Alfonsina Storni - Ultrafantasía - Lieblingsgedichte
"Ultrafantasía", das ist überbordende, schäumende Lust am Fantasieren, Fabulieren, mit Worten jonglieren.
All das kann man in den Gedichten Alfonsina Stornis (1892 - 1938) erfahren, deren Lektüre ein echtes Abenteuer ist.
Nach vier Bänden mit journalistischen Arbeiten, Kurzgeschichten, Prosa, Theaterstücken und Selbstzeugnissen schließt dieser Band mit "Lieblingsgedichten. Handverlesen, übersetzt, illustriert und mit einem Nachwort von Hildegard E. Keller" die Werkausgabe ab. Sie hat die Lyrik Stornis erstmals ins Deutsche übertragen, zudem fangen die eindrücklichen Illustrationen den Geist der Gedichte wunderbar ein. Eine rundum gelungene Ausgabe also, deren kleines Format zudem sehr angenehm in der Hand liegt.
Wer ist Alfonsina Storni?
Alfonsina kommt 1892 im Tessin zur Welt, vier Jahre später wandern ihre Eltern nach Argentinien aus. Schon mit achtzehn ist sie ausgebildete Landlehrerin, beginnt, an einer Primarschule zu unterrichten. Doch am Ende des Schuljahres kündigt sie und zieht nach Buenos Aires, sie ist schwanger. Ihren Sohn zieht sie alleine groß, bleibt ihr Leben lang unverheiratet und der Ehe als Institution gegenüber sehr kritisch. Dass sie ihren Lebensunterhalt selbst verdient, ist für sie selbstverständlich, sie arbeitet als Lehrerin, Autorin, Redakteurin und Dozentin am Theater. Sie führt ein bewegtes Leben mit Reisen durch Südamerika und auch
nach Europa, immer im Blick: die Situation der Frauen.
1938 beendet sie gute drei Jahre nach einer Brustkrebs-diagnose ihr Leben mit einem Sturz ins Meer.
Da die Gedichte in drei Gruppen gemäß ihrer Entstehungs-zeit und Schaffensphase präsentiert werden, lässt sich die Entwicklung der Lyrik Stornis gut verfolgen. Diese findet vor allem auf formaler Ebene statt. Die strengen Regeln der Dichtkunst werden mehr und mehr abgelegt, die Gedichte freier, was dem unabhängigen Geist Stornis entspricht.
Ihre Themen stehen von Anfang an fest: das Leben der Frau im Patriarchat, das Verhältnis Frau und Mann, ihre eigenen Erfahrungen als ledige, alleinerziehende Mutter.
Während sie hier für sich selbst und zugleich als Frau für alle Frauen spricht, ist der Bereich, in dem sie über das Dichten schreibt sehr individuell. Hier reflektiert sie ihr Leben als Dichterin, ihr Verhältnis zu Sprache und Poesie.
Und dann ist da noch das Thema der Liebenden. Ich schreibe hier bewusst der Liebenden und nicht der Liebe. Alfonsina Storni wirft ihr ganzes Ich in die Waagschale, sie versteckt sich nicht hinter Schleiern, agiert nicht mit dem Sicherheits-netz eines lyrischen Ich. Sie hat den Mut, sich zu zeigen!
Hier ein Auszug aus dem ersten Gedicht dieses Bandes,
"Die Wölfin", erschienen 1916:
"Ich bin wie die Wölfin.
Habe mit der Herde gebrochen,
bin ins Gebirge gegangen,
vom Flachland müde."
Ich habe einen Sohn, Frucht der Liebe, Liebe ohne Gesetz.
Ich konnte nicht wie andere Frauen sein, Ochsen
mit dem Hals im Joch, meinen Kopf hebe ich frei!
Will mit meinen Händen das Unkraut ausreißen.
...
Ich bin wie die Wölfin. Geh allein und lache
über die Herde. Mein Leben verdiene ich selbst,
wo und wie auch immer ist´s mein Lohn, meine Hände
können arbeiten und Köpfchen hab ich auch.
...
