Colm Toibin - Brooklyn
Vorab: man ignoriere den Aufkleber auf dem Cover, denn der Film wurde nach dem Roman gedreht.
Dieser spielt Anfang der 1950er Jahre in Südirland und in Brooklyn.
Im Mittelpunkt steht die junge Eilis Lacey, die nach dem Tod des Vaters zusammen mit ihrer Mutter und der älteren und bewunderten Schwester Rose unter einem Dach lebt.
Drei Brüder waren gezwungen nach England zu gehen, da sie in ihrer Heimat keine Chance hatten, eine Arbeit zu finden. Die schon dreißigjährige Rose arbeitet in einem Büro, verdient ganz gut, spielt Golf, und scheint ein unabhängiges Leben zu führen. Das denkt Eilis, bis sie begreift, dass Rose auf eine eigene Familie verzichtet hat, um sich um die Mutter zu kümmern und es damit Eilis zu ermöglichen, auf eigene Beine zu kommen.
Rose ist es, die Kontakt zu Father Flood in Brooklyn aufnimmt (auch er kommt aus Irland), um auszuloten, was Eilis dort für Möglichkeiten hätte. - Auf jeden Fall bessere als in ihrer Heimat.
Father Flood besorgt Eilis Papiere und eine Unterkunft bei einer respektablen Dame (selbstverständlich Irin) und eine Stelle als Verkäuferin in einem Modegeschäft.
Die Überfahrt wird gebucht, Eilis weiß gar nicht recht, wie ihr geschieht. Sie ist nicht gegen eine Auswanderung, sie weiß, dass sie in ihrer kleinen Stadt wenig Aussicht auf eine gute Arbeit hat. Ihre Ausbildung zur Buchhalterin wird sie hoffentlich in Amerika fortsetzen können - sie schickt sich drein und fügt sich in die Pläne der Schwester, so wie sie es immer getan hat.
Der zweite Teil des Romans beginnt mit der Ankunft in New York und dem Einzug bei Mrs. Kehoe. Bei ihr wohnen noch einige andere Mädchen, sie sind die Einkommensquelle und die ständige Sorge um Achtbarkeit der allein stehenden Frau.
Eilis nimmt ihre Arbeit auf und ist so beschäftigt mit ihrer neuen Umgebung und ihrem neuen Leben, dass sie anfangs kaum an ihre Familie denkt. Doch als sie die ersten Briefe erhält, trifft das Heimweh sie mit so einer Wucht, dass sie kaum weiß, wie sie aus diesem tiefen Loch wieder herausfinden soll.
"Hier war niemand. ... Hier war nichts ein Teil von ihr.
Alles war unecht, dachte sie, leer. ...Es gab nichts, was sie tun konnte. Es war, als sei sie eingesperrt. ... Es war wie die Hölle, dachte sie, weil ein Ende nicht abzusehen war, weder würde sich die Situation ändern noch ihre Gefühle. ...
Keiner von ihnen konnte ihr helfen. Sie hatte sie alle verloren. Sie würden von alldem nichts erfahren; sie würde nicht darüber schreiben. Und ebendeswegen, begriff sie, würden sie sie niemals so kennen, wie sie jetzt war. Vielleicht, dachte sie, hatten sie sie überhaupt nie gekannt, keiner von ihnen, denn sonst hätte ihnen klar sein müssen, was das hier für sie bedeutete."
Auf fast 15 Seiten erlebt der Leser Eilis´ Heimweh in einer Intensität mit, die frappierend ist. Der entscheidende Satz "würden sie niemals so kennen, wie sie jetzt war" fasst zusammen, was das Verlassen der Heimat und der Familie bedeutet: man wird für die Zuhause Gebliebenen zum Fremden. Und bleibt es zu einem Teil für immer, weil diese Periode im Leben des Ausgewanderten den Lieben immer unbekannt bleiben wird.
Um ihr aus dem Tief herauszuhelfen, besorgt Father Flood ihr einen Platz am Brooklyn College, dort macht sie an vier Abenden in der Woche einen Kurs in Buchhaltung.
Das beschäftigt Eilis und gibt ihr eine Perspektive, denn mit ihrer Arbeit als Verkäuferin ist sie völlig unterfordert.
Der dritte Teil ist jener, in dem Eilis Fuß fasst. Sie hilft Father Flood in der Gemeindearbeit, sie freundet sich mit den Mädchen bei Mrs. Kehoe an und sie lernt bei einem Tanzabend Tony kennen. Er ist in Amerika geboren, seine Eltern sind italienische Einwanderer. Dass er auf einen irischen Tanzabend war, ist etwas besonderes: die oft laute Art seiner Landsleute gefällt ihm nicht. Der zwar lustige, aber auch nachdenkliche junge Mann macht Eilis den Hof.
