Antal Szerb - Reise im Mondlicht
Antal Szerb wird 1901 in Budapest geboren. Er ist einer der wichtigsten und meistgelesenen ungarischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.
Der Autor von großen Romanen verfasste außerdem zwei Geschichten der Literatur (Ungarische Literatur, 1934, sie wird bis heute gelesen und in Schulen verwendet, außerdem die Literaturgeschichte der Welt, 1941).
Die Reise im Mondlicht erschien 1937 und war damit ein sehr aktuelles Buch, denn die Geschichte beginnt zur Zeit des Ersten Weltkrieges und endet in den dreißiger Jahren.
Sie steht ganz im Geist der Zwanziger Jahre, dieser vielgesichtigen Zeit zwischen den Kriegen.
Der Protagonist Mihaly hat in etwa das Alter seines Schöpfers, außerdem teilt er mit diesem die Herkunft aus einer Kaufmannsfamilie.
Nicht der Krieg bildet den Hintergrund des Romans, wohl aber die Ansprüche der Familie.
Mihály ist ein unsteter junger Mann, der mit allen Mitteln versucht, der bürgerlichen Welt zu entkommen.
Nicht weil er sie verachtet, sondern weil sie ihn langweilt.
Er beugt sich jedoch trotz seiner inneren Widerstände und tritt in die Firma des Vaters mit ein. Er arbeitet.
Mit Mitte dreißig heiratet er sogar - diesen Schritt geht er ganz bewusst, um zu demonstrieren, dass er in der Lage ist, ein bürgerliches Leben zu führen.
Seine Frau Erzsi hat ihn aus dem entgegengesetzten Grund ausgewählt: sie hat ihren ersten Ehemann Zoltán Pataki verlassen, weil sie das Leben als Luxusehefrau satt hatte und sich von Mihály ein Leben abseits der gesellschaftlichen Normen erhofft.
Die erotische Anziehung ist am Anfang groß, doch sie reicht nicht aus, um die Sehnsucht, die weiterhin in Mihály brennt, zu verdrängen.
In einem langen Gespräch, das Mihály und Erzsi auf ihrer Hochzeitsreise durch Italien führen (eigentlich ist es eher ein Monolog), erzählt Mihály von seiner Jugend in Budapest.
Vor allem von seiner tiefen Freundschaft mit dem Geschwisterpaar Éva und Tamás Ulpius. Diese wuchsen
ohne Mutter auf, der Vater, ein Archäologe, war ein böser Griesgram, der Großvater ein großartiger Geschichten-erzähler. Die Wohnung war voller alter Gegenstände, die Vergangenheit sichtbar und greifbar und die Geschwister sehr spielfreudig. Tamás besuchte die Schule mit geringem Interesse, Éva lernte zu Haus was ihr gerade gefiel, die wahre Leidenschaft der beiden war jedoch das Theater.
Um hingehen zu können beging Éva kleine Betrügereien und Diebstähle und täglich wurde im Hause Ulpius Theater gespielt. Immer die ganz große Dramen, in denen es um Leben und Tod ging - und der Tod am Ende siegte.
Die Todessehnsucht der jungen Leute war eminent.
In ihr versteckte sich die Liebe zu Éva, die mehreren jungen Herren gemein war: neben Tamás, der seine Schwester abgöttisch liebte, wurde sie auch von Mihály und den Schulkameraden Ervin und Janós Szepetneki geliebt.
Die jungen Leute trafen sich in der Wohnung der Ulpius und lebten dort mit diesen ein Leben fernab und außerhalb der bürgerlichen Normen.
Die Ekstase bestand darin, "dass wir wegen oder für Éva starben."
Dieser Jugendzeit gehört im Grunde Mihálys Leben. Er sagt, er litte an Nostalgie, er findet mit dem Herzen nicht in das aktuelle Leben hinein. Er hört niemals auf, Éva zu suchen oder um Tamás zu trauern, der sich noch jung das Leben nahm.
In Ravenna - Mihály und Erzsi sitzen während ihrer Hochzeitsreise in einem Café - tritt plötzlich Szepetneki an ihren Tisch. Er ist unfreundlich zu Erzsi, es ist nicht klar, was er überhaupt will.
Er ist die Verknüpfung mit der Vergangenheit, die Begegnung löst die Erzählung Mihálys aus. Und auch den Gedanken, Erzsi zu verlassen.
Auf der Fahrt von Florenz nach Rom steigt Mihály kurz aus dem Zug aus, um etwas zu besorgen. Als der Zug weiterfährt, sucht er Erzsi und muss feststellen, dass er im falschen Zug sitzt. Er fährt nach Perugia, ohne bewusste Absicht hat er Erzsi verlassen. Er unternimmt nicht den Versuch, sie in Rom wiederzufinden, er bleibt (vorerst) in Umbrien und deutet den verwechselten Zug als ein Zeichen, dass er und Erzsi besser getrennte Wege gehen sollten.
Große innere Unruhe, Erschöpfung und Fieber bringen ihn ins Krankenhaus nach Foligno. Er versteht sich gut mit dem dortigen Arzt, der ihm diverse Geschichten aus der Gegend erzählt. Er berichtet auch von einer Fremden, die in Gubbio lebte, an einer seltsamen Krankheit litt - sie wurde von einem Toten besucht - und davon, dass Pater Severinus sie geheilt hätte.
