Sasa Stanisic - Vor dem Fest
Üblicherweise verfügt ein Roman über eine Hauptperson (das kann auch eine Familie sein oder eine Gruppe), neben dieser gibt es mehr oder weniger wichtige Nebenpersonen. Der Protagonist macht Erfahrungen, reift und entwickelt sich. Am Ende ist er ein anderer als am Anfang, denn er hat eine bestimmte Strecke zurückgelegt und dazugelernt. Und wenn es auch so ist, dass er diverse Illusionen verloren hat - irgendeine Einsicht hat er auf alle Fälle gewonnen.
Insbesondere im Schelmenroman wird ein meist männlicher Held auf eine Abenteuerreise geschickt. Er stammt aus der Unterschicht, ist zwar nicht gebildet aber schlau, durchläuft alle gesellschaftlichen Schichten und lernt sie so gut kennen, dass er ihnen mit seinem Verhalten den Spielgel vorhalten kann. Er hat wenig Einfluss auf das, was um ihn herum und mit ihm geschieht, er rettet sich aber aus jeder noch so unangenehmen Situation.
Diese Romanform entwickelt sich in Spanien im
16. Jahrhundert, schwappt nach England und Frankreich hinüber und entfaltet sich im Simplicius Simplicissimus (erschienen 1668) von Hans Jakob von Grimmelshausen in Deutschland zur vollen Blüte.
Nachfolger auf diesem "Schelmenpfad" finden sich bis heute: so in den "Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull" (1954 von Th. Mann), den "Ansischten eines Clowns" (1963 von
H. Böll) oder in dem "Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg" (2009 von J. Jonasson) und einigen anderen.
Der Roman "Vor dem Fest", der 2014 den Preis der Leipziger Buchmesse bekommen hat, verzichtet auf einen menschlichen Helden.
Der eigentliche Protagonist ist das fiktive Dorf Fürstenfelde, in der Uckermark gelegen, ganz tief in der Provinz.
Nicht ein Held absolviert verschiedene Abenteuer, sondern das Dorf erlebt sie mit seinen unterschiedlichen Bewohnern in der Vergangenheit und in der Gegenwart.
Das ist eine großartige Idee, die der äußerst sprachverliebte Autor vortrefflich ausgeführt hat.
Der 1978 in Bosnien-Herzegowina geborene Schriftsteller lebt seit 1992 in Deutschland, Deutsch ist also nicht seine Muttersprache. Aber er hat sich diese Sprache phantastisch gut angeeignet, er hat auf seiner Entdeckungsreise in sie hinein Tiefen entdeckt, die manchem, der in sie hineingeboren wurde, verborgen bleiben. Und er benutzt sie wie ein Musikinstrument, dem er die unterschiedlichsten Töne und Melodien entlocken kann.
Der Roman klingt, jedes Kapitel hat seine eigene Sprach-Melodie, er wechselt mühelos vom barocken Chronisten-Deutsch zur Sprache der Biertrinker in der Garage im
Jahr 2012. Ein kleines Beispiel ist das Glockengeläut:
"Der letzte Eisenschlag hängt einer Wolke gleich über dem Land, klingt nach, klingt nach, klingt nach."
Die synästhetische Wahrnehmung ist dem Roman immanent: dass das Gehörte zugleich gesehen wird, das Gewitterte ertastet oder auch das vor langer Zeit erloschene Feuer noch in der Luft hängt gibt eine Vielschichtigkeit,
die noch über die ineinander geschichteten Zeitebenen hinausgeht.
Denn der Umgang mit der Zeit ist ebenfalls eine Besonderheit des Romans.
Der Leser lernt zunächst einige Dorfbewohner kennen. Schräge Typen, vom Lauf der Geschichte gebeutelt, nicht mehr auf der Suche nach irgendetwas. Ihre Geschichten werden erzählt, ihr Charakteristisches herausgestrichen, die Verbindungslinien gezogen.
