Jens Steiner - 

Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit

Der Roman beginnt in Marseille, im Hotel Rostand, einer eher schäbigen Bude, in die es Paul verschlagen hat. Der Philosophie-Student aus Zürich ist hier gestrandet, nachdem er seine Stadt fluchtartig verlassen hat.

Zwischen seiner Wohnung und dem Hotel Rostand liegen ein erzwungener Aufenthalt in einer Nachbarwohnung, eine nächtliche Fahrt im Zug, ein Grenzübertritt mit gefälschtem Pass und angeklebtem Schnauzbart - und jede Menge Fragezeichen.

 

Pauls Freund ist der unglückliche Tollpatsch Magnus.

Zusammen machen sie Blödsinn in Seminaren, tauschen sich klug und sehr erwachsen über Probleme der Philosophie aus und üben sich im Disputieren.

 

"Magnus und ich, wir waren ein Zweigestirn, einsam in einer Ecke des Universums vor sich hinglosend. Im ersten Uni-Semester hatten wir uns gefunden. ... Man kann sagen, dass meine Boshaftigkeit und Magnus´ Verzweiflung aneinander Gefallen gefunden hatten. Rücken an Rücken bildeten sie ein stabiles Bollwerk."

 

Zusammen hecken sie einen Streich gegen einen Medienzar aus, der Paul berühmt macht, obwohl Magnus derjenige war, der die Idee dazu hatte.

Bei einer Rede, die besagter Zar Kudelka in der Aula halten will, schmuggelt Paul die Aufnahme einer anderen Rede Kudelkas in die Lautsprecheranlage, auf der er vor Industriellen spricht und ganz andere Dinge sagt als zu den Studenten. Damit entlarvt Paul Kudelkas Unaufrichtigkeit. Es kommt schnell raus, wer der Urheber war, und Paul ist ein Held an der Uni.

 

Kurz darauf wird Kudelka entführt, Paul sieht sein eigenes Gesicht im Fernsehen: er ist der mutmaßliche Entführer, die internationale Fahndung läuft schon. 

 

Paul weiß überhaupt nicht, wie ihm geschieht. Er weiß nur eins: sein Verfolger oder Kontrahent, vielleicht auch sein Bruder oder Spiegelbild ist Klöppel. Von ihm wird er niedergeschlagen, vor ihm versteckt er sich hinter Hotelvorhängen  und unter Hotelbetten, mit ihm in einem Boot fährt er schließlich aufs Meer hinaus. 

 

Und dann ist da noch der Homunkulus, der sich diverse Male materialisiert und Paul Ratschläge gibt. Im Lauf der Geschichte wird er immer zerrupfter und unverständlicher.

Außerdem spielen mit: Lotta, Pauls Ex-Freundin mit dem schönen roten Mantel. Sie existiert nur noch in seinem Geist, sie hat ihn verlassen und den Frauen gegenüber vorsichtig werden lassen.

So himmelt Paul die schöne Spanierin Dolores, die in der Wohnung über ihm wohnt, nur aus der Ferne an, er traut sich nicht, sie anzusprechen.

 

Merkwürdigerweise ist es gerade Dolores, die seine Flucht organisiert. Sie lotst ihn übers Dach aus dem Haus - was bedeutet, dass er an einer Art Türwächter vorbei muss, einem älteren Herrn, der Paul die Geschichte seines Sohnes erzählen will, bevor er ihn durchlässt.

Eine sehr schräge Vater-Sohn-Geschichte, in der der Sohn den Eltern alles nimmt, was sie in ihrem Leben geschaffen hatten. Ihren gesamten Besitz, ihre Freunde, ihr Leben. 
"Kurz: Unser Sohn hatte aus uns klammheimlich zwei komplett andere Menschen gemacht. Nach seinem achtzehnten Geburtstag legte er einen Schalter um und wir standen auf der Straße. Verstehen Sie das?"

 

Paul selbst kennt seinen Vater nicht. Seine Mutter hat nicht mehr als ein paar Andeutungen fallen lassen, er kann sie nicht mehr fragen, sie verstarb bei einem Autounfall.

Das Thema "Vater" taucht in Pauls Kopf immer wieder auf. Auch wenn er zu dem Schluss kam, dass er "das Ergebnis der Vereinigung zweier Egoisten" ist, kaut er noch an der Problematik herum.

 

Die Geschichte nimmt eine völlig unerwartete Wendung, die ich nicht verraten möchte. Sie hat mit der Entführung zu tun, die plötzlich keine mehr ist und dann zu einer tatsächlichen wird.

 

Das ist gut gemacht. Mit dieser Entwicklung zeigt Steiner, wie Menschen genau zu dem werden, was man ihnen nachsagte zu einer Zeit, als sie etwas absolut anderes waren. Genauso wie bei dem Mann, der die Tür bewachte.

Steiner erklärt eine solche Entwicklung nicht, er spielt sie durch und macht sie glaubwürdig und lebendig.

 

Sein Paul ist ein junger Mann mit wenig Boden unter den Füßen, fast die ganze Geschichte hindurch. Ganz am Ende ist auch das anders, und zwar ganz konkret.

 

Steiner vermischt in lockerem Ton viele der Versatzstücke, die in Philosophieseminaren besprochen werden, die in jungen gärenden Köpfen herumspuken, mit den Suchbewegungen der Generation Pauls.

Er pflegt seine Weltverachtung, ein bisschen ist das auch Attitüde, er spielt mit Magnus geistiges Pingpong, er trauert Lotta nach und bewundert Dolores´  schönen Hintern, folgt blind roten Mänteln (sie versprechen wohl das Paradies),

er macht sich Gedanken über seine Herkunft...

Kurz: er ist ein ganz normaler junger Mann. 

Der plötzlich in etwas hinein gerät, das er nicht kontrollieren kann. 

Paul ist bemüht, das Leben und die Mechanismen der Gesellschaft zu verstehen, er wägt Freiheit und Unfreiheiten ab - und das alles in einem ziemlich verwickelten Roman,

der den Leser manchmal genau so an der Nase herumführt wie den Helden. 

Es macht Spaß, Paul zu folgen, er hat alle Sympathie seines Schöpfers, wirkt nie lächerlich, immer nur suchend.

 

Am Ende streut Steiner  Gesellschafts- und Kapitalismus-kritik mit ein.

"Nichts ist so stark wie die Verlockung des Geldes. ... Wer hat, bekommt. Das ist weit mehr als ein Gemeinplatz, nämlich eine Gefahr für die Demokratie und damit auch für die Gesellschaft. Sie wissen das genauso wie ich" sagt Paul zu Kudelka. "Ich staune selbst am meisten, dass ich so rede, doch ... weiß ich, dass ich alles, was ich gerade gesagt habe, auch wirklich meine. Und staune noch mehr."

 

Ist Paul in der Realität angekommen? Herausgefallen aus den Philosophieseminaren und hart gelandet?

Hart kommt es bald eher für Kudelka, der auch ein ganz anderer werden muss, aber das sei nun wirklich nicht verraten.

 

 

 

 

 

 

 

Jens Steiner: Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit

Dörlemann Verlag, 2015, 240 Seiten