Saskia Winkelmann - Höhenangst
"Ich weiß, es gibt zwei Arten, die Welt zu sehen: Entweder sie ist, wie sie ist, und du bist davon getrennt. Oder du bist die Welt, bist ein Teil von ihr, sie kommt aus dir und du aus ihr. Du kannst sie nur als etwas begreifen, das sich stets aus dir erschafft.
Meine Welt ist auf eine Seite gekippt und die Dinge sind wie schwere Möbel, langsam, dann schneller gerutscht und haben sich in einer Ecke getürmt. Ich bin hingefallen. Wann hat es angefangen?"
Diese Frage stellt sich die achtzehnjährige Ich-Erzählerin, die ohne Namen bleibt. Sie lebt bei ihrer Mutter, die vor allem mit sich selbst beschäftigt ist. Sie besucht die Abiturklasse, findet die Menschen nicht so interessant, dass sie Freundschaften schließt, sie bleibt "die Bekannte", die dann und wann mit "den anderen" abhängt, meist ist sie jedoch alleine. Sie liebt es, in den Botanischen Garten zu gehen, besonders liebt sie das Mittelmeerhaus:
"Früchte beruhigen mich. Sie bedeuten, dass es Dinge gibt, die passieren können ohne Menschen, Dinge die es vorher gegeben hat und die es nachher geben wird. ... Vor dir habe ich diesen Ort gebraucht. Nach dir werde ich diesen Ort wieder brauchen."
Dieses "du" ist Johanna oder lieber "einfach Jo". Als sie in die Klasse kommt, wissen bereits alle Bescheid: Sie hat einen Suizidversuch unternommen. Deshalb meiden die meisten sie. Nicht so die Erzählerin, die sich zum ersten Mal im Leben auf eine tiefe Freundschaft einlässt, in der auch große Bewunderung mitschwingt.
Jo ist lässig, lässt sich nichts vorschreiben, sucht ihren eigenen Weg, nimmt nichts als gegeben und normal hin.
Was für die Erzählerin das Mittelmeerhaus ist, ist für Jo der Keller. Ein Ort, an dem man nichts muss, alles (sein) kann. Bald gehen sie zusammen in den illegalen Club, "hier gibt es einen Platz für mich ... ich bin Teil dieser Maschine. Ich will bleiben...", stellt die eigentlich die Stille liebende Erzählerin fest.
Teil der Welt sein, welcher Welt? Sich getrennt fühlen oder sich verbinden, eine Kontinuität herstellen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Erfahrungen und der Kostbarkeit des Augenblicks, Rituale ablehnen oder Wiederholungen zu schätzen lernen - die beiden jungen Frauen tasten sich durch die Welt.
Dieses Tasten findet nicht nur im Keller statt, sondern auch in einer Berghütte, die Jos Großvater gehörte. Dorthin ziehen sie sich immer wieder zurück, probieren Drogen aus, probieren einander aus.
Träume, die Bilder und Gefühle, die ein Rausch mit sich bringt, nehmen einen Teil des Romans ein. Sie reflektieren, was in der Erzählerin vor sich geht, ohne zu direkt zu sein, sie sind ein Mittel, durch einen Spiegel in sie zu schauen.
Die Erzählerin nähert sich Jo immer weiter an. So weit, dass sie nicht mehr zwischen sich und ihrer Freundin unter-scheiden kann. Aus einem "Ich bin wie du" wird ein "Ich werde Jo", schließlich "Ich bin Jo".
Ein traumatisches Ereignis an einem nahe der Hütte gelegenen See teilt die Zeit mit Jo in ein davor und danach. Die Erzählerin lebte zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr bei ihrer Mutter, sie war zum Vater in die Mansarde über-siedelt. Nun wohnt sie in einem weißen Zimmer, sitzt einer Frau gegenüber, die sie "Königin" nennt, weil sie in einem ausladenden Sessel thront. Diese versucht herauszufinden, was passiert ist, wie auch Line und die Polizei wissen wollen, was passiert ist. Die Königin möchte ihr helfen, ihre Erinnerungen auszugraben. Diese stellen sich langsam und unsortiert ein.
Saskia Winkelmann folgt in den äußeren Ereignissen, wie erste Begegnung, Schule, Keller, Hütte, Tabletten, Mansarde, ein Streit, Eifersucht auf Line etc. weitgehend der Chronologie mit eingestreuten Blicken in die Zukunft.
Die innere Zusammensetzung, das was sich in der Erzählerin abspielt, folgt den sich einstellenden Erinnerungen.
Dieses manchmal parallel, manchmal konträr verlaufende Erzählen, das mit Andeutungen auskommen oder explizit ausformuliert sein kann, das aus dem Rückblick erfolgt, aber den Eindruck erweckt, als fände alles in einer langen Gegenwart statt, ist faszinierend.
Es schwingen weitere Themen mit, wie Eltern, die in anderen Welten leben, oder Männer, die die jungen Frauen übel anmachen. Die Welt der Autoritäten.
Ein leises, aber dezidiertes Thema ist `Mädchen/Frau sein´:
"Ich fand es schrecklich, was ich tun durfte und was nicht, einfach nur weil ich ein Mädchen war", so die Erzählerin.
So, wie es zwei Arten gibt, die Welt zu sehen - hinnehmen und sich von ihr getrennt fühlen, oder sie gestalten und ein Teil von ihr werden - "gibt es zwei Arten von Höhenangst. Eine vor dem Fallen und eine vor dem Springen."
Die beiden jungen Heldinnen erleben alles. Miteinander, getrennt voneinander, in einer Gemeinschaft, alleine.
Ein Ich und ein Du, manchmal ein Wir.
Sie springen und fallen. Wieder aufstehen ist nicht immer möglich.
Die 1990 geborene Schriftstellerin veröffentlichte bislang in Zeitschriften, schrieb für die Bühne und ist auch als DJ unterwegs. Ihr Debütroman überzeugt in jeder Hinsicht!
Saskia Winkelmann: Höhenangst
verlag die brotsuppe, 2023, 196 Seiten