Nino Vetri - Marcitero

"WAS BRINGT EINEN DAZU, an so einem Ort zu leben? Selbst wenn du hier geboren bist, warum bleibst du dann? ...Zweiundneunzig Bewohner, dreiundvierzig von ihnen älter als achtzig. Zwölf Kinder, zwei Kids aus Ghana, wenige Teenager, und ansons-ten nur Männer und Frauen so um die vierzig. Und ein Staatenloser, Typ Zigeuner, der sich verlaufen hat. Und ich, wie bin ich hier gelandet? War ein Fehler. Hierher kommst du nur aus Versehen." 

Der Ort Marcitero ist "wahnsinnig verdreckt", "auf irre Weise versifft" und jede Gasse verbreitet "den Gestank von Fäulnis". Ein "Fauldorf". Warum lebt man hier?

 

Marcitero ist ein fiktives Dorf auf Sizilien. Ein Berg trennt

es vom Meer, leider, denn hätte man das Meer, kämen Touristen. Die nerven zwar entsetzlich, bringen aber Geld.

 

So träumt der Bürgermeister Brillantine davon, den Berg abzutragen, das Tal zu erweitern, ein Kloster, das im Weg steht, zu sprengen, und schon hätte man Meer, Strand und Touristen. Und Geld. Man muss Visionen haben.

 

Marcitero und seine Bewohner, die allesamt Spitznamen tragen, leben jenseits der Realität. Oder besser gesagt, Nino Vetri hat die Realität, wie sie in vielen Dörfern nicht nur auf Sizilien herrscht, dermaßen überzeichnet, dass eine bitter-böse Komödie dabei entstanden ist.

 

Er streift im Verlauf des Romans, erzählt von jenem Fremden, der zufällig hierher geraten ist, wirklich jedes Thema, das man mit einem solch weltabgeschiedenen Ort in Verbindung bringen kann. Nur einige Bespiele sollen hier aufgelistet werden.

 

Es gibt die Dorfkneipe, die von einer ehemaligen Schönheit geführt wird, parallel dazu den "Club der Brüderlichkeit", in dem die Honoratioren sich treffen und politische Pläne schmieden. Bei jedem Dorffest entwickelt sich nach kurzer Zeit eine saftige Prügelei, bei der nicht nur Nasen zu Bruch gehen, man behilft sich auch mit Messern. Die Mädchen stehen dabei und kommentieren, überlegen, dass man diesen Helden durchaus heiraten könnte. Für die Männer zählt nur eine Frau mit "dickem Hintern" als Frau, sie darf sich nicht zu oft waschen, sie soll riechen wie "ein Tier", dann ist es richtig.

Die Bediensteten des Staates werden "scheel angesehen", das fängt schon beim Briefträger an. Er gilt als Spitzel, aber es fühlt sich sowieso jeder ausspioniert. Es gibt "Bombo", einen dicklichen Jungen, der als "Bildungsbürger" gilt und den jederzeit alle ohrfeigen. Es gibt "Täschchen", den Dorfdieb, aber es klaut sowieso jeder, vor allem die Ernte aus Nachbars Garten. Schmeckt einfach besser. Es gibt das "schöne Mädchen", das das Haus nicht verlassen darf, weil es einem Mann versprochen ist, auf den es leider unbestimmte Zeit warten muss. Nicht nur das Mädchen wartet auf ihn:

 

"Es rumorte heftig im Dorf. Alle warteten auf die Ankunft von einem. Einer, so hieß es, der Marcitero zu früherer Größe zurückführen würde. Ist besser so, sagte man auf Piazza. So kriegen wir wieder Ordnung. Er hat so viel für das Dorf getan .... Und manch anderen dagegen versetzte die Ankunft dieses mysteriösen Mächtigen in Angst und Schrecken."

 

Dieser Mann ist der ominöse "Rote". Er ist verschwunden, doch allein seinen Namen auszusprechen, bringt die Leute in Wallung. Man fürchtet ihn und man sehnt ihn herbei. Er kann kein normaler Mensch sein, etwas Übermenschliches  haftet ihm an.

 

In das Warten auf den starken Mann mischt sich der Ruf nach Unabhängigkeit. Man kennt diesen Ruf. Er wird zu einer Zauberformel zur Verbesserung der eigenen Welt. 

 

Ob es darum geht, einen eigenen Pfarrer oder endlich eine so schöne Schule zu bekommen, wie sie der größere Ort, zu dem Marcitero gehört, eine hat, oder ob der Plan, das Meer zu kriegen, realisiert wird, das alles geht nur mit Unabhängig-keit. Dafür muss entschieden gekämpft werden!

Dass das alles höchst widersprüchlich ist, fällt niemandem auf, man schreit halt mal so in die von illegaler Giftmüllent-sorgung völlig tote Gegend.

 

Nino Vetri, geboren 1064 in Palermo und dort auch noch lebend, mischt Dummheit, Sturheit, Größenwahn, Realitäts-ferne, Brutalität, Überlegenheitsgefühl, Frauen- Fremden- und eigentlich Allesfeindlichkeit, Korruption und alle schlechten Eigenschaften, die ein Mensch haben kann, zu einem toxischen Cocktail namens Populismus.

 

Er arbeitet mit Klischees, fügt sie jedoch so spitz zusammen, gibt noch "diese grünen Viecher ... Rufine" hinzu, dass der Roman zu einer immer wieder überraschenden Geschichte wird.

"Sie sind plötzlich aufgetaucht. Nachdem dort (in den Bergen) jahrelang alles Mögliche weggeworfen wurde."

 

Diese Rufine sind gelbgrüne, langustenartige Wesen, die ins Dorf hinabsteigen und sich festsetzen. Am feurigen Ende des Romans sind sie es, die bald wieder die Köpfe aus dem Boden strecken. 

Sie werden wohl die Geister der Vergangenheit/Ignoranz/

Unfähigkeit zur Einsicht etc. pp. sein, diese Tierchen, die überall herumkreuchen. Die immer überleben und ihre Invasion von neuem beginnen.

 

Der "Rote" kommt übrigens wieder zurück. Ich habe ihn mir anders vorgestellt, aber die Bewohner Marciteros erkennen ihn sofort. Er hält eine Rede, die in einer Aufforderung gipfelt: "Auch ihr müsst so sein: unnützes Zeug. Den Rest überlasst mir. Oder wollt ihr in Stücke gerissen enden?"

 

Man möchte lachen, doch es bleibt einem im Hals stecken...

 

 

 

 

 

 

 

 

Nino Vetri: Marcitero

Aus dem Italienischen von Andreas Rostek

edition.fotoTAPETA, 2024, 112 Seiten

(Originalausgabe 2021)