Möglichkeiten gegenseitigen Verständnisses stellen.
Joao Ricardo Pedro:
Wohin der Wind uns weht
Der Enkel Duarte blickt zurück auf seine Eltern und Großeltern. In deren Leben spiegelt sich die Geschichte Portugals im
20. Jahrhundert. Einen weiten Blick über das kleine Land hinaus bieten die Briefe Policarpos: ein Freund des Großvaters, der die Welt bereiste, schickt jedes Jahr einen langen Brief, vierzig davon haben sich angesammelt. Sie sind Kern vieler Gedanken, Geschichten und Rätsel, die Duarte zu lösen versucht. Auf viele Fragen findet er keine Antwort, und der Leser muss sehr aufmerksam sein, um die Puzzleteile zusammensetzen zu können. Eines aber wird schnell klar: Duarte sucht nach Herkunft und Heimat.
Johannes Anyuru:
Ein Sturm wehte vom Paradiese her
Der junge Autor Anyuru erzählt in diesem Roman das Leben seines Vaters. Dieser kam 1967 von Uganda nach Griechenland, um dort zum Kampfpiloten ausgebildet zu werden.
Als Idi Amin 1971 die Macht in Uganda an sich reißt, verändert dies das Leben Ps
(so wird der Vater genannt) vollständig. Er kann nicht mehr nach Uganda zurück, aber er will fliegen. In Europa geht das nicht, er nimmt eine Stelle in Sambia an, dort soll er Sprühflugzeuge fliegen. Das glaubt ihm niemand: er wird in Tansania als Spion verhaftet, sitzt im Gefängnis, in Lagern. Er kann fliehen, aber ein neues Leben beginnen kann er nicht. Dafür ist zu viel passiert. Eindrucksvoll und sehr reif zeichnet Anyuru die Lebensgeschichte des Vaters nach, der in die Mühlen der Weltgeschichte geriet.
Jenny Erpenbeck:
Gehen, Ging, Gegangen
Der emeritierte Professor Richard nimmt Kontakt auf zu den Flüchtlingen, die von 2012-14 auf dem Berliner Oranienplatz leben und dort gegen das deutsche Asylrecht protestieren. Er lernt die Männer und die Justiz kennen, verfolgt ihre von Beginn an zum Scheitern verurteilten Versuche, in der deutschen Gesellschaft Fuß zu fassen. Erpenbeck hält sich an die Chronologie der Ereignisse und gestaltet aus diesen einen Roman, der in seiner literarischen Wirklichkeit die Realität schmerzlich reflektiert. Ihr Verdienst ist, dass sie aus den anonymen Flüchtlingen Menschen schält, die trotz traumatischer Erlebnisse willens sind, ihre Zukunft selbst zu gestalten. Wenn man sie denn ließe.
Ralf Rothmann: Milch und Kohle
Aus der Perspektive des fünfzehnjährigen Simon wird ein Familienleben der Endsechziger beschrieben. Die jungen Eltern verließen den Bauernhof in Schleswig, um in die Stadt zu ziehen, die so viel mehr bietet als Mist und Gülle.
Im Ruhrpott versuchen sie das deutsche Wirtschaftswunder zu leben: eine hübsche Wohnung, Tanzvergnügen im Café Maus, Vergessen des Kriegstraumas. Unter der Oberfläche jedoch gärt es mächtig, der Teppich ist nicht groß genug, um all das darunter zu fegen, was unsichtbar bleiben soll. Rothmann evoziert die Stimmung und das Lebensgefühl der Endsechziger vortrefflich, die Charaktere sind in ihrer Vielschichtigkeit klar gezeichnet und es wird deutlich, wie hoch der Preis für ein "besseres" Leben war.
Ralf Rothmann: Im Frühling sterben
Als Siebzehnjährige werden Walter und Fiete, zwei Melkerlehrlinge aus Norddeutschland, im Februar 1945 zwangsrekrutiert, zur Waffen-SS.
