Laura Vinogradova - Wie ich lernte, den Fluss zu lieben

Rute ist geflohen. Aus der Stadt hinaus aufs Land, aus ihrem alten Leben in ein neues, weg von Stefans ins Alleinsein. Sie lebt nun in einem alte Haus ohne Wasser, ohne jeden Komfort. Diesen hat sie in der alten Wohnung zurück-gelassen, die Fußbodenheizung, die Spülmaschine. Nun hat sie ein Plumpsklo, wäscht sich im Fluss, muss den Ofen anheizen, wenn sie sich eine                                                   Tasse Kaffee zubereiten möchte.

 

Warum macht sie das? Dieser Frage spürt die 1984 geborene, aus Lettland stammende Autorin, die für diesen Erstling mit dem  Europäischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde, in neunzehn Kapiteln nach.

Diesen vorangestellt ist ein Prolog, der die Vorgeschichte des  Romans erzählt. Hier sind die Schwestern Rute und die drei Jahre ältere Dina beieinander. Dina verabschiedet sich, läuft zum Bus - und verschwindet für immer. Ihr Verlust hinter-lässt eine tiefe Wunde in Rutes Seele, sie hört nie auf, auf Dina zu warten.

 

Sie wartet auch in dem Haus, in dem sie nun lebt. Es gehörte ihrem Vater Jule, er hat es ihr vererbt. Er starb, ohne dass sie ihn kennengelernt hatte, nun erfährt sie das eine und andere von den wenigen Menschen, mit denen sie Kontakt hat.

 

Im wesentlichen beschränkt sich ihr Umgang auf die Nachbarin Matilde und ihren kleinen Sohn Lukass, sowie Matildes Bruder Kristofs. Dieser fährt zur See, ist nur hin und wieder zu Besuch an diesem Ort, der kaum Dorf genannt werden kann.

Völlig unerwartet übergibt Matilde ihr Lukass, als viel zu früh die Wehen einsetzen, und sie ins Krankenhaus muss. Rute hat überhaupt keine Erfahrungen mit Kindern, die Mittdreißigerin hat keine, wollte auch nie welche.

Sie wollte alleine sein, in dem einsamen Haus, kann jedoch Matilde in dieser Situation nicht im Stich lassen.

 

Zu Matilde entwickelt Rute ein vorsichtiges Vertrauen. Dazu tragen auch die Kinder bei, Lukass hat einen kleinen Bruder bekommen, wie sie selbst mit drei Jahren eine Schwester bekam.

 

An diese nun seit über zehn Jahren verschwundene Schwester schreibt Rute nach wie vor Briefe. Jedes Kapitel, das vor allem von Rute erzählt, endet mit einem solchen.

"Liebe Schwester!", "Schwesterherz", "Mein allerliebstes Schwesterherz", "Dina", beginnen diese Briefe, sie enden meist mit "Hab dich lieb".

Sie sind in der Ich-Form geschrieben, sie geben den Blick frei in Rutes Herz. Hier artikuliert sie ihre Verzweiflung, ihre Ängste und Sehnsüchte. Hier erzählt sie von den Besuchen bei der Mutter. Diese sitzt im Gefängnis. Jahrelang war sie mit ihren Töchtern von Mann zu Mann gezogen, nicht nur für die Mädchen war dies eine Tortur.

 

Doch nun, am Fluss, kommt ein Prozess in Gang. 

"Wie ich lernte, den Fluss zu lieben" könnte auch "Wie ich lernte, das Leben zu lieben" heißen, denn der Fluss steht hier für das Leben, in das Rute zurückfinden muss und möchte. 

 

"So groß kann Verzweiflung werden. So groß, dass man alles aufreißen und kaputtmachen will. Sich selbst in Fetzen reißen und danach mit zitternden Händen wieder zusammensetzen. Der Fluss ist eine große Schwester dieser Verzweiflung. Sie nimmt einen in sich auf und wiegt einen. Sie wiegt mich wieder zurück ins Leben."

 

Der Ton dieses feinen Romans ist weder pathetisch noch gefühlig. Die Umrahmung der Protagonistin Rute durch Matilde und Kristofs, die ebenfalls ein schwieriges Kinder-schicksal miteinander teilen, durch die beiden Kinder Matildes, durch Rutes Mann Stefans, nimmt Rute aus der totalen Einsamkeit heraus. Die verschwundene Schwester, die abwesende Mutter, der verstorbene, unbekannte Vater werden zu erträglichen Lasten. 

Die Einbettung der Briefe Rutes in die Handlung des Romans verzahnt die Innen- mit der Außenansicht der Hauptperson. 

 

Diese Konstruktion, wie auch der Prolog, der den Leser:innen ein Wissen an die Hand gibt, die Rute selbst nicht hat, gibt dem Roman Weite, auch wenn er auf ganz wenige Personen konzentriert ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Laura Vinogradova: Wie ich lernte, den Fluss zu lieben

Aus dem Lettischen übersetzt von Britta Ringer

Paperento Verlag/Edition Wannenbuch, 2023, 124 Seiten