Lucia Jay von Seldeneck (Texte) & Florian Weiß (Illustrationen) - Was eine Kiefer ist
Geschichten aus der botanischen Welt
"Was eine Kiefer ist,
lerne von der Kiefer.
Was ein Bambus ist,
lerne vom Bambus."
Matuso Bashos (1644-1694) Haiku drückt "die Demut und Achtung gegenüber der Natur aus", die sich hier auf die Pflege von Bonsai-Bäumen bezieht, sich jedoch auf die ganze Natur erstrecken sollte.
Dreißig Pflanzen haben sich das bewährte Autoren-Duo Lucia Jay von Seldeneck und Florian Weiß diesmal vorge-nommen, nach den wunderbaren Büchern über Berge und Schiffe verführen sie zu einer weiteren Reise um die Welt.
Den Auftakt bildet stets eine Erzählung, in deren Mittel-punkt die jeweilige Pflanze steht. Ihr folgt ein Steckbrief und eine erläuternde Erklärung, die noch einmal das Thema der Erzählung aufnimmt, deren historisch-kulturellen Hinter-grund ausleuchtet, sowie explizit auf die ganz speziellen Eigenschaften und Bedeutung der Pflanze eingeht.
Abschließend verbindet eine Zeichnung all diese Aspekte miteinander - es sind Bilder, in die man sich versenken kann.
Hergestellt wurden sie mit einer selbst erfundenen Punktier-maschine. Wie eine Tattoo-Nadel setzt diese Punkt für Punkt aufs Papier, anschließend wird die so entstandene Zeichnung koloriert. Hierfür verwendet Florian Weiß neben Aquarell- auch "Naturfarben wie Erde, Pflanzensäfte, Wein, Kaffee, Blut und verschiedene Gewürze." Diese Farbproben sind als Kleckse auch im Umschlag zu bewundern und bilden nicht zuletzt eine Anregung für eigene Malversuche.
So vielfältig wie die porträtierten Pflanzen, die nebst weiteren von Mohnblumen über Farn, Bambus, das Ruthenische Salzkraut, den Kautschukbaum oder schlichte die Pfefferminze bis zum hochgiftigen Schierling reichen, so vielfältig sind die Erzählungen.
Den Ausgangspunkt für das erste Porträt, das den Mohn-blumen gewidmet ist, ist ein Gedicht aus dem Ersten Weltkrieg. Nur fünfzehn Zeilen lang, verloren gegangen und wiedergefunden, fasst es den Schmerz über die gefallenen Soldaten, den Tod des Freundes, über "das Blut, das viele viele Blut", rot wie Mohnblumen. Sie werden zum Symbol "der Verwüstung und des sinnlosen Sterbens."
Die Verbindung von Tod und Mohn ist jedoch nicht nur eine optische, denn:
"Mohnsamen haben eine sehr lange Keimfähigkeit. Sie treiben aus, wenn der Boden, in dem sie abgelagert sind, gestört wird - wie durch das ständige Bombardement während des Ersten Weltkrieges. Und so standen die Felder im Frühsommer 1918 voller Klatschmohn."
Einen geschichtlichen Hintergrund wählt die Autorin auch für die Torfmoose. Hier erzählt der Häftling eines Konzentra-tionslagers vom Stechen und Stapeln des Torfes. Vom kaum zu durchdringenden Wurzelgeflecht des Mooses, von seiner unglaublichen Zähigkeit, "es überwindet den Tod".
Die Gefangenen singen bei einer Aufführung im Lager ihr "Börgermoor-Lied": "Wir sind die Moorsoldaten. Damit sind alle Menschen gemeint. Alle sind die Moorsoldaten, die einen Funken Hoffnung in sich tragen".
In ihrer Erzählung und der Reflexion darauf verweist sie auf die symbolische Verwandtschaft von Mensch und Pflanze, von der Fähigkeit beider, mit widrigen Verhältnissen zurecht zu kommen, sich am Leben zu erhalten.
Doch sie erzählt auch die schöne Geschichte von Karl Foerster (1874-1970), einem Staudengärtner, der über achtzig Sorten Rittersporn züchtete. Für ihn war die Farbe Blau ein "vom Himmel gefallenes Juwel".
Von Juwelen handelt auch die Geschichte des Alpen-Edel-weißes. Diese kleine, sternförmige Blume wurde zur Vorlage für die berühmten Edelweiß-Sterne aus Diamanten, die Kaiserin Sisi im Haar trug. Dies löste eine solche Manie aus, dass die perfekt an ihre Umgebung angepasste Alpenblume beinahe ausgestorben wäre, ein jeder wollte sie pflücken.
Zu einem "gesellschaftlichen Großereignis" wurde auch die erste, außerhalb ihrer Heimat Sumatra blühende Titanwurz. Sie lockte 1889 in London massenhaft Besucher an, Schau-lustige, die ob des Gestanks der Blüte reihenweise in Ohnmacht fielen. Nicht umsonst trägt sie auch die Namen Leichenblume oder Aasblume, ihr Geruch liegt zwischen "toter Fisch und verbrannter Zucker", wie Matilda Smith, eine Künstlerin, die die Blume vollendet abbildete, sagte.
Ganz modern ist die Erzählung gehalten, die Lady Gaga und die Korkeiche verbindet, ganz amtlich-praktisch die Referenz an die Klette, die den heute nicht mehr wegzuden-kenden Klettverschluss inspirierte.
Man lernt, dass das Tulpenfieber des 17. Jahrhunderts zum ersten Börsenkrach der Welt führte, dass das Album "The Joshua Tree" der Band U2 einen alten Josuabaum einige Äste kostete, dass das erste Kartoffelfeld in Preußen von Soldaten bewacht werden musste, dass die Verpflanzung einer alten Eibe in Frankfurt Kindern schulfrei bescherte und die ganze Stadt in Wallung versetzte, oder dass Artischocken einst ein gewinnbringendes Geschäft für die amerikanische Mafia waren.
In Texten und Bildern wird die Faszination, die die Pflanzen ausüben, eingefangen und dargestellt. In beiden verbinden sich Sachkenntnis und Fantasie, beide transportieren den Gedanken, dass Pflanzen die Grundlage des Lebens bilden. Sie versorgen uns mit Sauerstoff, Nahrung, Baumaterial, geben uns Ideen für Erfindungen, sind noch längst nicht umfassend erforscht und verdienen höchsten Respekt in jeder Hinsicht.
Es fehlen nicht die Hinweise, wie bedroht viele Pflanzen sind, welche Auswirkungen dies hat.
Um für den Katastrophenfall gewappnet zu sein, hat man in Spitzbergen einen Tunnel im Permafrostboden eingerichtet, in dem über eine Million Saatgutproben von mehr als sechs-tausend Arten gelagert werden. Diese ermöglichen die Nach-zucht aller wichtigen Nahrungspflanzen.
Nicht umsonst trägt diese letzte Doppelseite die Überschrift "Hope":
"We hope that the seeds that are stored here are never needed."
Die "Geschichten aus der botanischen Welt" tragen dazu bei, Pflanzen wertzuschätzen. Ohne moralischen Zeigefinger, sondern indem Wort und Bild ihre Schönheit und Bedeutung feiern.
Lucia Jay von Seldeneck (Text) & Florian Weiß (Illustration):
Was eine Kiefer ist, Geschichten aus der botanischen Welt
Kunstanstifter Verlag, 2024, 132 Seiten