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Zwischen den Jahren
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Etel Adnan: Wir wurden kosmisch
Vor mehr als fünfzig Jahren entstand das Gedicht "Ein Trauermarsch für den ersten Kosmonauten", geschrieben nach dem tödlichen Flugzeugabsturz Juri Gagarins, sieben Jahre nach seinem Flug um die Erde. Er war der erste Mensch im All gewesen und hat damit das Unmögliche möglich gemacht, sein Flug wurde zu einer Zeitenwende, denn er veränderte die Vorstellungen der Menschen von allem. Dem Gedicht stellen die Herausgeber Zeichnungen Etel Adnans nach einem Interview im Mai 2019 zur Seite, die sie nach jenem Gespräch, das ebenfalls in diesem Buch abgedruckt ist, angefertigt hat. Außerdem zieren Fotos von Raketenstarts das Buch - ein Verweis auf die harte Realität der Raumfahrt, ihrer politischen Komponente und ihrer konkreten Auswirkungen. Das Buch ist ein Gesamtkunstwerk, das die verschiedenen Ebenen von Zeit, Raum, Sprache, rationalem und spirituell-mystischem Denken zusammenbringt. Das Buch "öffnet ein Fenster", eine Erfahrung, die, so Etel Adnan, die Kunst ermöglichen kann.
Nicola Pugliese: Malacqua
In den strömenden Regen, der nicht nur in die Knochen, sondern in die Seelen dringt, lässt Nicola Pugliese (1944-2012) die Gedanken seiner Figuren fließen. Sie alle befinden sich in einer Art Wartezustand, denn etwas, irgendetwas muss sich doch ändern durch oder nach dem Regen. Viele Themen wandern durch die Köpfe und die Geschichte, persönliche Hoffnungen und Ängste, das völlige Versagen der Politik, der allgegenwärtige Aberglaube - Puglieses Roman baut sich langsam auf, er führt vor Augen, dass die menschliche Existenz uferlos und vielfarbig ist wie das Wasser, auch wenn das Leben nach außen hin eintönig und gleichförmig wirkt.
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Dezember 2019
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Joseph Roth / Klaus Waschk (Illustrationen): Beichte eines Mörders, erzählt in einer Nacht
Eine nächtliche Bar im Paris der 1930er Jahre, besucht von russischen Emigranten. Rückblickend auf das vorrevolutionäre Russland erzählt einer von ihnen, Golubtschik, seine Lebensgeschichte, die ihn nach Paris geführt hat. Nicht als Flüchtling, sondern als Angehöriger der Geheimpolizei, der die Flüchtlinge aushorcht. Er legt sich eine falsche Identität zu, nimmt den Namen an, der ihm sowieso zusteht: Fürst Krapotkin. Er ist dessen Sohn, wurde aber nie anerkannt, eine ewige Quelle des Hasses und des Wunsches nach Rache. Golubtschik lebt das Leben eines bösen Schurken, verrät und wird verraten, verstrickt sich in Lügen - Wer oder was bin ich? - muss er sich fragen.
Diese Ausgabe des Klassikers wird bereichert von fünfzig Illustrationen des Künstlers Klaus Waschk, die dem Roman eine weitere Dimension verleihen. Sie reflektieren die Gefühle der Figuren, zeigen die Brutalität der Macht und befördern die Phantasie der LeserInnen - eine wunderbare Ausgabe eines außergewöhnlichen Klassikers.
Selma Lagerlöf / Roberta Bergmann (Illustrationen): Herrn Arnes Schatz
Die junge Elsalill ist die einzige Über-lebende eines grausamen Verbrechens, bei dem neun Menschen ermordet wurden. Ausgehend von einer wahren Begebenheit aus dem 16. Jahrhundert entwickelt die Nobelpreisträgerin Selma Lagerlöf eine Schauergeschichte mit eindeutiger moralischer Botschaft: begangenes Unrecht muss gesühnt werden. Das weiß auch Elsalill, die gezwungen ist, schwierigste Entscheidungen zu treffen. Sie meint dafür verantwortlich zu sein, dass ihre tote Schwester Ruhe finden kann...
George Eliot: Silas Marner,
Der Weber von Raveloe
Eine falsche Anklage lässt Silas Marner an Mensch und Gott (ver)zweifeln.
Er verlässt seine Heimat, richtet sich
im Exil ein, arrangiert sich damit, der Fremde zu sein. Er arbeitet und spart: das Geld ist sein Lebenssinn.
Als ihm dies genommen wird, steht er vor der endgültigen Leere. Doch wie durch ein Wunder findet ein Waisenkind seinen Weg in die bescheidene Hütte. Das Kind gibt Silas sein Leben zurück, Silas ist ihm ein wunderbarer Vater. Bis sich der leibliche Vater auf seine Pflicht besinnt... George Eliots Roman ist von tiefstem Verständnis für die Menschen geprägt, er ist eine realistische Darstellung der sozialen Gegebenheiten - die sehr unkonventionell lebende Schriftstellerin, eine Frau, die ein männliches Pseudonym gewählt hat, entwickelt einen ganz eigenständigen Stil, einen sehr persönlichen Blick und erschreibt sich den Rang einer moralischen Instanz des viktorianischen Zeitalters.
Doris Lessing: Worum es wirklich geht
Die fünf Erzählungen aus den Jahren
1978-97 geben einen guten Einblick in das Werk der Nobelpreisträgerin von 2007. Sie beleuchten die Machtverhält-nisse, die menschliche Gemeinschaften prägen. Liebe und Sexualität, gesellschaftliche Konventionen,
die Versuche mittels des Verstandes Emotionen zu kontrollieren - Doris Lessing zeichnet mit klarer Sprache Figuren, die nach einem eigenständigen Leben suchen.
Ihr Blick ist weder auf die weibliche Perspektive, noch auf
das Geschlechterverhältnis verengt, sie beleuchtet alle menschlichen Beziehungen.
Kathy Page: All unsere Jahre
Siebzig Jahre sind Harry und Evelyne verheiratet, Kathy Page erzählt diese lange Zeit konzentriert auf wichtige Ereignisse, in denen sich Wesentliches herauskristallisiert. Eingebettet in den Alltag, der aus drei Töchtern, anstrengenden Eltern, der Arbeit und dem Bau eines großen Hauses, aber auch der späteren Freiheit zum Reisen besteht, widmet sich die Autorin dem Besonderen - um damit erhellende Schlaglichter zu werfen. Sie kreiert einen interessanten und spannenden Roman, unterlegt mit diversen Romanen und Gedichten der Weltliteratur, die immer das momentane Geschehen spiegeln. Da neben all dem Erzählten auch Unausgesprochenes und Schwebendes verbleibt, die die Phantasie des Lesers fordern, ist der Roman von einer großen Liebe sehr kurzweilig und anregend.