Lisa Weeda - Tanz, tanz, Revolution

Im fiktiven Besulia spielt dieser Roman, in dem einem mystischen Tanz eine zentrale Rolle zukommt, dem Svaboda Samoverzjenja. Wird er mit dem notwenigen Nachdruck ausge-führt, ist er in der Lage, Tote zum Leben zu erwecken. Vor allem die "schlechten Toten", jene, die vor der Zeit starben. Da in Besulia Krieg herrscht, gibt es viel zu viele von diesen schlechten Toten und zu wenige, die den Svaboda Samoverzjenja beherrschen. Normalerweise wird er von der Dorfältesten, der Stara, an die nächste Generation weitergegeben, doch in der Not greift die junge Anna zum Handy: Sie filmt ihre Großmutter Baba Yara, wie diese den Tanz ausführt. Diese Videos stellt sie ins Netz. In kürzester Zeit sehen sich eine Million Menschen an, wie sie tanzen müssen. Anna und ihre vielen Mitstreiter fühlen sich "geehrt".

"Wir sehen sie schon in unserem Tal stehen: Sie bilden eine schützende Mauer um unsere Häuser, und sie alle tanzen, gleichzeitig ...."

 

Doch die Aufmerksamkeit der Welt ist flüchtig. Schnell wird sie an einen anderen Ort gelenkt, rückt ein anderer Krieg in den Vordergrund. Und irgendwann fängt die Bericht-erstattung an zu nerven, schon wieder, gibt es dort noch immer keine Ruhe...

 

Der aus fünf Teilen bestehende Roman setzt zweieinhalb Jahre nach dem Krieg ein. Toni, Mitte dreißig, verließ vor vielen Jahren ihre Heimat Upasi, weil dort Krieg herrschte. Sie arbeitet nun beim BODY-PICK-UP-SERVICE. Ihre Aufgabe ist es, Tote abzuholen, zu registrieren und aufzubewahren, bis sie wiedererweckt werden. Sie kann nur hoffen, dass die Leute bereit sind, zu tanzen.

Doch die Bereitschaft wird geringer:

"Eine Umfrage hatte ergeben, dass die Menschen das Ganze nach zweieinhalb Jahren satthatten. Sie hatten ihr Leben, ihren Alltag auch ohne den ganzen Zirkus zu bewältigen."

 

Im zweiten Teil ist der Ich-Erzähler ein Notschnik. Diese traditionelle Figur aus Stroh oder mit weißen Fellen umwickelt, tanzt den Svaboda Samoverzjenja so ausdauernd, dass Hunderte Tote gleichzeitig zum Leben erweckt werden können. Er beschließt, offensiv vorzugehen.

"Ich wurde wütend und beschloss, umso mehr Leichen in dieses Land zu schaffen, immer schneller, so viele, bis die Center überfüllt werden würden. Denn dann müssten die Menschen doch tanzen."

So die Hoffnung, in der Praxis wird es immer schwieriger, Tanzwillige zu finden.

 

Ein Jahr nach dem Krieg spielt der dritte Teil, in dem die Erzählerin Sophia zwei Wiedererweckte junge Männer bei sich aufnimmt. Sie sind traumatisiert, hätten gerne eine Aufgabe, das Angebot an Arbeit ist aber sehr begrenzt: entweder in der Ausländerverwertung, d.h. dem "Ausheben von Gräbern für die Diaspori", oder im Schlachthof. 

 

In diesem Kapitel geht Lisa Weeda am deutlichsten auf die Situation von Geflüchteten ein, auch die Oma der Erzählerin hat hier viel zu berichten. Sie erlebte dieses Schicksal vor langer Zeit, es hat sich nichts geändert. Maks und Danylo wollen schließlich lieber wieder zurück in ihre Heimat: "Lieber ein zweites Mal sterben als das hier". 

 

Außerordentlich eindrücklich ist die Beschreibung, wie Anna, Baba Yara und ihre Freunde den dritten Teil des Tanzes aufnehmen. Dies ist ein Live-Stream, bei dem Millionen Menschen miterleben, wie die Einschüsse näher kommen, Soldaten in den Schutzkeller eindringen, der Krieg plötzlich DA ist.

 

"Die Kamera knallt auf den Boden, schlittert unter das Feldbett. Wir hören Geschrei, einen Schuss. Das Bild ist weg. ... Dann wird es still."

 

Baba Yara selbst hat die Hoffnung, der Tanz möge helfen, verloren: "Die Menschheit ist ihr eigener Teufel. Wir sind wohl dazu geboren, unsere eigene Art zu quälen und in den Tod zu treiben, dem eigenen Bösen zuzusehen, Generation um Generation."

 

 

Lisa Weeda lässt in jedem Teil eine andere Stimme erzählen, dadurch variiert der Ton stark.

Zeitlich rückt sie immer näher an den Krieg heran, bindet die Zeit danach an die Zeit ganz kurz davor. Dadurch, dass sie rückwärts erzählt, kann sie eindrücklich beleuchten, wie sich die Aufmerksamkeit, das Verständnis und die Geduld der Menschen entwickelt hat.

Sie greift auf die uralte Legendengestalt der Baba Yaga zurück, und stellt mit ihr die Frage, wie überlebensfähig eine Tradition ist, die darauf gründet, "das Böse zu bekämpfen".

 

Und sie stellt in ihrem grandios erzählten, vielschichtigen Roman die Fragen: Wie weit reicht unser Mitgefühl?

Wie lange sind wir dazu fähig?

 

Und sie fordert zur Bewegung auf. Ohne Bewegung gibt es keine Revolution, kann es keinen Frieden geben.

 

Dass es gelingen kann, zeigt ganz vorsichtig das Ende des Romans, an dem ein Kreis sich schließt.

 

 

Lisa Weeda wurde 1989 in Rotterdam geboren. In ihrem autobiografisch gefärbten Debütroman "Aleksandra", 2021, erzählt sie auch aus dem Leben ihrer aus Luhansk in der Ostukraine stammenden Großmutter. 

Dass sich hinter Besulia die Ukraine verbirgt, lässt sich unschwer erkennen, Upasi dürfte in den heute von Russland besetzten Gebieten liegen. 

Doch indem sie den Orten des Geschehens fiktive Namen gibt, hebt sie ihren Roman auf eine allgemeingültige Ebene: sie erzählt von allen Kriegen, davon, dass die Menschen unser Mitgefühl und unseren Beistand brauchen, egal wo. 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lisa Weeda: Tanz, tanz, Revolution

Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann

kanon Verlag, 2024, 176 Seiten

(Originalausgabe 2024)