Olga Tokarczuk - Anna In -
Eine Reise zu den Katakomben der Welt
Die großartige Erzählerin Olga Tokarczuk belebt in ihrem Roman "Anna In" den Mythos der sumerischen Göttin der Liebe und des Krieges, Inanna, neu. Sie stieg in die Hölle, konnte aber durch Zahlung eines sehr hohen Preises wieder entkommen - ihre Geschichte ist viel weniger bekannt als die der Persephone, der Eurydike oder Istars, der assyrisch-babylonischen Göttin, die "nach dem Niedergang der sumerischen Zivilisation Inannas baby-lonische Verkörperung wird. ... Inannas Abstieg in die Hölle kann somit als die älteste, als die Ursprungsversion all dieser düsteren Geschichten gelten. In der Erzählung von Inanna lassen sich sämtliche später über die Welt verstreuen Motive finden." Die Geschichte von Anna Ins Reise in die Katakomben der Welt ist eine Besinnung auf eine archetypi-sche Göttin, auf den Urmythos der Auferstehung von den Toten.
Die Dichterin hält sich recht eng an den überlieferten Mythos, doch sie nimmt sich die Freiheit, eine Perspektive zu wählen, die besondere Aspekte betont.
Anna Ins Geschichte: sie steigt zu ihrer Schwester in die Unterwelt, begehrt deren Thron und wird dafür mit dem Tod bestraft. Mit Hilfe ihrer Botin Nina und der Göttin Ninmah, die Menschen formt und ihnen eine Eigenschaft gibt, die kein Gott besitzt, das Mitleid (ein Gefühl mit revolutionärem Potential), kann Ereskigal dazu bewogen werden, den Leib ihrer toten Schwester heraus zu geben. Doch sie verlangt dafür jemanden, der an Anna Ins Stelle ins Totenreich eintritt. Diese wählt ihren Ehemann, einen Gärtner. Zum ersten Mal fällt Schnee auf die Stadt, alles steht still. Da bittet die Schwester des Gärtners "Nimm mich!" Die Göttin der Unterwelt willigt ein, "ein halbes Jahr den Bruder, ein halbes Jahr die Schwester" in ihre Katakomben zu holen.
Anna In verlässt lebend die Hölle, mit einem Festmahl bei den Göttern wird ihre Auferstehung gefeiert. Bei diesem Fest schenken sie ihr auch ein "paar hübsche Sächelchen": alles, was es gibt.
Die Zeit, in der der Roman spielt, ist ein Immer, ein Raum jenseits des linearen Verlaufs, Vergangenheit und Zukunft fallen ineinander.
Die Götterväter wohnen in Wolkenkratzern, überwachen alles mit modernster Technik, doch sie sind uralt, schließlich haben sie die Welt erschaffen.
An den Rändern der Stadt endet ihre Macht, hier existieren Wesen, die außerhalb der göttlichen Ordnung stehen, am Leben erhalten von der weisen Ninmah.
"Eine Reise zu den Katakomben der Welt" ist nicht nur eine stilistisch glänzende, facettenreiche und mehrstimmige Nacherzählung eines tausende Jahre alten Mythos, der Roman ergründet das Wesen des Mythos. Dieses ist die Darstellung einer tieferen Struktur unter dem Erscheinungs-bild der Welt, die Darstellung einer Daseinsordnung, die zeit-, orts- und kulturunabhängig existiert.
Die eigensinnige Inanna, Anna In, die den Rufen ihrer Schwester nachgab und in die Unterwelt stieg, ist von dort zurückgekehrt. Damit brach sie den ewig geglaubten "binären Code" der Götterväter ("Tag und Nacht, hoch und tief, Weiß und Schwarz, Leben und Tod, links und rechts").
Sie hat die Angst vor dem Tod überwunden, sie ist die ultimative Rebellin. Olga Tokarczuk zeichnet in ihrem Reise-Roman mit viel Phantasie und viel Wissen ein modernes und faszinierendes Porträt dieser uralten Figur, die die Welt auf den Kopf gestellt hat.
Dass sie dabei verschiedene Erzähler zu Wort kommen lässt, die abwechselnd und gemeinsam erzählen, macht den Roman in seiner Vielstimmigkeit noch weiträumiger.
Es sprechen "Nina Subur, Ich-Jede", Anna Ins Botin, Dienerin und Freundin, "Neti, Ich-Jeder", Diener der düsteren "Land-lady" der Unterwelt, "Anna Gesti, Gestianna" Anna Ins Schwägerin und "Enhuduanna, Ich-Jede, die ich alles verzeichne, die ich ein Gedächtnis aus Lehm forme".
In dieser Erzählerin vereinen sich eine Göttin und die Autorin Enhuduanna, die den ersten "namentlich unterzeichneten Text in der Geschichte der menschlichen Zivilisation" verfasste. Jener Text sind drei Gedichte über Inanna, niedergeschrieben und erhalten auf Tontafeln.
Sie sind die Grundlagen für den Mythos "Inanna", den Roman "Anna In", für die Literatur an sich.
Ein großes Thema, ein gewaltiger Roman, eine Geschichte, die Grenzen sprengt!
Erwähnt sei noch das Vorwort der Autorin, das eine hilfreiche Einführung in die Welt der Mythen ist.
Für Olga Tokarczuk haben sie eine große Bedeutung:
"Dennoch brauchen wir Menschen von heute die alten Mythen genauso sehr wie die Menschen damals, und wir brauchen neue Interpretationen dieser Mythen - um die Welt wieder zu einem in sich verbundenen Ganzen zu machen."
Olga Tokarczuk: Anna In -
Eine Reise zu den Katakomben der Welt
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
Mit einem Vorwort der Autorin
Kampa Verlag, 2022, 192 Seiten
(Polnische Originalausgabe 2006)