Rüdiger Vossen - Weihnachtsbräuche in aller Welt
Weihnachtliche "Glückseligkeit auf der einen Seite, auf der anderen das andere Extrem - für die "Ungläubigen", die Zweifelnden, die Einsamen, die Übersättigten, die Armen und die Weihnachtshasser allgemein - ein Fest der Bedrückung, der Einsamkeit, der inneren Wut, ein Weihnachten in der Not, in der Gosse oder auch - ein Tag wie alle anderen? Ein Fest der Scheinheiligkeit, der Hochspannung, des sozialen Unfriedens, der übergroßen Erwartungen und der großen Enttäuschungen?"
Dieses Zitat stammt aus einem mit "Kontraste" überschriebenen Kapitel dieses unglaublich fundierten, vielfältigen, keine Fragen offen lassenden Buches über Weihnachten. Das Zitat beschreibt ganz eindeutig eines:
um Weihnachten kommt man nicht herum. Egal ob man es liebt und feiert (aus welchen Gründen auch immer) oder nicht, man müsste sehr weit wegfahren, um diesem Fest zu entgehen.
Deshalb sei hier auch eine Empfehlung für dieses Buch ausgesprochen, obwohl es sich nicht um ein belletristisches Werk handelt.
Zunächst kurz zum Autor: Rüdiger Vossen (geb. 1941), studierte Ethnologie, Vor- und Frühgeschichte und
Alt-Amerikanistik. Von 1968-1994 leitete er die Eurasien-Abteilung des Museums für Völkerkunde in Hamburg.
Das vorliegende Buch geht auf die Begleitschrift zur großen Weihnachtsausstellung im Hamburgischen Museum für Völkerkunde im Jahr 1985 zurück. Es wurde erweitert und überarbeitet und erschien 2012 in der jetzigen Gestalt, ausgestattet mit vielen, fast durchgängig farbigen Illustrationen.
Das Buch beleuchtet den gesamten achtzigtägigen Weihnachtszyklus, der von Martini, dem 11. November, bis Lichtmess, dem 2. Februar, reicht. In diese Zeit fallen neun Wendefeste mit "den damit verbundenen Übergangsriten, Zauberpraktiken, Opfer-und Orakelbräuchen."
Vossen verfolgt die verschiedenen Ausprägungen und Formen, mit welchen die Tage in allen Teilen der Welt begangen werden mit viel Neugier und großer Kenntnis.
Er verknüpft die heute noch sichtbaren Rituale mit alten Schriften, Bildnissen, Liedern und Gedichten und kann so genau beschreiben, welchen Weg ein Gedanke ging und wie er sich manifestiert hat.
Schon innerhalb Deutschlands sind die Unterschiede zwischen römisch-katholisch geprägtem Süden und germanisch-protestantisch geprägten Norden und Osten enorm. Wie sieht es in Amerika oder China aus? Oder in
Sri Lanka oder in Israel?
Die eigentlichen Bräuche (wie Nikolaus und Christkind, Schenken, Märkte, Santa Claus oder Sinterklaas, Hausgötter oder die Befana, Klopf- und Rauhnächte) sind "nur" ein Teil des umfangreichen Buches, das insgesamt acht Kapitel aufweist.
Hochinteressant ist das Kapitel "Wurzeln des Geburts- und Tauffestes Christi - vom Altertum zum Mittelalter", beginnend mit dem ägyptischen Isiskult als Vorbild des Epiphaniefestes.
Nach einer ausführlichen Beschreibung des Serapisfestes ist zu lesen:
"Diese Schilderung des ägyptischen Serapisfestes soll die Parallelen zum christlichen Epiphaniefest am 6. Januar vor Augen führen. Die jungfräuliche Geburt des Aion oder Horus aus der Isis erinnert an die jungfräuliche Geburt Jesu aus Maria, die Bindung des Osiris an das Nilwasser an die Taufe Jesu im Jordan, die Gleichsetzung des Osiris mit Dionysos an das Weinwunder Jesu auf der Hochzeit zu Kana, die auch am 6. Januar gefeiert wurde."
Vossen verfolgt die Wanderung, die das Epiphaniefest von Ägypten über Syrien nach Zypern zurücklegte.
Von Jerusalem wanderte es nach Armenien, wo noch heute am 6. Januar das Geburtsfest Christ gefeiert wird.
Solche klaren Belege dafür, dass Riten des Christentums auf älteren Kulturen fußen und sich in abgewandelten Formen weiträumig verbreiteten - und das gilt nicht nur für die christliche Religion - sind starke Argumente für die Egalität der Religionen. Es sind salopp ausgedrückt nachgelieferte wissenschaftliche Beweise für Lessings Ringparabel.
Und damit bis heute, oder gerade heute, unglaublich wichtige Argumente gegen ein Supremat der einen oder anderen Religion und ihrer Anhänger.
Krippenfiguren aus Lateinamerika oder aus Afrika kennt heute sicherlich jeder, und es ist auch kein Geheimnis mehr, dass der Weihnachtsbaum seinen Vorläufer in den Baumkulten der indoeuropäischen Völkern hat.
Doch wenn man liest, dass das Abschneiden von Tannengrün (dessen spitze Nadeln Unheil abwehren sollten) lange Zeit verboten war - erst 1369 wurde es Kleinbauern im Elsass zugebilligt, am Weihnachtsabend ein Fuder Zweige zu schneiden - sagt das auch viel über die historische Realität aus. Das Einholen eines Holzblockes, auch Weihnachtsklotz genannt, war dort weiterhin verboten. In vielen anderen Ländern war dieser Klotz als Vorform des Weihnachtsbaumes schon im 8.Jahrhundert verbreitet.
Der alte Fruchtbarkeitsbrauch, auf einem solchen Klotz zur Wintersonnenwende Feldfrüchte zu opfern und Wein auszugießen war Teil des Rituals.
An diesem Klotz wurden auch alte Feindschaften begraben.
Es gibt also jede Menge Gründe, sich mit Weihnachten zu beschäftigen - auch für "Ungläubige".
Das vorliegende Buch ist eine zugleich breit gefächerte und tief gehende kunst- und kulturhistorische Aufarbeitung des "Festes aller Feste."
Es zeigt die Wurzeln und die Verästelungen auf, die Veränderungen im Lauf der Zeit. Es zeigt aber auch ganz deutlich den Kern von Weihnachten, egal wo, egal wann: Hoffen und Teilen.
Rüdiger Vossen: Weihnachtsbräuche in aller Welt
Ellert & Richter Verlag, 2012, 336 Seiten