Andrea Stefanoni - Die erinnerte Insel
In diesem Roman zeichnet die Autorin die Lebensgeschichten ihrer Großeltern nach. Zentrale Themen sind Armut, Krieg und Flucht -
und das Ankommen in einem
neuen Leben.
In einer Zeitschrift ihres Großvaters findet sie lange nach dessen Tod eine Unterstreichung, sie betrifft die Migration der Schmetterlinge.
Diese zieht sich über mehrere Generationen hin, denn die, die sich als erste auf den Weg machen, erreichen nur die erste Etappe. Die zweite Generation bewältigt die nächste Etappe und so fort.
"Eine Kette von Müttern, Vätern, Kindern, bis die Migration erfolgreich abgeschlossen ist. Die Schmetterlinge, die losfliegen, kommen nie an. Aber durch die Generationen nach ihnen erreichen sie ihr Ziel doch. Und so ist es fast,
als kämen alle gemeinsam in den Norden. Als hätten sie immer gewusst, dass sie es nur so schaffen."
Consuelo, die Großmutters der Erzählerin, die im Roman
den Namen Sofia trägt, wächst während des Spanischen Bürgerkrieges in sehr kargen Verhältnissen in den Bergen Asturiens auf. Wie viele andere Kinder auch, ist sie bereits mit zwölf Jahren für eine große Schafherde verantwortlich.
Nur bei Regen oder Sturm kann sie die Schule besuchen, dann, wenn die Schafe nicht auf die Weide getrieben werden.
Viel zu früh verliert sie ihre Mutter, der Vater gibt sich alle Mühe, die Tochter liebevoll zu versorgen, was schwierig ist, denn die meiste Zeit verbringt er in der Kohlengrube.
Dort, wo alle Männer und auch viele Frauen des Dorfes arbeiten. Und wo auch Consuelo anfängt zu arbeiten, als sie sechzehn ist. So schlimm die Tätigkeit dort ist, sie befreit sie während dieser Zeit wenigstens von ihrer Stiefmutter, die dem Urbild der bösen Stiefmutter aus den Märchen sehr nahe kommt. Nicht einmal den Lohn für ihre Überstunden darf Consuelo behalten und selbst die Truhe mit den wenigen Kleidern, die sie hat wird abgeschlossen, um es ihr unmöglich zu machen, ein Tanzfest zu besuchen.
Parallel zu Consuelos Leben wird das Rogelios erzählt.
Er ist zwölf Jahre älter als Consuelo, er kämpft auf Seiten der Republikaner gegen Franco. Seine "Karriere" als Kämpfer hat er mit einem Verrat begonnen, eine Tatsache, die ihn bis an sein Lebensende verfolgen wird.
Rogelio wird gejagt und gefangen, er verbringt Jahre in unterschiedlichen Gefängnissen und lernt die verschiedensten Methoden, einen Menschen zu quälen, kennen. Als er entlassen wird, ist er ein völlig entkräfteter Mann, der sich ein ganz neues Leben aufbauen muss.
Die beiden lernen sich in der Kohlegrube kennen.
Consuelo ist neunzehn, Rogelio einunddreißig, als sie heiraten. Bald bekommen sie ein Töchterchen, Elvira wird
sie getauft, nach der verstorbenen Mutter Consuelos.
Als Felipe, ein Feind aus alten Tagen, auftaucht, weiß Rogelio, dass es nun Zeit ist, zu gehen. Und zwar sofort.
Felipe will sich rächen, Rogelio hat keine Wahl, wenn er
seine Familie nicht in Gefahr bringen will.
Sie fahren von Barcelona aus nach Buenos Aires.
Mit der Ankunft dort beginnt der zweite Teil des Romanes.
Mit der Schwierigkeit, ein Zuhause und eine Arbeit zu finden. Mit der Hartnäckigkeit, mit der das Paar sein Ziel verfolgt, hier, in diesem neuen Land, heimisch zu werden.