Schnell wird Mihály klar: Éva lebte dort, aus Ervin ist der Pater Severinus geworden, der im Kloster Sant´Ubaldo lebt. Nachdem Éva sich von ihm abgewandt hatte, war er ins Kloster gegangen. Nun hat er die Aura eines Heiligen,
Mihály sucht ihn auf und ist tief beeindruckt.
Ervin/Severinus rät ihm, nach Rom zu gehen. Dort warte auf jeden Menschen sein Schicksal.
Mihály nimmt diesen Rat an. Er fährt nach Rom, lässt sich treiben. Trifft einen weiteren alten Bekannten wieder, der mittlerweile ein berühmter Religionswissenschaftler ist und Mihály zur Wissenschaft zurückführen möchte.
Es folgen sehr interessante Passagen und Gedanken zum Themenkomplex Tod und Sterben, Todessehnsucht und Todeskult, Religion im allgemeinen und die Religions-wissenschaft im besonderen.
Mihály kann sich nicht durchringen, wieder ernsthaft zu forschen. Er versinkt immer weiter in seiner Nostalgie,
das Geld wird knapp, sein Gewissen dem Vater gegenüber immer schlechter.
Von Szepetneki, der wie ein schwarzer Kobold durch den ganzen Roman trollt, lässt er sich zu einem Geschäft überreden, das Mihály anwidert, auf das er aber trotzdem eingeht.
Ein Besuch Erzsis - sie lebt ein Bohèmeleben in Paris, das sie auch nicht glücklich macht - bringt keine Erleichterung.
Mihály ist bereit zu sterben. Er hat Éva aus der Ferne gesehen, er sucht sie vergeblich, eines Tages steht sie jedoch plötzlich bei ihm in seinem schäbigen Hotelzimmer.
Um Abschied zu nehmen. Er bittet sie noch um einen finalen Dienst, sie willigt ein.
Da kommt es ganz unterwartet zu einer Wendung:
die italienische Lebendigkeit, das fröhliche Chaos, die gedankenlose Art, den Tag zu meistern, macht alle seine Pläne zunichte, bzw zeigt ihm, wie absurd sie waren.
Aus der Hochzeitsreise ist eine Reise der Selbstfindung geworden. Doch ob Mihály die Geister der Vergangenheit wirklich abgeschüttelt hat, oder ob sie sich nur für eine Weile zurückgezogen haben, bleibt ungewiss.
Sein Vater holt ihn in Rom ab. Sie fahren mit dem Zug nach Budapest, zurück in die Stadt seiner Jugend.
"Mihály hörte ihm zu. Er war unterwegs nach Hause.
Wieder würde er versuchen, was ihm fünfzehn Jahre lang nicht gelungen war: sich anzupassen. Jetzt würde es vielleicht gelingen. Das war sein Schicksal. Er ergab sich darein. Die Tatsachen waren stärker. Man entkam ihnen nicht. Sie sind immer stärker, die Väter, die Zoltáns, die Firmen, die Menschen.
Sein Vater schlief ein, und er starrte zum Fenster hinaus, wobei er versuchte, im Mondlicht die Umrisse der toskanischen Hügel auszumachen. Man musste am Leben bleiben. Auch er würde leben, wie die Ratten in den Ruinen. Aber immerhin leben. Und solange man lebt, weiß man nicht, was noch geschehen kann."
So endet der Roman, wunderbar offen.
Spricht Szerb von den allgemeinen Mächten, wechselt er
ins unpersönliche "man" - aber auch diese Mächte sind für Überraschungen gut.
Der Roman lässt sich unter vielen Blickwinkeln lesen.
Das Flair Italiens begeistert ebenso wie die Kapitel, die in Paris spielen oder jene, die die Budapester Atmosphäre einfangen. Neben den Hauptfiguren gibt es einige plastisch gezeichnete Nebenfiguren, wie z.B. die junge Vannina, die so viel von Menschen versteht. Oder den Perser, der einem Tiger gleicht. Die Themen Tod, Religion und auch Geld (als Kapital und als Fetisch) werden immer wieder aufgegriffen.
Und außerdem ist der suchende Mihály ein sehr sympathischer Mensch, den man gerne auf seinen verschlungenen Wegen begleitet.
Müsste ich dem Roman eine Farbe zuordnen, fiele meine Wahl eindeutig auf Sepia, denn der ganze Roman hat den Zauber eines sanft getönten Bildes, gezeichnet mit feinem Pinsel. Die Sprache ist leichtfüßig, elegant.
Jede Figur des Romans ist eine Liebende. Die eine liebt das Spiel oder die Liebe selbst, die andere den Tod oder die Sehnsucht danach, eine andere liebt das Geld oder die Wissenschaft, die Vergangenheit oder die Inszenierung -
es gibt keine seichten oder unbestimmten Charaktere in diesem Roman.
Antal Szerb: Reise im Mondlicht
Übersetzt von Christina Viragh
dtv, 2007, 272 Seiten
(Deutsche Erstausgabe 1974, Ungarisches Original 1937)