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Mai 2020
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Gabriella Zalapi: Antonia.
Tagebuch 1965-1966
Antonia ist Ende zwanzig, gefangen in einer unglücklichen Ehe, unsicher, ob sie ihrem achtjährigen Sohn eine gute Mutter ist. Sie fühlt sich völlig fremd in der Welt, der sie angehört, der bürgerlich-konservativen Schicht Palermos. Als sie nach dem Tod ihrer Großmutter einen Karton mit Notizen, Briefen und Fotos findet, fängt sie an, ihre komplizierte Familiengeschichte zu erkunden und sich selbst darin zu verorten. Diese Arbeit ruft Erinnerungen hervor, die sie in ihrem Tagebuch notiert. Die Erzählform spiegelt das Suchen, Straucheln, Zweifeln - die Beschäftigung mit der Vergangenheit verändert die Gegenwart. Und schließlich muss Antonia eine Entscheidung treffen und auch handeln, wenn sie ein eigenständiges Leben führen möchte.
Paolo Rumiz: Der unendliche Faden
Paolo Rumiz unternimmt eine Rundreise zu fünfzehn Abteien der Benediktiner in verschiedenen Ländern Europas. Er sucht die Quellen, Wurzeln und Fundamente, auf denen das politische und kulturelle Europa ruht und sich speist. Die Reise wird "immer mehr zu einer Wiederentdeckung der Werte, die von der Moderne zunichte- oder lächerlich gemacht werden." Aus Beschreibungen, Dialogen und Reflexionen entsteht ein Text, der eine Vielfalt an Begegnungen beschreibt, vor allem aber ein flammendes Plädoyer für Europa ist - ein gastfreundliches und mensch-liches Land, orientiert an den Grundsätzen derer, die es ideell begründeten: den Benediktinern.
Sara Mesa: Quasi
Im Park, in einem Gebüsch, beginnt die ungewöhnliche und per se verdächtige Freundschaft zwischen der Schul-schwänzerin Quasi - sie ist "quasi vierzehn", also dreizehn, und "dem Alten", einem vierzig Jahre älteren Mann, der nicht arbeitet, sich nur für Vögel und die Musik von Nina Simone interessiert und sich etwas merkwürdig benimmt. Über Monate treffen sie sich fast täglich, Quasi führt ein Tagebuch über diese Begegnungen. Schließlich explodiert die ganze Situation, denn Erwartungen, Vor-urteile, Halbwissen, die Unfähigkeit zuzuhören gepaart mit blühender Phantasie sind eine geballte Ladung an Sprengstoff. Die junge Autorin spannt ein Netz um ihre Figuren, in das sie auch die LeserInnen mit einwebt und gefangen nimmt - ihre doppelbödige Geschichte wirft so viele Fragen auf, sie endet nicht mit der letzten Seite.
Helen Wolff: Hintergrund für Liebe
Ein Roman, der sich liest wie eine frische, leichte Sommerliebesgeschichte, erzählt von den Anfängen des legendären Verlegerehepaares Helen und Kurt Wolff. Der vierzigjährige Gesellschaftslöwe und die junge Frau reisen nach Südfrankreich - es ist auch eine Flucht aus den politischen Verhältnissen in Deutschland zu Beginn der 1930er Jahre. Der erfahrene Mann meint, seiner Geliebten das Leben zeigen zu müssen, doch bald trennt sie sich von ihm - als er zurückkommt wird schnell klar, dass sie in vieler Hinsicht die klügere, reifere ist. Sie schenkt ihm den "Hintergrund für Liebe". Ein fast hundert Seiten umfassender Essay Marion Detjens, der Großnichte Helens, beleuchtet die privaten, gesellschaftlichen und politischen Hintergründe des Romans - mit all diesen wertvollen Informationen lassen sich die tieferen Schichten des Romans erfassen, der eben nur vordergründig eine Sommerliebesgeschichte ist.
Lu Bonauer: Die Liebenden bei den Dünen
Silas und Romy, seit Jahrzehnten ein Ehepaar, haben beschlossen, gemeinsam ihr Leben zu beenden. Es ist keine Idee des Alters oder der Krankheit, schon immer waren sie davon überzeugt, wie Romeo und Julia keinen Tag ohne den anderen leben zu wollen. Nun, als bei Romy Alzheimer diagnostiziert wurde, ist es soweit. Sie trinken jeder ein Glas mit einem tödlichen Mittel - wenige Stunden später wacht Silas neben seiner toten Frau auf.
Was ist passiert? Lu Bonauer erzählt eine Liebesgeschichte, er stellt mit Silas die Frage nach Verrat und Freiheit, er beleuchtet konzentriert auf zwei Menschen und ohne Überfrachtung der feinen Novelle mit gesellschaftlichen Diskussionen, die Würde des Lebens und Sterbens.
Er schreibt beeindruckend klar, mit viel Empathie für seine Figuren und ohne moralischen Zeigefinger. Sehr lesenswert.