Christine Wunnicke - Der Fuchs und Dr. Shimamura
"Herr Kollege", sagte Charcot, und sein Strahlen erhellte den Raum, "das war die ordentlichste, schönste, detailreichste Grande Hystérie, die ich bei einem Mann je sah. Sie ahnen nicht, wie wichtig das ist. Für die Nervenheilkunde. Für mich. Für jeden, ob Laie, ob Arzt. Für alle Frauen dieser bigotten Welt! Seit Jahren kämpfe ich gegen das Vorurteil, dass dem starken Geschlecht diese Krankheit erspart bleibt. Ich danke Ihnen. Als Kollege. Als Mitstreiter. Gemeinsam werden wir der Welt beweisen..."
"Oui, oui! Vorurteil", rief die Patientin. Da fiel der Japaner wieder in Ohnmacht."
Um diesen Japaner, der hier in Ohnmacht fällt, nachdem er gerade einen hysterischen Anfall überstanden hat, geht es. Dr. Shimamura reist als junger Mann in den 1890er Jahren mit einem Stipendium nach Europa, um dort seine Kenntnisse als Nervenarzt zu vertiefen.
Seine erste Station ist Paris, wo er den berühmten Arzt Charcot aus nächster Nähe kennen lernt. Dr. Shimamura erlebt die öffentlichen Vorführungen von hysterischen Patientinnen, Charcot hat den Verlauf dieser Anfälle systematisch erfasst. In vier Phasen hat er sie unterteilt:
den Kreisbogen (Patientin bäumt sich auf und drückt die Hüfte nach oben), Clownisme (Patientin führt Possen auf), dann die Große Bewegung und schließlich die Leidenschftlichen Gebärden. Charcots Leidenschaft:
er fotografiert seine Patientinnen bei diesem Schauspiel.
Doch zurück zu Dr. Shimamura: er hat Deutsch gelernt, weil im jemand den Floh ins Ohr setzte, dass alle Werke der Nervenheilkunde in dieser Sprache verfasst wären.
Des Französischen unkundig, verwirren ihn seine Studien nun mehr, als dass sie ihn wissenschaftlich weiter bringen.
Seine zweite Station in Europa ist Berlin. Dort herrscht weniger Drama und mehr Wissenschaft. In Erinnerung geblieben sind ihm vor allem die Berlinerinnen, die nachts auf Dächern sitzen und miauen. Leider ist ihr Fell etwas verdorben von all der Braunkohle, ansonsten ist bei ihnen alles so, wie er es aus Japan kennt.
Dann sucht er das Mekka der Nervenheilkunde auf und reist weiter nach Wien, wo er Schüler des berühmten Josef Breuer wird, ein Kollege und Freund Sigmund Freuds.
Dieser weckt die Erinnerungen Dr. Shimamuras an seine Begegnungen mit dem Fuchs in Japan.
Im vorliegenden Roman wiederum blickt Dr. Shimamura als alter Mann zurück auf sein Leben und erinnert sich an seine Stationen, Erfahrungen, Enttäuschungen - eingebettet in sein jetziges Leben mit vier Frauen. Um ihn sorgen sich seine Ehefrau, seine Mutter, seine Schwiegermutter und ein Dienstmädchen. Er leidet mittlerweile an der Schwindsucht, verbringt seine Tage und Nächte im Bett und hat viel Zeit, über all die Rätsel seines Lebens nachzudenken.
Er war einst, noch vor seiner Europareise, von seinem Professor Sakaki aufs Land geschickt worden.
"Reisen Sie nach Shimane"; hatte Sakaki gesagt, "und erforschen Sie die alljährlich dort auftretende Epidemie der Fuchsbesessenheit. Untersuchen sie jede Fuchspatientin und stellen Sie eine Diagnose. Achten Sie besonders auf neurologische Fälle."
Widerwillig macht Dr. Shimamura sich auf den Weg, begleitet von einem Studenten, der leider plötzlich verschwindet. Sie betätigten sich als Exorzisten, dafür Sorge tragend, dass der ausfahrende Fuchs sogleich einen neuen Wirt findet, sogenannte Gefäße. Das sind Menschen, die sich freiwillig anbieten, den Fuchs in sich aufzunehmen.
Und so kommt Dr. Shimamura wohl auch zu seinem Fuchs, nicht freiwillig, aber lebenslang.
Die märchenhafte Geschichte, die zwischen Orient und Okzident mäandert, beschreibt sehr eindrücklich ein Phänomen, das hier wie dort Menschen - vor allem Frauen - aufwiesen. Im Europa an der Schwelle zum 20. Jahrhundert nannte man diese Erscheinung Hysterie, in Japan Fuchsbesessenheit. Hier wie dort wird viel "geforscht", aus heutiger Sicht eher inszeniert. Und zwar das ganz große Drama.
In diesem steht mittendrin als Arzt und Patient der eigentlich eher schüchterne und ein bisschen naive
Dr. Shimamura mit seinem Fuchs. Auf fast alle Frauen übt er eine unerklärliche Anziehungskraft aus - nur nicht auf seine Ehefrau. Diese musste ihn auf Geheiß ihres Vaters heiraten, sie ist völlig unempfänglich für irgendwelche Schwingungen, kein Wunder, dass das Paar kinderlos bleibt.
Der Herr Doktor bleibt aber bis ins hohe Alter eingeklemmt zwischen die Frauen um ihn herum.
Als er sich aus dem Berufsleben zurückzieht, widmet er sich der Sammlung von Fuchsmärchen. Nach Vorbild der Brüder Grimm.
Kurz vor seinem Tod 1923 löst sich doch noch das Rätsel um den verschwundenen Studenten: der Grund war ein amouröses Abenteuer. Nun besucht der ehemalige Student seinen Lehrer, zusammen mit der schönen Kiyo, eine Patientin, die damals große Verwirrung auch in
Dr. Shimamura auslöste.
So schließt sich der Kreis dieses wunderbaren Märchens,
das so viele Aspekte in sich versammelt.
Die Haltung gegenüber der Sexualität ist nur einer davon,
der Blick in die Wissenschaftsgeschichte ein anderer.
Den Dr. Shimamura gab es wirklich, Jean-Martin Charcot und Josef Breuer bekanntlich auch, ebenfalls die abenteuerlichen Methoden der Psychologie in ihren Kinderschuhen.
Der Fuchs, den es nicht gibt, ist jedoch ebenso Protagonist dieses Romans, der der Gegenwart entspringt, aber ganz und gar die Atmosphäre jener Zeit nachbildet, in der er spielt.
Ein ganz großes Vergnügen für Leser, für die Geschichten nicht unbedingt wahr sein müssen - aber stimmig, in Sprache und Inhalt.
Christine Wunnicke: Der Fuchs und Dr. Shimamura
Berenberg Verlag, 2015, 144 Seiten