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Juli 2022
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Olga Tokarczuk: Anna In - Eine Reise zu den Katakomben der Welt
"Anna In" ist die Neuinterpretation der sumerischen Göttin Inanna, Auf diese Göttin der Liebe und des Krieges, die in die Unterwelt stieg und sie lebend wieder verlassen konnte, gehen alle Mythen, die sich um Tod und Wieder-auferstehung ranken, zurück. Olga Tokarczuk zeichnet sie als rebellische junge Frau, die die Ordnung der Götterväter auf den Kopf stellt. Die Macht dieser Götter hat Grenzen, indem Anna In ihre Angst vor dem Tod ablegt, zeigt sie ihnen genau das.
Claudia Schumacher: Liebe ist gewaltig
Ein Roman über Gewalt in der Familie, über Macht und deren Strukturen und über den Versuch, die Wahrheit über das eigene Leben herauszufinden - Claudia Schumanns Debütroman ist eine Wucht. Sie lässt ihre Heldin Juli auf ihre Kindheit im Stuttgarter Speckgürtel zurückblicken, auf die Demütigungen, ihre Versuche, sich zu wehren, auf die Verbundenheit mit den Geschwistern und einer kleinen Maus. Und auf ihren schwierigen Weg, die Deutungshoheit über ihr Leben zu erlangen. Der Stil ist ungestelzt, klar und direkt, manchmal sogar komisch, unverblümt und authentisch - hier spricht eine junge Frau, die ihr Leben selbst erzählt!
Sehr intensiv, sehr empfehlenswert.
Andrea Abreu: So forsch, so furchtlos
Sis und Isora sind ein "Zweierpack", unzertrennliche Freundinnen. Sie leben im Bergland Teneriffas, träumen vom Meer und einem Leben, wie es die Touristen führen. Zehn sind die Mädchen, spielen mit Barbies, doch die Lust schlägt in beider Leben, diese verändert auch ihre Freundschaft. Andrea Abreus Roman hat nichts von Lolita-Romantik, er ist körperbasiert, die junge Autorin nennt die Dinge beim Namen. Sie setzt die Welt der Mädchen durch die Augen der Ich-Erzählerin Sis zusammen, diese Unmittelbarkeit verleiht dem Roman große Wucht.
Raoul Eisele: einmal hatten wir schwarze Löcher gezählt
Die Gedichte Raoul Eiseles fragen nach dem Ur-Grund des Menschen.
Der Dichter spürt diesem nach in Natur-phänomenen, Gefühlen, Erinnerungen. Er spricht, singt, von der Liebe, vom Verlust, der Zuversicht und der Trauer.
Er ist worterfinderisch, arbeitet mit Auslassungen und Wiederholungen,
lässt seine Verse überschwappen, erzeugt Nachhall - und beschenkt die LeserInnen mit Gedankenfunken.
Eine wunderbare Lektüre.
Walerjan Pidmohylnyj: Die Stadt
Die Stadt Kyjiw, in die Stepan Radtschenko in den 1920er Jahren kommt, ist für den Jungen vom Dorf ein Versprechen der Zukunft.
Er will studieren und aktiv die neue sozialistische Welt mitgestalten - doch er verlässt den vorgezeichneten Weg, um Schriftsteller zu werden. In seinem Leben spiegelt sich die Situation und das Denken der Metropole, Stepan verkörpert eine Epoche. Grandios erzählt, ist Pidmohylnyjs Roman ist ein Klassiker der ukrainischen Literatur, nun wurde er fast 100 Jahre nach seinem Erscheinen erstmals ins Deutsche übersetzt. Eine große Entdeckung!
Mooses Mentula:
Der Schildkrötenpanzer
Ein sprudelnder, abwechslungsreicher Roman, der mit der vielleicht gar nicht vorhandenen Grenze zwischen Realität und Fiktion spielt und eine klare Botschaft hat: schreibe und lebe deine eigene Geschichte! Dies versucht der sympathische Held Tino, der mit der Unterstützung einiger verstorbener Dichter sein Leben selbst in die Hand nimmt und sich immer weiter unter seinem Schildkrötenpanzer hervorwagt. Der Roman ist spannend, temporeich, nachdenklich, er verfügt über verschiedene Tonlagen, über Ironie und Galgenhumor - man stelle sich vor, so unterschiedliche Geister wie Bukowski, Kerouac, Poe und Jane Austen setzen sich zusammen und entwickeln gemeinsam einen Plot...