Franco Supino - Spurlos in Neapel
"Seine Biografie in einem fremden Leben zu suchen, ist kein harmloses Spiel. ... Wer erzählt, wer wirklich erzählt, kann nur über sich erzählen."
Der Roman erzählt die Geschichte eines Mannes, der als Kind italieni-scher Eltern in der Schweiz aufwuchs, Jahre nach dem Tod des Vaters erstmals wieder in "unser Heimatdorf" fuhr, und sich fragt, was aus ihm geworden wäre, wäre er in Neapel aufgewachsen - hätte er dann die Camorra genauso akzeptiert, wie viele, die dort leben? Wäre er hineingewachsen in das "System"?
In die Überlegungen zur eigenen Biografie des namenlosen Ich-Erzählers webt der Autor dessen Suche nach einem Mann, der in der Camorra weit aufstieg und dann plötzlich verschwand. Es handelt sich um Antonio Esposito, geboren 1990, ein schwarzes Migrantenkind, das entführt oder gekauft wurde, um einer Frau übergeben zu werden, die gerade ihr eigenes Kind verloren hatte.
Es ist ein höchst vielfältiger Roman, der in weiten Teilen einem Wimmelbild gleicht. Der Erzähler fährt wann immer es ihm möglich ist nach Neapel. Er begründet diese Reisen seiner Frau gegenüber mit Besuchen bei einem Schneider, der ihm Maßanzüge näht. In Wirklichkeit ist er magisch angezogen von dieser Stadt und ihrer Umgebung.
Nachdem er sich in den Kopf gesetzt hat, Antonios Geschich-te aufzudecken, sucht er nach Leuten, die ihm etwas über ihn erzählen können. Er findet erstaunlich viele, die ihn kannten. Schulkameraden, Mitglieder seiner Gang, Antonios Ex-Verlobte, deren Mutter, außerdem Rosetta, eine der beiden Mütter Antonios, die auch die Verwalterin der Kasse der Espositos war. Er lernt die freundliche Antonella kennen, die ihm weitere Kontakte vermittelt, er spricht mit einem Investigativ-Journalisten, einem Regisseur, der Filme über die Camorra macht. Er besucht Kooperativen, die versuchen, ohne die Mafia zu wirtschaften. Er verfolgt Antonios Spuren in eine deutsche Eisdiele, er rollt das "Mozzarella-Gate" noch einmal auf - er folgt jeder noch so kleinen Spur und zeichnet dabei ein Bild Neapels, sowie seiner (Sozial)Geschichte und auch seiner Mentalität.
Es tauchen viele Personen auf, sie reihen sich aneinander wie Perlen, stehen als Figuren unverbunden nebeneinander, bieten dem Autor aber die Möglichkeit, sehr viele Eindrücke zu schildern, die ein buntes und lebendiges Bild der Stadt und ihrer Menschen ergeben.
Dabei erkundet er die Vorgehensweise und Art der Camorra, Geschäfte zu machen, nicht nur den italienischen Staat auszutricksen, ihren Ehrenkodex zu pflegen, die Rivalitäten der Clans etc.
Antonios Spuren führen auch nach Nigeria und auf ein Flüchtlingsschiff, Gelegenheit, das Thema Migration in vielen Facetten zu beleuchten.
Zu den eindrücklichsten Teilen des Romans gehören die Teile, in denen der Erzähler über sich selbst spricht.
"Ich schämte mich meine ganze Kindheit lang für meine Herkunft, und das bedeutete: für meine Eltern. Immer wieder wurde ich an meine Minderwertigkeit erinnert, vielleicht sogar, ohne dass diejenigen, die mir dieses Gefühl gaben, es gewollt hatten. Man grenzt aus, ohne ein Bewusstsein dafür, dass man es tut. Das ist Rassismus. Offengezeigter Rassismus ist Fremdenhass."
Und doch trat er als Dreizehnjähriger in einen Hungerstreik, um seine Eltern davon abzuhalten, nach Kampanien zurück zu kehren, in das Dorf, in dem sie während der Sommer-monate ein Haus gebaut hatten. Er wollte nicht in das Land, in dem eine Mutter, seine Großmutter, ihr achtjähriges, hungerndes Kind zur Arbeit schickt.
Er fing damals sogar an zu beten.
"Ich bete jeden Abend, er möge mir helfen, ihnen ihren Wahn auszutreiben. Und der liebe Gott erhört mich. Er lässt die Erde neunzig Sekunden lang beben. ... Es ist geschafft. Ich habe gesiegt. Gewonnen. Ich! Ich! ... Mein Gott, denke ich. Was ist geschehen? Was habe ich getan?"
Das Haus der Familie ist zerstört. Der Wiederaufbau eines ganzen Landstriches bringt die "Camorra im Anzug" hervor, die "Zement-Camorra", die illegal baut bis der Staat einschreitet, was zur Folge hatte, dass viele Gebäude nur halb fertig wurden, in ihnen leben nun afrikanische Migranten.
Sehr durchdacht verzahnt Franco Supino die Themen Mafia, Migration, soziologische Strukturen, den Zufall des Erdbebens 1980 und die Folgen der Globalisierung für den landwirtschaftlich geprägten Süden mit der persönlichen Geschichte des Erzählers und dessen leidenschaftlicher Suche nach dem schwarzen Mafiaboss, der vom Phantom zum Symbol wird.
In leichtem Erzählton werden so komplexe Betrachtungen in eine Geschichte gegossen, die fasziniert.
"Seine Biografie in einem fremden Leben zu suchen, ist kein harmloses Spiel. ... Wer erzählt, wer wirklich erzählt, kann nur über sich erzählen."
Eine der spannenden Fragen für die LeserInnen ist die Spiegelung der Biografie des Erzählers in der Antonios.
Heimat, Migration, Zufälle wie der Geburtsort oder eine Naturkatastrophe, die Begegnung mit Menschen, Talente,
die man geschenkt bekommt, persönliche Wünsche - zu welcher Geschichte puzzeln sich die vielen Mosaiksteinchen zusammen, wie entsteht ein Lebensweg?
Franco Supino: Spurlos in Neapel
Rotpunktverlag, Edition Blau, 2022, 256 Seiten