Georg Veit - Drostes Schmerzen
Ein "Stoffloser", "Untoter", "Wieder-gänger", "Phantom", ein "Cicerone in dieser Halbwelt" ist der Erzähler, besser gesagt, der Einflüsterer dieses ungewöhnlichen Romans. Er ist eine Stimme, die ihre Geschichte dem Schriftsteller diktiert, immer wieder fordert "Schreiben Sie!".
Dieser Mann bezeichnet sich als "Textjäger und -sammler, Textesser, Textversessenen", als einen mit einem höheren Auftrag.
"Das Heiligtum einer Göttin, die hier Wohnung genommen hat und uns Unentdecktes und Unerwartetes schenken kann! Und wir, mein Herr, müssten ja alles der Nachwelt erhalten! Welch eine Aufgabe wurde uns übertragen! Könnten Sie nur sehen! Ich spüre ein Zittern wie ein Kind vor dem Öffnen des Weihnachtszimmers."
Seine Heilige ist die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff, 1797-1848. Sie fühlte sich schon jung zur Dichterin berufen, blieb unverheiratet, veröffentliche bereits zu Lebzeiten, dachte aber niemals daran, von der Schriftstellerei leben zu können. Sie stammt aus dem Münsterland, verbrachte dort den größten Teil ihres Lebens, zog später an den Bodensee, wo sie auf der Meersburg lebte und auch verstarb. Sie ist heute vor allem für ihre Novelle "Die Judenbuche" bekannt, außerdem für ihre Balladen und Lyrik, in der sich ihre starke Naturverbundenheit ausdrückt.
In den sieben Kapiteln des Romans, die sich genau datiert vom 31.12.1839 bis zum 21.08.1846 als Aufnahmen einzelner Tage ziehen, nähert sich der Stofflose also der Dichterin an. Er kann sich ungesehen und unbemerkt bewegen, schleicht sich dicht an sie, schaut ihr über die Schulter, lauscht ihren Atemzügen, folgt ihr in den Regen und Schnee, beobachtet sie bei Gesprächen, bei der Lektüre - auch und vor allem ihrer eigenen, nicht abgeschickten Briefe.
Er erlebt intensiv ihre inneren Vorgänge, beschreibt ihr Verhältnis zur Natur, zu ihrem Schützling Levin Schücking und ihrem Vater, der ihre Liebe zu Schauergeschichten entfachte.
Er beobachtet ihre Art zu dichten, erfährt ihre Gedanken über Kindheit, Literatur und Tod, sowie über ihre sogenannte "Jugendkatastrophe". Er schildert ein Autodafé ihrer Texte und stellt dabei die Frage: Wem gehört die Literatur? - "Alles, was ein Dichter schreibt, alles, gehört zur Literatur und gehört demnach der Literatur und allen."
Dies ist nicht die einzige Frage, die Georg Veit in seinem Roman über Annette von Droste-Hülshoff zur Literatur an sich stellt. Er spielt ein feines und raffiniertes Spiel mit der Zeit, die er einfach aushebelt: "Ich aber flaniere nicht nach Begriffen der Chronologie, sondern nach denen von Gedanken. Verstehen Sie? Ich bin frei, losgelöst von Ihrem zwanghaft-ehernen Nacheinander", sagt der Wiedergänger, der kein Zeitgenosse der Dichterin war, auch wenn man in ihm Züge von Personen finden kann, die sie umgaben.
Auch die Frage, wer ein Buch schreibt, wird durchdacht:
"Schreiben Sie genau das, was ich Ihnen diktiere! ... Bald werden Sie aufgeben, nach dem Ursprung dieser Stimme zu suchen. Denn sie kann ja nur in Ihrem Kopf sein. Schreiben Sie weiter zu, nur zu!"
Er überlegt, was Dichtung ist, wie sie entsteht. Hier die Antwort der Dichterin:
"Dichten sei zuerst einmal mühsames Durchstreichen. Verse seien nicht hübsche Gefühle, sondern langsame Erfahrungen und Wahrnehmungen." Schücking gibt sie den Rat:
"Du musst dir Zeit gönnen, mein kleines Pferdchen. Nicht solche modischen Windbeuteleien. Nicht der Welt nach dem Munde ... Die Welt muss auf andere Gedanken kommen. Alles ist ja anders, als es daherkömmt. Das ist mein Beruf: die Wehen, die Geburt der Poesie."
In den gesamten Roman verwebt Georg Veit Texte der Dichterin. In der Nachbemerkung, "Verortungen" überschrie-ben, ist zu lesen: "Die vom Ich-Erzähler vorgefundenen und vorgelesenen Texte bzw. Textstücke der Dichterin sind kursiv gesetzt. Die Kapitel und die zitierten oder verwendeten Droste-Texte sind örtlich und inhaltlich wie folgt zuzu-ordnen:" nun folgt die Aufzählung der Gedichte, den Kapiteln entsprechend. Kenner des Werkes Droste-Hülshoffs werden ihre Worte und Zeilen erkennen, doch auch wenn das nicht der Fall ist, entsteht ein genaues Bild der Dichterin - in dem zugleich eine ewige Unsicherheit mitschwingt: lässt sich die Vergangenheit in der Gegenwart, in "Erinnerungsschüben", in Spiegelbildern oder eben auch Texten rekonstruieren?
Jedes Kapitel ist eine Inszenierung Droste-Hülshoffs mit einem anderen Bühnenbild und anderen Akteuren. Über die Bühne fließt ein imaginärer Fluss:
"Die Welt sieht auf den ersten Blick aus wie Wirklichkeit, auf den zweiten wie Traum. Und auf den dritten sind´s flutende Ströme, in denen sich alles spiegelt."
Der Roman ist eine Spiegelung der Dichterin, die Stimme des Schriftstellers spiegelt die des Ich-Erzählers, und im Epilog wird der vorliegende Text als gefundene Datei einer verstorbenen Tante ausgegeben, die Annette von Droste-Hülshoff liebte...
Für die LeserInnen ist der Roman eine feine Lektüre, die in die Welt einer großen Dichterin entführt, die in ihrem Denken und Handeln lebendig wird. Und mit ihrer Person auch ihre Schriften, die hier vor einem eindrucksvollen Hintergrund erscheinen.
Der Stil ist dem des 19. Jahrhunderts nachempfunden, frei und wortschöpferisch angewandt:
"angedichtete Ahnungsnatur", "kleingewachsene Zeit", "mattschmal" oder "lerchenleise" sind nur ein paar Beispiele für die Sprache des erzählenden "Straßenhomers", der immer wieder vor einem ganz bestimmten Blauton erschrickt, der sich durch das ganze Buch zieht ...
Georg Veit: Drostes Schmerzen
Elsinor Verlag, 2022, 200 Seiten