Viktorija Tokarjewa -
Auch Miststücke können einem leidtun
Das Miststück in der titelgebenden Erzählung des neun Geschichten umfassenden Buches ist eine Ärztin.
Eine prächtige schwere Frau mit Löwenmähne und Samtstimme sagt einer Mutter, ihre Tochter sehe deshalb nichts mehr, weil sie einen Hirntumor habe und nicht etwa eine Entzündung des Sehnervs, wie der behandelnde Arzt behauptete. Diese Mutter ist die Ich-Erzählerin der Geschichte und sie ist verständlicherweise am Boden zerstört. Wie gut, dass sich sehr schnell herausstellt, dass die Ärztin nicht recht hatte, was Röntgenaufnahmen und die Wiederherstellung der Sehkraft beweisen.
Warum hat die Ärztin das gesagt? Aus Rache, aber wofür?
Der Ehemann der Erzählerin gibt die Antwort:
"Weil sie ein Miststück ist."
Zehn Jahre später treffen sie sich zufällig wieder. Die Ärztin Faina ist abgemagert, vom Schicksal gebeutelt und wirft sich der Erzählerin weinend an die Brust. Waren sie jemals Freundinnen? Nein, doch Faina wird nicht abgewiesen.
"Ich konnte Faina mitsamt ihren Schluchzern nicht einfach von mir stoßen. Ich stand da und ertrug es. Und ich ertrug es nicht einfach - ich fühlte mit ihr. Ich streichelte ihr über den Rücken, über die Schultern und die Flügelchen.
Miststücke sind auch Menschen. Auch sie können einem leidtun."
Mit dieser schönen menschlichen Geste ist der Tenor des ganzen Buches vorgegeben: es geht nicht darum, einen Schuldigen auszumachen oder jemandem eine Schuld zuzuschieben, es geht um Verständnis und Vergeben.
In sämtlichen Erzählungen gibt es jemanden, der mit seinem Verhalten einen anderen Menschen verletzt.
Aus Schwäche, Unachtsamkeit, Unvernunft, Getriebenheit, Dummheit oder Gier. Oder aus Liebe und dem Streben nach Ruhe und Unabhängigkeit oder der puren Lust am Leben.
Es gibt einen Drehbuchautor, der seine Ehefrau nicht verlassen möchte, aber auch auf seine Geliebte nicht verzichten will. Als diese einen Sohn zur Welt bringt, teilt er sein Leben auf zwischen Erst- und Zweitfamilie.
Niemand ist mit dieser Regelung glücklich, jede andere Regelung würde auch nicht alle glücklich machen.
Tokarjewa verurteilt diesen Mann nicht, sie versucht zu ergründen, was ihn zu seinem Handeln treibt. Und wo und wie die andere Seite seiner Persönlichkeit ist.
"In seinen Werken war Stasik zart und verletzlich. Aber im Leben war er grausam, hart und egozentrisch. Er verteidigte seine Unabhängigkeit. Seine Unabhängigkeit war für ihn unabdingbar, um schöpferisch zu sein. Er wollte sich etwas ausdenken, und er tat es. Nichts war dann für ihn interessanter, als sich an den Schreibtisch zu setzten und aus dem Nichts seine eigene Welt zu erschaffen.Wie der Herrgott: Aus dem Nichts erschuf er das Universum und die Menschen."
Dieser Stasik wird seine Frau Lida nicht verlassen, irgendetwas hält die beiden zusammen. Ob das Liebe ist oder die Ruhe, die sie ihm lässt, weiß er nicht.
Aber hier ist sein Platz. Und seine Zartheit ist in seinen Werken.
Ist ein Siebzigjähriger, der sich in eine zwanzig Jahre jüngere Frau verliebt und wegen ihr seine Ehefrau betrügt(?), ein Schuft, der sich lächerlich macht?
In der Erzählung "Der Schuss" ist es Viktor, der kurz nach der Goldenen Hochzeit seine demente Frau Anna nicht verlässt, sondern sich weiterhin um sie kümmert, sich aber noch einmal ganz und gar dem Leben zuwendet und mit Tanja ein großes Glück findet. Für kurze Zeit, dann fällt er tot um.
Auch dieses Motiv taucht mehrmals auf: der plötzliche Tod eines Protagonisten.
Vielleicht bedeutet dies, dass man nicht alles in der Hand hat, dass das Leben weniger dem eigenen Willen unterliegt,
als man glauben möchte?
Tokarjewa ist keine Predigerin der Gerechtigkeit - sie lässt ihren Figuren auf poetische Art eine große Freiheit, die sehr darauf achtet, alle einzuschließen und ihnen Verständnis entgegenzubringen. Dies gelingt ihr augenzwinkernd oder durch ein schlichtes Aussprechen eines "so ist es" und durch ein Festhalten an einer großen Ausgewogenheit.
Die Feder, mit der sie schreibt, lässt sich nicht als Florett
und schon gar nicht als Schwert benutzen. Sie beschreibt
sehr fein das Rätsel Mensch und "Die Seltsamkeiten der Liebe" (Titel der vorletzten Erzählung).
Mag der Leser ihre Figuren auch nicht immer verstehen, blass oder uninteressant bleiben sie nicht.
Viktorija Tokarjewa: Auch Miststücke können einem leidtun
Übersetzt von Angelika Schneider
Diogenes Verlag, 2016, 304 Seiten
(Originalausgabe 2015)