Wytske Versteeg - Die goldene Stunde
"Dieser Moment wird mir unvergess-lich bleiben. Alles, was nun passiert, muss ich mir genau einprägen, weil ich mich später nach diesem Moment zurücksehnen werde, nach diesem Ort und diesem Tag. Nie wieder wird es so sein wie in dieser goldenen Stunde in der Karam lacht, wie ich ihn schon ewig nicht mehr habe lachen hören, selbst die Steine erzittern unter unseren Stimmen, und da ist so viel Hoffnung."
Diese Passage stammt aus den Aufzeichnungen Ahmads,
die er nach seinem abschiedslosen Verschwinden Mari in einem Paket zukommen lässt. Für ein paar Monate waren Ahmad und Mari ein Paar, eines, bei dem die anderen sich fragten, worauf die Beziehung fußt. Ist es wirklich Liebe zwischen der Sozialarbeiterin, die Ahmads Mutter sein könnte, und dem jungen Geflüchteten?
Ahmad verschwand in der Nacht nach dem Brand des Zentrums für Geflüchtete, das in einer Kleingartenanlage lag. Es "hätte eigentlich ein sicherer Hafen für unsere Gäste sein sollen", es war ein Traum Maris, den sie nach ihrem "Lieblingskinderbuch" Momo benannt hatte.
Mit dem abgebrannten Haus löst sich auch das Projekt auf, für das Mari arbeitete, nichts hält sie mehr in der Stadt.
Sie liest zufällig im Internet von einem Vorhaben, das einen Wanderweg entlang von Felszeichnungen im Grenzgebiet zu dem Land, aus dem Ahmad geflüchtet war, einrichten möchte. Die ehemalige Archäologin beschließt dorthin zu reisen und die Felszeichnungen zu suchen.
Die Organisation Tourism for Life vermittelt ihr ein kleines Haus und einen Fahrer, Tarik, der sie begleitet.
Dass die Suche nach den Felszeichnungen ein Vorwand für ihre Sehnsucht und Suche nach Ahmad sind, behält sie für sich.
Mit Tarik betritt die dritte Figur, um die sich der Roman rankt, die Bühne. Er ist ein ehemaliger Soldat, mit fünfzehn verließ er sein Elternhaus im Glauben, nun beginne er ein eigenes Leben. Schnell begriff er, dass dies in der Armee noch weniger möglich war als in dem kleinen Dorf, in dem er hätte die Olivenhaine der Familie pflegen sollen. Stattdessen findet er sich im "Lager 33" wieder. Hier wird er Teil der Maschine-rie der Regierung, er quält, schlägt, foltert die Gefangenen, die ohne Urteil in diesem berüchtigten Lager sitzen.
Nach seiner Zeit bei der Armee und einer kurzen Beziehung zu Karima, die nicht genau weiß, was er im Lager gemacht hat, verlässt er das Land und lässt sich im Grenzgebiet nieder. Dort ist er der Fremde, dass er "nicht hierher gehört" lassen ihn die Menschen deutlich spüren.
Tarik ist fremd in Sarakina, Ahmad ist fremd in den Nieder-landen und Mari ist fremd in ihrem Leben.
Während Tariks Geschichte von einem Erzähler geschildert wird, spricht Mari direkt zu Ahmad, wie auch Ahmad seine Worte direkt an Mari richtet. Sie hat die Aufzeichnungen mitgenommen in den Nahen Osten, Tarik liest und übersetzt sie für Mari, dies wird zu einem täglichen Ritual.
Ahmad erzählt in seinen Aufzeichnungen von seinem Leben in seiner Heimatstadt. Vom Beginn der Proteste und der Antwort des Regimes darauf, dem Krieg, seiner Flucht mit einem Schlepper über das Mittelmeer. Seiner Zeit im Flücht-lingslager auf einer Insel, seiner Ankunft in den Nieder-landen und dass er schnell verstanden hat, dass er "nicht hierher gehört". Offen und ehrlich reflektiert er seine Erfahrungen mit der Bürokratie, aber auch mit den Helfern.
"Alle erwarten Dankbarkeit von dir und dass du dein Leben lang bezeugen würdest, hier sei es besser als dort."
"Vermutlich sollte ich dir dankbar sein, aber es gibt keine Dankbarkeit ohne Hass."
"Ich bin nicht die Geschichte, die du aus mir machst und anderen gegenüber im immer selben Wortlaut wiederholst, ich bin keine eine Puppe, die du verbiegen, verrenken, hinsetzen kannst, wie es dir gefällt, das Rot, das du siehst, ist eine blutende Wunde."
"Ich war ein Bittsteller, ein Bettler."
"Ihr seid so selbstverliebt, dass ihr uns für Barbaren haltet".
Ahmad hält all den Helfern, die es allesamt gut meinen, einen Spiegel vor. Wie selbstlos ist ihre Hilfe? Soll sie deren eigene Einsamkeit überdecken oder ist sie Abenteuerlust, die irgendwann nur noch eine Anekdote sein wird? Wann wird Hilfe übergriffig?
Als er endlich die Aufenthaltserlaubnis erhält, spürt er eher Erschöpfung als Erleichterung. Er geht.
"Ich bin es den Toten schuldig, die Zeit nicht einfach so verstreichen zu lassen, ewig auf Entscheidungen von anderen zu warten. Ich bin es ihnen schuldig, mehr zu tun, als bloß zu überleben. Ich habe beschlossen, nicht länger zu warten."
Mari spürt, dass ihre Zeit in Sarakina vorbei ist. Sie muss sich eingestehen, dass sie Ahmad nicht näherkam, im Gegenteil, er ist "in den Hintergrund getreten", sie verlor sogar das Interesse an Ahmads Worten. Tarik hingegen hat das Gefühl, "als wären sie nie für sie (Mari), sondern immer schon für ihn bestimmt gewesen."
Auf eine bestimmte Art sind die Geschichten der beiden Männer ineinander verschlugen, mehr als die Leben Maris und Ahmads.
Wytske Versteeg erschafft in ihrem psychologisch fein ausgefeilten Roman sehr lebendige Figuren. Er ist auf den ersten Blick eine Geschichte über Geflüchtete, Täter und Opfer. Diese Themen sind immer präsent, wie auch der Verlust der Heimat, das Fremd-Sein, die Frage nach Schuld und Verantwortung.
Dabei stellt sie diese Themen in einen größeren historischen Rahmen, fragt außerdem explizit nach Zugehörigkeit und danach, wie schwierig es ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Vor allem aber ist es ein großartiger, empathischer und poetischer Roman über die Hoffnung.
"Und da ist so viel Hoffnung" lautet der letzte Satz des Romans, der unter dem berühmten Motto Friedrich Hölderlins steht: "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch" - ein Gedanke, der, meiner Ansicht nach, alleine auf Hoffnung beruht.
Sie wachsen einem ans Herz, auch Tarik, der am Ende über sich selbst hinauswächst. Gerne würde ich wissen, wie die Lebensreise der Drei so unterschiedlichen Menschen, deren Schicksal doch ineinander verflochten ist, weitergeht....
Wytske Versteeg: Die goldene Stunde
Aus dem Niederländischen von Christine Burkhardt
Verlag Klaus Wagenbach, 2024, 240 Seiten
(Originalausgabe 2022)