Das Annenfest - auf dieses läuft der Roman zu - findet im fünften und letzten Kapitel statt. Das "davor" ist nicht nur die Nacht davor, die explizit und detailreich erzählt wird, es sind die gut vierhundert Jahre davor, die mitschwingen und teilweise ausführlich dargestellt werden.
"Unser Annenfest. Was wir feiern, weiß niemand so recht. Nichts jährt sich, nichts endet oder hat an genau diesem Tag begonnen. Die Heilige Anna ist irgendwann im Sommer, und die Heiligen sind uns heilig nicht mehr. Vielleicht feiern wir einfach, dass es das gibt: Fürstenfelde. Und was wir uns davon erzählen."
Im ersten Teil des Romans macht man Bekanntschaft mit den Menschen in Fürstenfelde: Lada, der von Entrümpelungen lebt ("weg damit" bedeutet immer, eine Biographie auszulöschen), dem stummen Suzi, Johann, Lehrling im Einzelhandel und Glöcknergehilfe, seiner Mutter, Johanna Schwermuth, der Chronistin des Dorfes und Leiterin des "Hauses der Heimat", der neunzigjährigen Frau Kranz, die seit Jahrzehnten nichts anderes malt als Fürstenfelde und seine Umgebung, Schramm, ehemals NVA, dann Förster, jetzt Rentner, der jungen Anna, angehende Studentin - um nur ein paar zu nennen.
Die Rückblicke in die Vergangenheit sind noch rar, sie betreffen die Jahre 1587-89 und haben (bis auf die letzten beiden) Tiere im Visier: ein Ferkel mit Menschenkopf wird geboren, es ereignet sich ein Pferdediebstahl, ein enormes Hirschgeweih wird gefunden. Es geschieht ein Mord und zwei Gauner, Hinnerk und Kuno, begehen einen schweren Raub beim Annenfest im Jahr 1589 - so lange gibt es das Fest also schon.
Es treten in einem Kapitel Mäuse auf, die eine schreckliche Plage sind, schon immer, und man lernt die Fähe kennen. Ein Tier, das nicht vermenschlicht wird, an dessen Gefühlen und Gedanken der Leser aber teilnimmt.
Wer lebt im Dorf, was tun sie alle, was hat das Dorf schon alles erlebt: die Pest, den Fährmann, Poppo von Blankenburg, die Russen und die Flüchtlinge, den Großen Brand und und und - an Ereignissen mangelte es nie.
Das Dorf kann sich nicht über Langeweile beklagen, auch wenn es (in absoluten Zahlen gerechnet) immer kleiner wird. In ihm leben nicht nur die, die jetzt im Moment dort leben, in ihm leben eine Unmenge von Geschichten, Märchen und Mythen.Vor allem Frau Schwermuth tut sich mitunter schwer, die Zeiten auseinander zu halten und verrutscht gerne ein paar Jahrhunderte.
Es tauchen Personen auf, die als Wiedergänger erscheinen: gegen Ende sind plötzlich zwei junge Männer da, Q und Henry genannt, die in Reimen sprechen und der jungen Anna zur Seite stehen. Sie reflektieren nicht nur die Gauner Hinnerk und Kuno, sie könnten direkt aus einem Stück von Shakespeare sein.
In "Hamlet" gibt es ein Nebenfiguren-Duo, Kindheitsfreunde des Helden, die eine ähnliche Attitüde haben wie Q und Henry, sie heißen Rosenkranz und Güldenstern. Sie kommen auf See bei einem Angriff von Piraten ums Leben. Ihr Tod wird sehr schlicht verkündet: Rosencrantz and Guildenstern are dead.
In Fürstenfelde gibt es einen Stein, der im Dunkeln leuchtet, es ist der Güldenstein. Er bewahrt das Licht des Fährmannes, jener Person, die immer ein Licht bei sich trug - "Bist du ohne Licht, bist du Nichts und Niemand. Erst das Licht macht dich zum Menschen" und mit welcher der Roman "Vor dem Fest" beginnt: "Wir sind traurig. Wir haben keinen Fährmann mehr. Der Fährmann ist tot."
