Arno Tauriinen - Goldgefasste Finsternis
Illustriert von Max P. Häring
Um nichts weniger als die ganze Welt geht es in diesem Roman, der den Untertitel "Ein Luftschloss in Prosa" trägt. Er geht zurück in eine Zeit, bevor die Zeit begann, gräbt sich durch Erdschichten, baut Häuser, die weit in die Atmosphäre hineinreichen. Er kreist vor allem um einen Protagonisten, Luciver ist sein Name. Eng mit ihm verbunden sein Vater namens Gott, die beiden haben ein ewiges Hühnchen miteinander zu rupfen. Zwischen und um dieses uneinige Gespann taumeln, schweben, heulen, frohlocken, reisen und fliehen das Halbwesen Kiankuli, Assistent Lucivers, diverse Psycho-analytiker, Dichter, dutzende Mozarti, Theatermacher und viele viele andere.
DER Theatermacher ist Lucius Onagre, dessen Hirn das gewaltige Werk "Basilisk" entspringt. Ein Theaterschiff, das im Lauf der Jahre so groß wird wie ein ganzes Land, in dem sich eine eigene Wirklichkeit entwickelt.
"Alles wurde zur Bühne. .... Aber wer waren die Zuschauer, wenn doch alle spielten, wenn doch alles Bühne war? Oder war es am Ende doch kein Spiel? Jahre schon setzte sich das Stück fort. Wann hatte alles begonnen, wer sollte es beenden? Durfte man es beenden?"
Das "Luftschloss in Prosa" ist ein barocker Spaß, ein Stück, das auf mehreren Bühnen gleichzeitig gespielt wird.
Es ist eine "Theatermaschine", die das große Welttheater nachspielt, vor Augen führt, wie ununterscheidbar Fiktion und das, was für Realität gehalten wird, ineinander greifen.
Eines Tages versinkt das Werk des Lucius Onagre, er selbst verschwindet spurlos. Jahrtausende verstreichen, da taucht ein Mann auf, niemand weiß, ob es Onagre selbst oder eine Nachbildung ist, er führt einem Rattenfänger gleich eine Menge Menschen ans Meer. Es ist ein Abgrund, der Magier löst sich abermals auf, wird zum Sturm, der die Menschen "hinausweht an das Ende dieser Geschichte...".
Sie stürzen auf die Erde, erblicken eine große Stadt. Ganz unverkennbar handelt es sich um Wien, im Roman W. genannt. Es ist das "neue W." eine perfekte Nachbildung des alten W., aber wir befinden uns sowieso in einer angehaltenen Zeit. Die Uhren sind bei 10:11 stehen geblieben.
In dieser morbiden, zur Schwermut neigenden, gleichzeitig nach Unterhaltung und Ablenkung gierenden Stadt sitzen Gott und Luciver, der Erstgeborene und Ungeliebte, endlich an einem Tisch, im Kaffeehaus natürlich. Ein klassischer Vater-Sohn-Konflikt wird hier entblättert:
"Eine Wut hat Lucius nun. Was muß er denn noch tun, damit der Alte ihm einmal, ein einziges Mal nur ein Lob ausspricht oder, wenn es schon kein Lob ist, zumindest die Andeutung einer Anerkennung. Etwas kreieren kann schließlich nicht nur der Alte-!"
Er kann kreieren und zerstören, denn Lucius hat den Koffer mit einem Kippschalter darin, das "An" und "Aus" entscheidet über Leben und Tod.
Ein paar Menschen hat er mit dem ewigen Leben bestraft, ja bestraft, denn es ist kein Geschenk, das machen sie alle deutlich.
Die Gewöhnlichen, die Beamten, Professoren, Archivare, Henker, Speichellecker, Kleriker und so weiter, haben die Hoffnung, dass irgendwann der letzte Vorhang fällt.
Sie alle sind trefflich karikaturistisch porträtiert. Man sieht, hört, riecht sie.
All jene, die W. bevölkern, sind "Prototypen für alle weiteren, die er in sein Gegenmodell zum Garten des Vaters führen würde. ... W. war seine Stadt, ... W. würde immer die schönste und schrecklichste seiner Kreationen sein. ... Ein Stein gewordener Ausdruck des Nichtgöttlichen."
Die Stadt spielt eine eigene Rolle in diesem Theater, sie ist Bühne und Akteurin, Verführerin und Vernichterin.
Auch "eine andere Zeit" erlebt sie, die "schwarzen Uniformen" und "schwarzen Worte" - diese ganze aus der Luft gegriffene Geschichte ist nicht weltfremd, sie hat Luftwurzeln in der Realität, die hier "goldgefasst" schillert.
Der letzte Coup des Luciver: ein "Haus aus Rauch. Ein Gebäude, groß genug, um die ganze Menschheit darin zu verstecken." Verstecken vor wem? Vor dem "MEISTER", auf den alle warten, mit Angst und Sehnsucht? Vor dem Blitz, der alles vernichten wird? Die geträumte Stadt in Schutt und Asche legt? Damit sie wie ein Phönix wieder auferstehen kann? Wer weiß das schon.
Dieser unglaubliche Roman schillert und funkelt, er ist ein ganz großes Sprachkunstwerk.
Er erweckt den Eindruck, als hätten sich alle großen Dichter von Shakespeare bis Arno Schmidt an einen Kaffeehaustisch gesetzt und nicht Würfel gespielt, sondern Zettel beschrieben und sich diese gegenseitig vorgelesen.
Aus "vielen hunderten Notizen, Zetteln und Typoskripten" hat der Verlag das "vorliegende Buch extrahiert", der Autor sieht es als "Kernstück" eines noch zu schreibenden Romans über die "Stadt W." In Wien lebt der 1967 geborene Autor, von dem nicht viel mehr bekannt ist, als dass er Raubtierzähne sammelt und Kakteen liebt.
Durchgängig und sehr reichhaltig illustriert wurde das Buch von Max P. Häring. Landschaften, Gebäude, Gesichter, Szenerien, die teilweise zwischen Unterwasserwelt und Weltall changieren, Konkretes und Geträumtes, assoziativ und frei aber nicht abstrakt im herkömmlichen Sinne, sind die Vignetten, Bilder, Gemälde. Er erschafft schwebende Räume jenseits der gewohnten Perspektive, zieht die Leser:innen noch tiefer hinein in die Geschichte, über die man auf jeder einzelnen Seite immer wieder nur staunen und sich wundern kann.
Ein wundervolles Buch, hier ist dieses Adjektiv ganz und gar im Wortsinn zu lesen, denn nichts in diesem Zettel-Traum-Roman ist so, wie man es gewohnt ist.
Arno Tauriinen: Goldgefasste Finsternis
Illustriert von Max P. Häring
Edition Hibana, 2017, 292 Seiten
Bitte schauen Sie unbedingt auf der Website des Verlags vorbei. Sie werden sich wundern!
Hier noch ein paar Kostproben der Illustrationen: