Georgi Tenev - Christo und die freie Liebe

Kann die Liebe frei sein? Ist sie es, wenn sie von der Verantwortung getrennt wird? Wenn sie allein auf dem Körper basiert? Muss man die Liebe ernst nehmen, oder existiert sie nur im Spiel? Ist der Alte Mensch einer, der nur der Sicherheit wegen liebt, der Neue Mensch hingegen einer, der dieses Netz nicht mehr braucht? - "Das ist der Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen Menschen - die Angst."

 

Um Alte und Neue Menschen geht es in diesem Roman, dessen Ich-Erzähler ein Journalist ist, der von seinem bulgarischen TV-Sender nach New York geschickt wird.

Er soll dort eine Reportage drehen und ein Interview mit Christo anlässlich der Verhüllung der neuen Zwillingstürme machen. Diese fand exakt zehn Jahre nach den Anschlägen statt, am 11. September 2011 also. 

 

Der Mittdreißiger wurde von dem Künstlerpaar ganz explizit angefordert. Er fragt sich: "Christo und Pilar. Warum haben sie sich gerade für mich entschieden?"

Diese Frage beantwortet er so: "Ich vermute, dass auch Christo zu denen gehört, die sich an mir rächen wollen. Deshalb hat er mich nach New York eingeladen ..."

 

Wofür sollte sich Christo an dem Reporter rächen wollen?

 

Es gäbe jede Menge anderer Männer, die das vielleicht gerne tun würden, denn der Erzähler ist dafür bekannt, dass er Freunden die Frauen ausspannt. Es kann sich also nur um eine Rache des Schicksals handeln. Und hängt womöglich damit zusammen, dass er als Junge nicht bereit war, einem Mädchen, mit dem er zufällig in einem Bus saß, etwas von seinen Sachen zu geben. Obwohl die beiden es sogar schafften, noch während der Busfahrt zu heiraten und neugierig ihre Körper zu untersuchen. Womöglich war dieses Mädchen Heliana, eine Phantomfrau, die der Erzähler sein Leben lang sucht.

Auch in New York, wo ihm Christo und Pilar, die seit Ende der 1950er Jahre ein Paar sind, die lebenslange Liebe vor Augen führen.

 

Der Erzähler blickt zurück auf viele Liebschaften, auf viele Treuebrüche. Er sucht die Liebe und will sich zugleich von ihr befreien. Er zieht Freundschaften vor, wechselt aber auch alle paar Jahre seinen Freundeskreis komplett aus.

 

Das erste der vier Kapitel widmet sich "Meine(n) Freude(n)".

Sie feiern zusammen am Strand, betrinken sich heftig.

Es gibt ein Ruderboot, ein Wettschwimmen, einen gewalt-tätigen Angriff und ein Ende im Krankenhaus. Was von diesem Ereignis Realität und was aus dem weiten Feld der Träume stammt, ist nicht auszumachen, außerdem wird der Abend über viele Teilabschnitte hin erzählt.

 

Dies ist ein Charakteristikum des Romans, der eine Erzählung in Schleifen ist. Die Themen Freundschaft, Liebe, Treue, Verrat, Schicksal, Vergangenheit, Freiheit, ganz ausführlich und immer wieder von einer anderen Seite beleuchtet die Frage nach dem Alten und Neuen Menschen, greifen ineinander, gehen ineinander über. Und entfalten sich so über die Teile "Trugbild", "Christo" und "Der Neue Mensch" innerhalb der Geschichte über Christo, die Kunst und das Leben des Erzählers hinweg zu einem abwechs-lungsreichen Roman.

 

"Ich habe erkannt, wovon sich der Neue Mensch befreien muss: nicht bloß von seiner Vergangenheit, sondern auch von der nicht geschehenen Vergangenheit. Der Neue Mensch hat keine Träume und sucht nicht nach Wegen, die er einmal verloren hat. Er nimmt die Welt genau so an, wie sie sich ihm zeigt."

 

Diese Aussage zeigt, dass der Erzähler noch in der Theorie ausharrt, noch nicht weiß, wie das in der Realität mit Alt und Neu nun ist. 

Und dann fährt er mit Christo im Aufzug des verhüllten Turmes und erhält einen schlichten Rat. Und schlägt ein Rad zurück in die Vergangenheit, die plötzlich Gegenwart wird,

in einer Variante natürlich...

 

Der Roman ist ein fantasievolles Spiel, bei dem Wirklichkeit und Vorstellung ineinander verschwimmen. Der 1969 in Sofia geborene Autor spielt gekonnt mit Worten, die mal wie dicke schwere Tropfen auf das Papier fallen, dann wieder feder-leicht darüber schweben. 

Er denkt über die vielleicht letzte Utopie nach: die Liebe.

Und wie es sich mit dieser, in einem Atemzug mit Christo und dem Wort "frei" genannt, verhält. Denn eigentlich müsste der Roman ja "Ich und die freie Liebe" heißen, denn Christo und Pilar-Jeanne-Claude stehen für eine ganz andere Art der Liebe. Aber genau das erzeugt das Spannungsfeld, das dieser Roman vermisst.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Georgi Tenev: Christo und die freie Liebe

Aus dem Bulgarischen von Elvira Bormann-Nassonowa

danube books, 2023, 112 Seiten