Es fällt außerdem auf, dass die meisten Ereignisse, auf die zurückgeblickt wird, zwischen 1587 und 1636 liegen - zwischen 1589 und 1613 entstanden die Dramen Shakespeares. Und dieser ist ohne Zweifel ein Dichter, der eine Zeitenwende poetisch gestaltete und für den Realtiät aus mehr als dem Offensichtlichen bestand. Und dies ist auch bei Stanisic der Fall.
Zu weit gedacht? Vielleicht, auf jeden Fall werden die Phantasie und der detektivische Spürsinn des Lesers mächtig gekitzelt und das spricht für einen Autor und sein Werk.
Im zweiten und dritten Teil des Romans nehmen die Rückblicke zu, das Dorf rückt noch näher an den Leser heran, mit ihm aber auch die heutigen Bewohner.
Die joggende Anna mit ihren Asthmaanfällen, die Herrn Schramm vor dem Selbstmord bewahrt, heißt sicher nicht zufällig so. Sie steht in der Tradition der Annen, die im Dorf zu Tode kamen, erstickt im Flachsofen, so 1722 geschehen, oder bei einer Hexenverbrennung im Jahr 1615.
Wer ist Anna? Sie wird bald ihr Studium aufnehmen,
das Dorf also verlassen, gut so. Ob sie wiederkommt?
Wenn nicht, wird eine andere Anna kommen.
Am Morgen des Annenfestes werden die Kirchenglocken am Seeufer gefunden. Das war schon einmal so, 1599, als der Fährmann Hinnerk und Kuno bei einer Feuersbrunst ans andere Ufer gebracht hat.
Das ist ein kleiner Hinweis auf die Poetik Stanisics, wie er jetzt und damals, die Menschen und das Dorf zusammenbringt, nicht zu vergessen die Fähe, die eine weitere Stimme in diesem Chor ist.
Sie ist am Ende ziemlich mitgenommen vom Über-Leben und ihrem Kampf gegen die moderne Zivilisation mit ihren Zickzackgängen im Hühnerstall und Eierboxen.
Im fünften, nur wenige Seiten langen Kapitel, findet das Fest statt. Alles ist ganz normal. Die obligatorische Auktion findet statt. Versteigert wird ein Gemälde von Frau Kranz: alle sind drauf. Die Jungen und Alten, Lebende und nicht mehr Lebende, "dieunddie und derundder, es ist, als würden die Leute, pflanzengleich, überall dort aus dem Wasser sprießen, wohin unser Blick schweift. Fürstenfelde ist das. Auch der Fährmann ist da..." Und auch der Güldenstein...
Das Bieten beginnt. "Wer bietet zehn? Wir sind froh, Anna wird vermutlich doch nicht verbrannt. Sie steht beim Scheiterhaufen und hebt ein brennendes Scheit in die Luft und wird überboten von uns, wir bieten zwölf."
Ende.
Ein durch und durch grandioser Roman, voller Phantasie und Magie, Auflösung und Zusammenführung, Freude am Geschichtenerzählen, Jonglieren mit Worten und Taten, voller Helden der Geschichte und des Alltags, verspielten Verweisen in die Kunst, ohne Plattitüden, hinkende Vergleiche oder Schulmeisterei.
Alle Zeiten, vom Frühbarock bis heute, alle Wesen, ob Mensch oder Tier, ob Landschaft oder Glocke, erhalten eine Stimme, die singt.
"Wer schreibt die alten Geschichten? Wer errichtet dem Schrecken ein Denkmal?....."
"Einer. Einer schreibt. Einer hat es immer geschafft."
Sasa Stanisic: Vor dem Fest
Luchterhand Verlag, 2014, 315 Seiten
Taschenbuch bei btb, 2015, 320 Seiten