Was ihnen gelingt. Sie arbeiten hart, pflegen das Land eines Großgrundbesitzers auf einer Insel, schaffen es nach Jahren, ein eigenes Haus zu kaufen, auf ihrer eigenen Insel.
Diese Insel beherbergt die nun vierköpfige Familie, Elvira hat noch einen Bruder bekommen. Die Kinder wachen in großer Freiheit auf, sie bewegen sich mit Booten zwischen den Inseln, sie spielen im Dschungel, sie lernen aber auch all die Fähigkeiten, die man braucht, um in dieser Umgebung zu überleben.
Sie werden zu angesehenen Leuten, deren Wort zählt.
Die Kinder bekommen eine gute Schulbildung, Rogelio
fängt an, Bienen zu züchten, sein Honig ist gut und begehrt.
Als Elvira elf ist, passiert etwas Schreckliches. Das vielleicht Schlimmste daran ist, dass es totgeschwiegen wird.
Sie fühlt, dass ihre Mutter Bescheid weiß, aber nichts sagt.
Und das Kind mit seiner Verzweiflung alleine lässt.
Elvira ist noch nicht achtzehn, als sie die Insel verlässt.
Ihr eigenes Leben in Buenos Aires beginnt, mit Besuchen bei den Eltern, aber nicht mehr in der ganz alten Vertrautheit.
Elvira bekommt zwei Kinder: Pablo und Sofia.
Diese Sofia wird es sein, die tief in die Geschichte ihrer Familie eintaucht, die vor allem von einer starken Liebe zu ihrer Großmutter Consuelo erfüllt ist. Die Consuelo bei sich aufnimmt und sich um sie kümmert, als diese mit über achtzig Jahren und längst Witwe, aus dem Krankenhaus entlassen wird und noch nicht alleine zurechtkommt.
Sofia lernt zu dieser Zeit vollends, dass ihre Großmutter
eine Frau ist, um die man sich nicht kümmern muss,
im Sinne einer sorgenreichen und auch ein wenig bevormundenden Art.
Consuelo steht bis zu ihrem Tod mit über neunzig Jahren mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Sie ist noch immer eng mit Rogelio verbunden, in einem regen Gedanken"austausch".
Beide Großeltern hatten eine harte Kindheit und Jugend. Beide mussten Erlebnisse verkraften, die sehr schwerwiegend waren. Ihr Leben bestand vor allem aus
sehr viel Arbeit - doch sie wurde in der Gewissheit erledigt,
dass nur sie der Familie die Lebensgrundlage gibt und eine Würde, die stark macht - wenn auch nicht unfehlbar.
Stefanonis Roman ist über das Porträt der Familie hinaus eine Geschichte, die Einblicke in eine bestimmte Epoche Europas gibt, in eine, in der die Menschen Europa verließen, verlassen mussten.
Ihre Einwanderung in Amerika ist gelungen, wirklich angekommen sind erst die Enkel, wenn man die Parallele zu den Schmetterlingen zieht, die Sofia so beeindruckt hat.
Sie findet einen sehr persönlichen Ton in ihrem Roman,
sie hat aber auch den größeren Zusammenhang im Auge,
das bewahrt sie vor einer Romantisierung des Themas und
der Großmutter.
Die beiden Frauen kehren noch einmal auf die Insel zurück. Selbst in der Dunkelheit bewegen sie sich ohne Mühe, die Wege sind in ihrem Inneren verzeichnet.
Die Insel ist der Ort ihrer Erinnerungen und auch das Ziel ihrer Pläne für die Zukunft:
"Ich habe mir gerade überlegt, dass wir wieder öfter hierherkommen könnten."
Andrea Stefanoni: Die erinnerte Insel
Übersetzt von Birgit Weilguny
Septime Verlag, 2016, 256 Seiten
(Originalausgabe 2014)