Wochen später treffen sie sich in Ungarn wieder, Fiete liegt im Lazarett. Kurz darauf versucht er zu desertieren, wird gefasst und soll erschossen werden. Walter verwendet sich beim Kommandanten für seinen Freund, erfolglos. Er wird einer derjenigen sein, die den Karabiner auf Fiete anlegen.
In diesem Roman, der vollständig ohne Kriegsromantik auskommt, vereinigen sich eine realistische Beschreibung der Geschehnisse und Zustände mit einer in poetischer Sprache sich manifestierenden Sympathie des Autors für seine tragischen Helden.
Dieser Roman könnte ein Klassiker der Antikriegsliteratur werden - Klang, Form und Inhalt bilden eine Einheit,
das Gespräch Walters mit Kommandant Domberg veranschaulicht sehr konzentriert Kälte, Perversion und Zynismus der Mächtigen.
Peter Richter: 89/90
Richter ist fünfzehn, als die DDR im Jahr 1989 beginnt, sich endgültig aufzulösen.
Er gehört zum letzten Jahrgang, der noch das normale Programm (FDJ, Wehrerziehung etc) durchläuft. Er erlebt in Dresden den Niedergang des gewohnten Lebens, das Machtvakuum, in das die Rechten
drängen, er erlebt den Krieg rivalisierender Vorstellungen, den Mauerfall und die Wiedervereinigung. Er mischt kräftig mit, beobachtet genau und schreibt nach 25 Jahren seine Erinnerungen an
diese Zeit nieder. Damit verändert er den Blick auf die sogenannte "Friedliche Revolution": sie war nicht überall so friedlich, wie das heute dargestellt wird.
Kamila Shamsie:
Die Straße der Geschichtenerzähler
Die junge Archäologin Vivian Spencer genießt bei Ausgrabungen in der Türkei und später bei Peschawar Freiheiten, die sie in England nicht hat - sich diese Freiheiten dort aber nur als Engländerin
nehmen kann. Der Erste Weltkrieg verändert die Situation, sie muss die Türkei 1914 verlassen. Später reist sie zu Ausgrabungen nach Peschawar, sie will einen legendären Silberreif aus dem Jahr
500 v.C. finden. Dort gibt sie ihre Leidenschaft für die alten Zeiten an den jungen Najeeb weiter und kommt den blutigen Kämpfen der indischen Befreiungsbewegung sehr nah. In ihrem Roman
verknüpft Shamsie persönliche und politische Entwicklungen, sie fängt den Zauber des Orients ein, führt die Geschichte auf einen ruhigen Punkt in diesem Strudel an Ereignissen zu - der Leser kann
tief in eine fremde und ferne Welt eintauchen und den Kampf um Freiheit auf allen Ebenen miterleben. Er reicht vom Recht auf Lesen-lernen bis zu dem Recht auf die eigene Geschichte und Regierung
des Landes.
T.C. Boyle: Hart auf Hart
Adam, der jegliche Autorität ablehnt und davon träumt, als Waldläufer zu leben wie sein großes Vorbild John Colter, sieht sich selbst als Freiheitskämpfer. Er baut sich einen Bunker im Wald, um gewappnet zu sein, wenn es hart auf hart kommt. Seine Sehnsucht nach Freiheit paart sich mit Verfolgungswahn und wird zerstörerisch, sein Festhalten an einem alten amerikanischen Mythos offenbart, wie uralt, veraltet und mörderisch manche Vorstellungen Amerikas heute noch sind.
Martin Suter: Montecristo
Der Videojournalist Brand sitzt zufällig in einem ICE, aus dem ein Mann stürzt. Er hält kurze Zeit später zwei Hunderter mit identischer Seriennummer in der Hand. Er wird auf der Straße zusammen-geschlagen und völlig unerwartet wird sein Filmprojekt "Montecristo" nun doch finanziert. Sollte es einen Zusammenhang zwischen diesen Zufällen geben - worin bestünde dieser? Brand gerät in Lebensgefahr, als er sich bei seinen Recherchen in die Welt des ganz großen Geldes begibt und Mosaiksteinchen zusammensetzt, die Unglaubliches ans Licht bringen (könnten).
