Sasa Stanisic - Wie der Soldat das Grammofon repariert

 

 

"Ich bin ein Gemisch. Ich bin ein Halbhalb. Ich bin Jugoslawien -

ich zerfalle also."

Stanisic schreibt die Tragödie seiner Familie (die Mutter Muslima, der Vater Christ) und seines Landes in die Geschichte des jungen Aleksandar Krsmanovic ein - unverkennbar eine autobiographische Figur.

 

 

Aleksandar wächst in Visegrad, hundert Kilometer östlich von Sarajevo an der Drina gelegen, auf.

Er hat einen sehr fabulierfreudigen Großvater, ein titotreuer Kommunist, der jedoch nie aufgehört hat nachzudenken und unermüdlich Verbesserungsvorschläge macht. Der Aufsätze schreibt und Reden hält und eben gerne Geschichten erzählt. "Die wertvollste Gabe ist die Erfindung, der größte Reichtum die Fantasie. Merk dir das, Aleksandar." Das tut dieser.

Er besitzt einen Zaubererhut und einen Zauberstab, doch als Opa Slavko ganz plötzlich einen Herzstillstand erleidet, kann er mit seinem Stab nichts ausrichten. Er hat den Opa verloren. Nicht aber das, was Slavko ihm mitgegeben hat: Neugier, Beobachtungsgabe, das Sammeln von Worten und Ereignissen, das Erzählen.

 

Aleksandar erzählt im ersten Teil des Buches alles mögliche aus seinem Leben vor dem Krieg. Die Familie wird beschrieben, seine Lehrer und Freunde, kleine Geschichten aus deren Familien: es ist ein Kaleidoskop an Episoden, die immer fortgeschrieben werden können. Denn Aleksandar ist unter anderem der "Chefgenosse für das Immerweitergehen", so wie er auch der "Chefgenosse der Angelkunst" ist und der "Möglichkeitenzauberer".

Er ist ein Junge, der nichts in einen vorgegebenen Rahmen, wie z.B. einen Schulaufsatz, packen kann, seine Fantasie schießt stets darüber hinaus und er erzählt immer noch eine andere Geschichte. Er überschlägt sich manchmal geradezu in der Gestaltung von Wortbildern, so bekommt der in flagranti ertappte Liebhaber der Mutter seines Freundes Zoran vom Vater eine "gehemingwayt, dass es den Trafikanten kapital gegen das Regal drehte" - bei dem vorausgehenden Gemenge waren "Der alte Mann und das Meer", sowie "Das Kapital" zu Boden gefallen.

 

Aleksandar erlebt die Beerdigung seines Opas, ein großes Familienessen zur Verabschiedung seines Onkels Miki, der zum Militär geht, er kämpft sich durch den Matheunterricht und ganz unmerklich kommt der Krieg näher. Und fast so plötzlich wie Slavko verstarb ist er da. Aleksandar und seine Eltern müssen sich verstecken, einige Zeit verbringen sie im Keller, doch Soldaten und mit ihnen die Zerstörung kommen schnell nach Visegrad, sie fliehen.

Zurück lässt Aleksandar neben vielen anderen lieben Menschen das Mädchen Asija. Dieser Name bedeutet

"die Auferstandene" und wird zum Sinnbild der Suche nach der verlorenen Kindheit.

 

Aleksandar findet ein neues Zuhause in Essen, er lernt Deutsch, indem er Worte sammelt, anhäuft, mit ihnen jongliert. Er telefoniert mit der Großmutter, die in Bosnien geblieben ist, er empfängt und schreibt Briefe in die alte Heimat, zehn Jahre nach der Flucht fährt er zum ersten Mal wieder dorthin. Um die Realität mit den Erinnerungen abzugleichen.

 

Der Roman hat keine Einteilungen, man könnte ihn aber unter die Oberbegriffe Kindheit-Krieg-Flucht-Erinnerungen-Rückkehr fassen.

Mit zwei eingeschobenen Kapiteln, die aus dem Rahmen fallen: zum einen die Gedaken eines Rabbis, der aus der Synagoge vertrieben wurde und auf einem zugefrorenen See überlebt. Zum anderen der Aufsatz Aleksandars

"Als alles gut war" für den Lehrer Fazlagic, gewidmet Opa Slavko. Dieser Aufsatz liest sich oberflächig leichtfüßig, ihm wohnt jedoch ein tiefer Ernst inne. Selten konnte man so eindringlich lesen, wie schwer Scham wiegen kann, ganz faszinierend flüstert die Drina zu den Menschen mit offenen Ohren, träumt Aleksandar von seinen Möglichkeiten als Fähigkeitenzauberer:

"Wäre ich Fähigkeitszauberer, könnten Häuser Versprechen halten. Und sie müssten versprechen, nicht Dächer zu verlieren oder in Flammen aufzugehen. Wäre ich Fähigkeitenzauberer, würden die Einschusslochnarben über die Jahre wieder zuwachsen."

 

Die Absurdität des Krieges wird geschildert in einem Kapitel, in dem Serben gegen Bosnier während einer Waffenruhe Fußball spielen. Nachdem diese Waffenruhe vorbei ist, schlägt das Spiel um in eine wörtlich genommene Fußball-Schlacht mit grausigen Folgen. Zu diesem Zeitpunkt neigt sich der Krieg schon seinem Ende, als der Soldat das Grammofon reparierte, fing er gerade an...

 

Der Rückkehrer Aleksandar legt sich eine Liste an, was er alles sehen/hören/erfahren/finden möchte in Sarajevo oder Visegrad. Vor allem aber sucht er nach Asija, der Hoffnungsträgerin.

 

Stanisic beherrscht die Gabe des subtilen Erzählens,

des Einflechtens einer weiteren Ebene. Er geht nicht chronologisch vor, er folgt Gedanken und entwickelt einprägsame Bilder. Und er schafft es mit seiner Fabulierkunst die Erzählperspektive von der des jungen Aleksandar "mitwachsend" in die des erwachsenen übergehen zu lassen, das macht die Geschichte sehr glaubwürdig.

 

 

 

 

 

 

Sasa Stanisic:

Wie der Soldat das Grammofon repariert

Luchterhand Verlag, 2006, 315 Seiten

Kartoniert: btb, 2008, 313 Seiten