Andrea Winkler - Mitten im Tag - Prosa

"Nicht wahr, da legen wir den Kopf in die Hände und warten, aber auf nichts, was wir schon gewusst haben? Und ziehen die Schuhe aus, und einer geht barfuß voraus, stetig den Blick wendend. Und bleibt dann stehen und erzählt das Ende anders, so oft, so geduldig, bis daraus ein Anfang wird, ein Anfang aus Fragen: Ist dies oder das geschehen?"
Andrea Winklers Prosa ist eine tastende, ruhige, geduldige, eine, die von vielen Seiten beleuchtet. Die sich scheut, eine feste Meinung zu verkünden, sich etwas ganz sicher zu sein.
Die Sammlung von zwanzig Texten besteht aus zwei Teilen. Der erste könnte mit `Das Buch vom Gehen, Wehen und Träumen´ überschrieben werden.
In diesen Geschichten geht es immer wieder um den Auf-bruch, die neue Wahrnehmung des längst Bekannten, das Hören auf den Ton dieses einen Moments, das stille Genießen seiner Besonderheit.
Um dies alles zu erleben, reicht es, in die Straßenbahn zu steigen, eine nahegelegene, nicht unbekannte Landschaft mit unverstelltem Blick zu durchstreifen, den Vögeln, die durch viele der kleinen Geschichten flattern, zuzusehen, oder dem Wind zu lauschen. Es gilt, Pausen einzulegen, die richtige Zeit abzuwarten, ein jedes hat seine Zeit.
Die Prosa-Miniaturen erinnern daran, wie wichtig es ist, nicht immer etwas zu tun, sondern auch zu lassen und zuzulassen:
"Wie arm dieses Leben wäre, wenn es nicht so beständig Freuden verschenkte, die sich weder erarbeiten noch erkaufen ließen!"
Sie lesen sich leicht, erinnern in vielem an die Grundideen der Romantik: dem Gewohnten ein ungewöhnliches Ansehen zu geben, mit dem Blick nicht an der Oberfläche haften zu bleiben, sich treiben zu lassen wie der liebenswerte Tauge-nichts, um dadurch Einsichten zu gewinnen.
Doch mit dieser Leichtigkeit des Tons werden existenzielle Fragen gestellt: Wie verhält es sich mit der Einsamkeit?
Worin begründet sich Hoffnung? Wie lässt sich mit Trauer umgehen? Wie wächst man zu einem selbstverantwortlichen Menschen heran?
Antworten auf diese Fragen findet die Autorin in der Literatur.
Der zweite Teil des Buches versammelt neun Essays, in denen sie sich mit Figuren der Weltliteratur und mit Märchen beschäftigt:
"Von dort sind mir die Antworten entgegengekommen, aus Texten, die ich wieder und wieder gelesen habe, wie jemand, der einen bestimmten Landstrich wieder und wieder durch-streift, weil ein einziges Mal nicht genügt hat, um zu erfassen, was alles da ist. Sie leuchteten mir da aus Augen-blicken heraus, die sich wie beiläufig zutragen, als helle Punkte in einem dichten Gewebe von Handlungen und Entwicklungen."
In einer äußerst genauen Art zu lesen, die feinste Nuancen wahrnimmt und auch, und das ist vielleicht das entschei-dende, die Pausen mitbedenkt, geht sie Erzählungen von Anton Cechov ("Die Steppe"), Virginia Woolf ("Lappin und Lapinova") oder Franz Grillparzer ("Der arme Spielmann") nach. In diesen so unterschiedlichen Texten findet sie gemeinsame Spuren:
"Es ist möglich, ins Wasser zu springen und zu fühlen, dass es trägt, und es ist möglich, die Vorstellung eines anderen zu hören und sich in sie zu mischen, und es ist möglich, für Momente eine Bewegung mit andern zu teilen und den Lauf der Welt außer Kraft zu setzen - ja, mitten in einer kaputten Welt ist das möglich, mitten in einer Welt, die arm an geteilter Gegenwart, arm an unmittelbar erfahrener Wirklichkeit geworden zu sein scheint."
Auch in Märchen, die von jeher "das Wunderbare" themati-sieren und "aus der Sicht der einzelnen Gestalt" heraus erzählen, gewinnt Andrea Winkler tiefe Einsichten:
"Was dieser eine, diese eine tut und unterlässt, und zwar unter meist überaus widrigen Umständen, entscheidet darüber, wie sich die Dinge entwickeln; das Große, das dabei geschieht, ereignet sich wie nebenher oder besser: im Verborgenen."
Dieses Verborgene aufzuspüren, die unterirdischen Verbin-dungen zwischen Texten, Filmen, Kunstwerken freizulegen ist eine ernste Aufgabe. Eine, der sich eine Schriftsteller:in ebenso stellt wie die Lesenden. Hilfreich bei dieser Tätigkeit ist die Offenheit, sich beschenken zu lassen, zuzuhören, nicht gleich eine Meinung zu haben.
Andrea Winkler gelingt es, diese Offenheit in präzise Worte zu fassen. Hinter der Geradlinigkeit stecken gr0ßes Wissen und große Demut.
Ihr gelingt das, was eine ihrer Figuren jüngeren Menschen mit auf den Weg geben würde:
"... dass man nicht früh genug damit anfangen kann, das Augenmerk darauf zu richten, Wesentliches von Unwesent-lichem zu unterscheiden."
Andrea Winkler: Mitten im Tag, Prosa
Sonderzahl Verlag, 2025, 168 Seiten