Elena Winter - Im Orbit
"Mein Zimmer ist eine Weltraum-kapsel, die unterwegs durchs All von blauen Nebelbahnen gestreift wird. Ich frage mich, ob ich hier im Orbit sicher bin, außerhalb von Raum und Zeit. Sicher vor was überhaupt." Leonie Warmers, dreiundzwanzig, Auszubildende in der "Company", fremdelt mit der Welt. Und mit sich selbst. Sie verlässt ihre Raumkapsel nur, um zur Arbeit zu gehen.
Oder manchmal auch, um sich mit ihrer Mutter zu treffen. Dies passiert aber sehr selten und läuft immer nach dem gleichen Schema ab. Man trifft sich in einem Café oder einer Kneipe, nach kurzen Begrüßungsfloskeln herrscht Schweigen. Bis Mutter ihr Smartphone rausholt und Leonie die Profilbilder von Männern auf einer Dating-App zeigt. Es könnte ihr Zukünftiger dabei sein. Dieses Thema beherrscht die Mutter so sehr, wie Leonie von ihrer Sorge um ihren Körper beherrscht wird.
Ein Stechen im Fuß, das könnte "plantare Faszitis oder eine Vorstufe davon sein". Nasenbluten - ganz gefährlich. Und Schlafwandeln erst. Die Aussage des Arztes "Blutdruck und EKG sind völlig unauffällig", kommentiert sie mit den Worten "Unauffällig, er sagt es wirklich. An meinem Körper ist nichts unauffällig, mein Körper ist ein einziges dysfunktionales System." Sie besteht auf einem MRT. Dieses bringt ans Licht: "Es ist alles in bester Ordnung, absolut keine Auffälligkeiten, Sie sind kerngesund. Der Satz trifft mich wie eine heiße Faust ins Gesicht." Wie alles, was ihre Gesundheit betrifft, muss dieses inakzeptable Ergebnis in ihrem Forum diskutiert werden, das Leonies nicht vorhandenen Freundeskreis ersetzt.
Leonie kennt ihren Vater nicht. Die Mutter beschreibt ihn als einen Weichling, unausstehlich, vor allem aber langweilig.
Er heißt Rüdiger und hat dünne O-Beine. Mehr ist aus der Mutter nicht herauszubekommen. Aber Leonie füllt die Lücke mit Fantasie. Der Mann in der Bahn, der ihr gegenüber sitzt, das ist bestimmt ihr Vater. Oder der mit den braunen Augen, der im Supermarkt die gleiche Reissorte kauft wie sie. "Hier muss eine familiäre Disposition vorliegen. Während mein Vater - und ich mache einen Hüpfer in die Luft, als ich das Wort denke - weiter durch die Gänge geht, folge ich ihm und beobachte ihn von hinten. Unscheinbar hat Mama gesagt. Das kommt hin. Auch das habe ich von ihm. ..."
Eins ist klar: Leonie ist einsam. Schon eine Obdachlose, die im Treppenhaus schläft, bringt sie gehörig durcheinander, weil sie sich für die Frau verantwortlich fühlt. "Meine Weltraumkapsel hat Schlagseite bekommen, ihre Umlauf-bahn wurde brutal durchkreuzt." Und dann ist die Frau so plötzlich weg, wie sie aufgetaucht ist.
Es gibt noch einen, der immer wieder ihre Bahn kreuzt: ihr Chef Jochen. Flache Hierarchie, man duzt sich. Er nutzt diese Pseudovertrautheit, um sich an Leonie heranzumachen, was sie im wahrsten Sinne des Wortes zum Erbrechen findet. Und bei einer Feier beinahe einen Skandal auslöst...
Und dann kreuzt "Torsten ohne h" ihre Bahn. Und Leonie entwickelt eine Menge Symptome, die sie zunächst gar nicht einordnen kann. Sie stellt aber fest: "Richtig schlecht geht es mir nicht gerade. Das Klopfen ist auszuhalten, an den Schwindel kann ich mich auch gewöhnen. Eigentlich fühle ich mich sogar ganz wohl so."
Elena Winter, geb. 1980, hat mit Leonie eine überaus sympathische Heldin geschaffen. Sie steht etwas schräg im Leben und ist eigentlich recht unglücklich. Doch die Autorin beschreibt Leonies Denken und Handeln mit so viel Empathie und einem unwiderstehlichen Humor, dass der Roman ein großes Lesevergnügen ist. Die Geschichte ist ganz auf die junge Frau konzentriert und wirkt doch weiträumig - sie spielt ja auch im Orbit!
Elena Winter: Im Orbit
Müry Salzmann Verlag, 2024, 176 Seiten