Sara Wegmann - Sirma
Das Debüt Sara Wegmanns ist ein fulminanter Roman über Sprachlosigkeit und Sprache. In eine Vielzahl an Überlegungen, die hier bedacht und durchgespielt werden, fügen sich Gedanken über Zeit und Geschwindigkeit. So entwickelt sich ein weiträumiger Roman, der mit einer ganz eigenen Stimme von der Suche nach einer inneren Heimat erzählt.
Die Protagonistin Sirma wächst in einem pakistanischen Dorf auf. Ihre Mutter hat wenig Zeit für sie, sie ist immer dabei, das Haus in Ordnung zu halten. Sirma geht zu ihrer Großmutter, hier läuft pausenlos der Fernseher. Anstatt eine eigene Sprache zu entwickeln, lernt Sirma ganze Dialoge aus Filmen und Serien auswendig.
"Und als Sirma eines morgens sagte: - Mein Herr, viele Gräueltaten sind geschehen, mir wurden die Leichen von sechs Muslimen gezeigt. Da wusste ihre Mutter, dass sie diesen Satz bereits gehört hatte."
Für Sirmas Mutter ist klar, ihre Tochter hat ein "Sprach-problem". Als Sirmas Vater in Dubai, wohin er zum Arbeiten gegangen ist, eine Familie mit einer stummen Tochter kennenlernt, kommt ihm die Idee, Sirma zu dieser Familie zu schicken. Sie wird bald in die Schweiz zurückkehren, Sirma könnte vielleicht einen Sprachkurs belegen und mit dem Erlernen der deutschen Sprache ihr generelles Problem ablegen. Und vielleicht könnte sie zu der etwa gleichaltrigen Alexandra ein gutes Verhältnis aufbauen, das sie aus ihrer Abgeschiedenheit erlöst.
Der zweite, in Zürich spielende Teil des Romans, beginnt mit der Ankunft Sirmas am Flughafen. Mitgekommen ist auch ihr Schaf. Dieses Tier war eines Tages völlig unvermittelt aufgetaucht, es wird sie die nächsten Jahrzehnte nicht verlassen. Das Schaf, das nett oder böse sein kann, das sich manchmal streicheln lässt, manchmal beißt, ist die Personifikation ihrer Schwierigkeit, mit eigenen Worten zu sprechen. In der Regel ist es unsichtbar, für zwei Menschen ist es allerdings sichtbar.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten freunden sich Sirma und Alexandra an. Die stumme Alexandra ist es gewöhnt, sich ohne Worte zu verständigen, "das Nicht-Fragen, das Nicht-Sagen waren ihr zu Natur geworden."
In diesen hoffnungsvollen Beginn fällt ein Ereignis, das die Welt aus den Angeln hebt: der 11. September 2001. Nicht nur dass das pakistanische Mädchen plötzlich angefeindet wird, die Familie fällt in ein Zeitloch. Oder eher das Haus, in dem sie lebt, denn in diesem vergeht die Zeit in einer ganz anderen Geschwindigkeit, als in der Welt draußen.
Neben Sprache und dem Umgang mit der Zeit, ist auch Geschwindigkeit ein Thema dieser Geschichte, die Mitte der 1980er Jahre beginnt und bis heute reicht.
Man kann von der Geschwindigkeit getroffen und getötet werden, sie kann in eine Wiederholungsschleife zwingen, man kann sie befragen, man kann sie kontrollieren oder von ihr kontrolliert werden, sie kann in Flammen aufgehen.
"Wann hatte das angefangen? Als die Türme eingestürzt waren?"
Dieser Anschlag führte zu einem Zeitbruch in der Welt, führte er zu unterschiedlichen Geschwindigkeiten?
Ein Stipendium führt Alexandra kurz nach ihrem achtzehn-ten Geburtstag nach Hongkong, Sirma begleitet sie. In dieser Stadt bauen sie sich ein neues, eigenes Leben auf.
Alexandra programmiert eine App, die Schrift in Sprache umwandelt, sie kann nun mit einer Computerstimme sprechen. Sirmas Schaf taucht nicht mehr ganz so häufig auf, nach und nach spricht auch sie mit eigener Stimme, die Zitate aus Filmen nehmen ab. Sie ist Künstlerin geworden, zeichnet, erfindet Geschichten, zieht zusammen mit Alexandra deren Sohn Henri auf, der am Ende des Romans knapp zehn ist.
Da müssen sie Hongkong verlassen, Henris Score für Wohlverhalten ist nicht mehr hoch genug, um dort ein gutes Leben zu führen. Nach einer Genanalyse wurde ihm eine Veranlagung zu politischen Umtrieben bescheinigt.
Vor allem im dritten Teil spielt die Politik eine offensichtliche Rolle, doch der Schwerpunkt liegt immer auf der Entwick-lung Sirmas und Alexandras.
Die Frage eines Freundes, "Möchtest du nicht manchmal jemand anderes sein?" beantwortet sie folgendermaßen:
"Nein, ich war jemand anderes. Jetzt bin ich jemand Neues, und das, was von mir übrigblieb. - Und das funktioniert? -
Es funktioniert nie alles."
Sara Wegmann, geboren 1985, lebt heute in der Schweiz. Den ersten Teil des Romans verfasste sie auf Urdu, den zweiten auf Türkisch, den dritten auf Deutsch. Die vielen eingefügten Filmzitate wurden ebenfalls von ihr übersetzt, im Roman sind sie kursiv gedruckt. Sind anfänglich halbe Seiten kursiv, nehmen diese geliehenen Worte ab. Sie verlieren sich nicht ganz, aber sie fügen sich deutlich besser in die Geschichte.
In mehreren Sprachen zu Hause zu sein, scheint es nicht einfacher zu machen, eine wirkliche Heimat zu finden. Vielleicht funktioniert es nur, wenn sich Altes und Neues zusammentut, wenn Sprache, Zeit und Geschwindigkeit miteinander im Einklang sind. Dies gilt für Familien, Freundschaften, Kulturen.
Mit der Beschreibung von Sirmas Weg durch den Wort-Dschungel kreiert Sara Wegmann einen ganz neuen und eigenen Stil. Sie arbeitet sehr stark mit Wiederholungen, bis zu fünf Mal stehen Sätze oder Satzteile hintereinander, mit kleinen, aber entscheidenden Abweichungen:
"Und Sirma ging in die Schule. Sie ging schon seit drei Jahren fünf Tage die Woche in die Schule.
Sie ging jeden Morgen um halb acht aus dem Haus, um um zwölf Uhr dreißig in das kleine dreizimmrige Haus zurück-zukehren.
Sie ging jeden Morgen um halb acht aus dem Haus, um sich auf ein Leben vorzubereiten, von dem niemand wusste, wie es aussehen würde.
Sie selbst aber ging jeden Morgen um halb acht in die Schule, um die Menschen zu beobachten..."
Diese Wiederholungen, die die tägliche Routine, wie auch die Schablonenhaftigkeit von Redewendungen oder Sprache an sich reflektieren, auf die Spitze getrieben durch die vielen Zitate, verleihen dem Roman einen starken Sog.
In dieser Form vereinen sich Stil und Inhalt bzw. Aussage.
In der Abnahme dieser Versatzstücke lässt sich ablesen, dass Sirma mit der Zeit ihre eigene Sprache findet.
Dies hat sie mit der Autorin gemein, deren spannendes Debüt ein ganz außergewöhnliches Buch ist.
Sara Wegmann: Sirma
Telegramme Verlag, 2023, 250 Seiten