Ein hochaktuelles Gedankenspiel um die Macht und Machenschaften der Banken ( mit Wissen oder Hilfe der Politik), das durch Swiss-Leaks noch wahrscheinlicher wird.
Michael Köhlmeier:
Zwei Herren am Strand
Chaplin und Churchill, zwei Herren,
die verschiedener nicht sein könnten,
eint eine tiefe Freundschaft.
Ein gemeinsamer Feind verbindet sie:
der schwarze Hund, so nennen sie die Depression, die beide regelmäßig heimsucht. Und: beide kämpfen gegen Hitler, der eine mit Kunst, der andere mit Waffen.
Eine fiktive Doppelbiographie von tiefer poetischer Wahrheit, die vom tiefsten Schmerz bis zur höchsten Komik die ganze Welt offenbart.
Andrea Camilleri: Die Revolution des Mondes
Einen Monat lang wird Sizilien im Jahr 1677 von einer Frau regiert. Sie leistet in dieser kurzen Zeit scheinbar Unmögliches: Bekämpfung der Korruption, drastische Steuersenkungen, Umverteilung des Vermögens. Der Roman, der auf historischen Tatsachen beruht, erscheint wie eine in der Vergangenheit angesiedelte Utopie: für kurze Zeit gewinnt das Gute die Oberhand. Der Roman ist spannend wie ein Krimi, anschaulich wie ein Bühnenstück und dabei auch noch lehrreich, hintersinnig und unterhaltsam.
Ein echter Camilleri.
Karl August Tavaststjerna: Harte Zeiten
Finnland im Hungerwinter 1867/68: Hungernde ziehen durchs Land auf der Suche nach Arbeit und Nahrung. Viele finden eine Stelle beim Eisenbahnbau, jedoch unter katastrophalen Bedingungen. Alte und neue Zeit prallen aufeinander, mancher möchte sich durch Betrug ein besseres Leben sichern. Der Dichter erschafft mit diesem Roman, der zu den bedeutendsten des 19. Jahrhunderts gehört, lebendige Menschen, deren Schicksale die Lebensbedingungen der Zeit realistisch darstellen.
Owen Matthews: Winterkinder
"Drei Generationen Liebe und Krieg" lautet der Untertitel: die Geschichte der Familie Matthews´ beginnt 1930 in Moskau und reicht bis heute. Owens Mutter erlebte nach der Verhaftung ihres Vaters eine schwierige Kindheit in Waisenhäusern. Der kalte Krieg trennte sie 1964 von ihrem Geliebten, dem es erst nach Jahren gelang, sie von Moskau zu sich nach England zu holen. In dieser britisch-russischen Familie spiegeln sich Jahrzehnte europäischer Geschichte, berührend erzählt vom Sohn bzw Enkel.
Robert Seethaler: Der Trafikant
Franz, Lehrling eines Rauchwaren- und Zeitungsladens in Wien, macht die Bekanntschaft des weltberühmten
Dr. Sigmund Freud. Und er lernt die Macht eines Diktators kennen, der ganze Nationen um den Verstand bringt.
Taiye Selasi:
Diese Dinge geschehen nicht einfach so
Kwaku, Fola und ihre 4 Kinder leben über mehrere Kontinente verstreut, die Familie ist zerfallen. Zur Beerdigung Kwakus treffen sie sich nach langer Zeit wieder. Sie stellen sich ihren Erinnerungen und entdecken, was "Familie" bedeutet. Eine ganz neue Art von Familienroman, eine Autorin, die viel bei Toni Morrison gelernt hat, ein grandioses Debüt.
Volker Weidermann: Ostende 1936
In diesem "Sommer der Freundschaft" trifft sich eine Gruppe von Exilanten um die beiden Schriftsteller Joseph Roth und Stefan Zweig, die eine enge Freundschaft verbindet. Von dem belgischen Seebad aus verfolgen sie die Entwicklungen in Deutschland und versuchen weiterhin zu schreiben, zu leben und nicht in Verzweiflung zu versinken. Eine Zeit lang können sie dem Heimat- und Sprachverlust die Stirn bieten, doch das verlangt (fast) übermenschliche Kräfte.