Sie mag ihn auch deshalb, weil er nicht aufdringlich ist
Sie verliebt sich keineswegs Hals über Kopf, die Vertrautheit wächst eher langsam und entwickelt sich aus einer Freundschaft heraus. Ihrer Mutter erzählt sie nichts von ihm, nur Rose schreibt sie vorsichtig von ihren Gefühlen.
Dass es für Tony eine ausgemachte Sache zu sein schein,
dass sie nach einer gewissen Zeit heiraten werden, gefällt Eilis allerdings nicht. Sie träumt eher von einer guten und anspruchsvollen Arbeit als von Ehe und Kindern.
Eines wird langsam klar: Eilis sieht ihre Zukunft in Amerika. Daran, wieder nach Hause zurückzukehren, denkt sie in keinem Moment. Bis eine Nachricht ihrer Mutter sie erreicht, die sie zur schnellen Heimreise zwingt.
Vor der Abfahrt heiraten sie und Tony, fast heimlich, jedenfalls ohne Feier. Er hatte sie darum gebeten, denn die Angst, sie zu verlieren, weil sie nicht zurückkommen könnte, war übermächtig. Eilis willigt ein, weil sie Tony liebt und weil sie ihn nicht verletzen will.
Der vierte und letzte Teil spielt in ihrer Heimatstadt.
Die Mutter empfängt Eilis mit großer Freude und ohne das geringste Interesse an ihrem Leben in den letzten beiden Jahren. Sie ignoriert die Möglichkeit, dass Eilis nach einem vierwöchigen Urlaub nach Brooklyn zurückkehren wird, vollständig.
Eilis lebt sich auch schnell und gut wieder ein. Sie geht mit ihren Freundinnen aus, überbrückt einen Engpass in dem Büro, in dem Rose arbeitete und freut sich an dieser Arbeit, sie macht Ausflüge und kommt Jim Farrell sehr nahe.
Keiner weiß von Tony, nicht ein Wort hat sie irgendjemandem von ihm erzählt.
"Jetzt wünschte sie, sie hätte ihn nicht geheiratet, nicht weil sie ihn nicht geliebt oder nicht vorgehabt hätte, zu ihm zurückzukehren, sondern weil ihrer Mutter und ihren Freunden nichts davon zu erzählen jeden einzelnen Tag,
den sie in Amerika verbracht hatte, zu einer Art Tagtraum machte, zu etwas, was sie mit der Zeit, die sie zu Haus verbrachte, nicht in Einklang bringen konnte. Es verschaffte ihr das seltsame Gefühl, zwei verschiedene Personen zu sein - die eine, dies ich in Brooklyn durch zwei kalte Winter und viele schwere Tage gekämpft und sich dort verliebt hatte,
und die andere, die ihrer Mutter Tochter war, die Eilis,
die jedermann kannte oder zu kennen meinte.
Die Darstellung dieser Zerrissenheit ist das, was diesen Roman auszeichnet. Er führt klar vor Augen - weit über das Einzelschicksal der jungen Frau hinaus - was es bedeutet, die Heimat zu verlassen. Und auch, in diese zurückzukehren als eine andere Person. Sich in die alten Muster zu begeben und sich darin auch wohlzufühlen und nicht von "fremden Menschen, fremden Akzenten, fremden Straßen" umgeben zu sein.
In der Heimat erscheint ihr Tony wie ein Traum oder Schatten. Und doch kann sie nicht so tun, als wäre ein einfaches Eintauchen in ihr altes Leben möglich.Sie ist eine andere geworden und es fragt sich, wie lange sie sich in der Kleinstadt geborgen und wann beengt fühlen würde.
Am Ende fällt eine klare Entscheidung.
Gezwungenermaßen, denn ein sowohl als auch gibt es nicht.
Obwohl das Buch nicht in der Ich-Form erzählt ist, schafft Toibin es durch seinen Stil den Leser die Welt durch Eilis´ Augen sehen zu lassen. Sie ist eine vielfältige Persönlichkeit, die mutig, humorvoll, zurückhaltend und zugleich durchsetzungsstark ist und ängstlich und verzweifelt sein kann. Auch alle anderen Personen sind klar und individuell gezeichnet und beleben die Geschichte mit ihrer Gegenwart.
Diese Geschichte von Exil und Fremdsein, von Selbstfindung und der Frage nach dem, was richtig ist, ist sehr lebendig und beeindruckend - und erstaunlich spannend.
Colm Toibin: Brooklyn
Übersetzt von Giovanni und Ditte Bandini
Hanser Verlag, 2010
dtv, 2016, 304 Seiten
(Originalausgabe 2009)