Ebenfalls aus "Die Unruhe des Rosenstocks" stammt das Gedicht "Du willst mich rein". Es ist eine mutige, von manchen (damaligen) Lesern als frech empfundene Anklage an die Doppelmoral des Patriarchats. Während der Mann "sie alle hatte", verlangt man von der Frau, "dass ich weiß sei .. dass ich keusch sei ... dass ich rein sei!"
Mit welchem Recht kann MAN das verlangen? Genauso das "Recht des ersten Ehevollzugs mit allen Jungfrauen" eines mächtigen Mannes?
"Das Mädchen, weiß und zart wie eine Narde, harmlos wie ein Schluck Milch, süß und klaräugig, rebellierte gegen das heilige Gesetz ". Das Mädchen wurde auf den Scheiterhaufen geworfen, von Männern und Frauen (!), so in einem der Kurzgedichte, die allesamt kurze Prosagedichte sind.
Auch auf diese Form versteht Alfonsina Storni sich bestens. Auf kleinem Raum erzählt sie sehr bildlich ganze Geschich-ten, der letzte Satz bzw. Absatz enthält meist ein Fazit, eine Warnung, einen Denkanstoß, den sie den Leser:innen mit auf den Weg gibt. Es ließen sich szenische Stücke daraus gestalten, hier schreibt auch die theatererfahrene Autorin mit.
Vor allem aber ist in allen, nicht nur den Prosagedichten, das Herzblut zu spüren, das in ihnen steckt.
Ein besonders schönes Gedicht der liebenden Dichterin ist
Ich bin
Sanft und traurig bin ich, wenn ich abgöttisch liebe,
kann den Himmel in meine Hand holen, wenn ich
eines andern Seele mit meiner eignen verstricke.
Kein weicheres Kissen könntest du finden.
Keine Frau küsst die Hände so wie ich
und keine kuschelt sich so in einen Traum,
noch nie wohnte in derart kleinem Körper
eine Menschenseele von größerer Zartheit.
Ich sterbe für ein Augenpaar, wenn ich fühle,
wie es einen Moment lang wie ein Vogel
unter meinen weißen Fingern flattert.
Ich kenn das Zauberwort, das verständige,
und kann den Mund halten, wenn der Mond
riesig rot über dem Abgrund aufgeht.
Dieses Sonett fängt ihre tiefen Gefühle ein, sie gießt diese in formvollendete Verse. Auch ihre Liebe zur Natur kommt zum Ausdruck. In vielen Gedichten ruft die Dichterin den Mond an, das Meer, fantasiert über Bäume und ihre Knochen-Äste, verfolgt Wolken oder Vögel, spricht von Schlangen, Rosen oder verbotenen Früchten. Sie lebt in der Welt, mit allen Sinnen.
Der Natur dankt sie auch für ihre Gabe des Dichtens:
"Natur, ich dank dir für das hohe Gut / des Dichtens, das du mir gabst. ... Was wäre mein Leben ohne das süße Wort?..."
Oder an die Göttin Poesie: "...geblendet hattest du mich /
bei meiner Geburt mit deinen kräftigen Brenneisen."
Schreiben, Dichten ist die Existenz Alfonsina Stornis.
Auch wenn sie über einen Dichterkollegen schreibt oder über ein Telefonat mit einem Toten (daher das Telefon auf dem Cover), über die Unbill der Stadt, ob sie "Naive Gedichtchen" (so eine Abteilung der unveröffentlichten Gedichte) schreibt, sie gießt in diese ihre Gesellschaftskritik, ihre Ideen von Freiheit und Zukunft, vom Leben.
Und vom Sterben.
"Mit dem Gedicht Ich geh schlafen verabschiedete sich Alfonsina Storni zwei Tage vor ihrem Freitod von ihrem Lesepublikum", so Hildegard E. Keller in ihrem informativen und einfühlsamen Nachwort. Storni schickte dieses letzte Gedicht an eine Zeitung, bevor sie sich das Leben nahm.
Was für eine Geste!
Alfonsina Storni: Ultrafantasía
Lieblingsgedichte. Handverlesen, übersetzt, illustriert und mit einem Nachwort von Hildegard E. Keller
edition maulhelden, 2023, 256 Seiten, zweisprachig
(Originalausgaben der Gedichte 1916-1938)