Jean Stafford - Das Leben ist kein Abgrund; Stories

"Woran Pansy die ganze Zeit dachte, war ihr eigenes Gehirn. Nicht bloß das Gehirn als Sitz des Bewusstseins, sondern das physische Organ selbst, das sie sich mal als ein Juwel, mal als Blume vorstellte  ... Immer war es rosa und immer fragil, immer tief innen und von unschätzbarem Wert. Sie glaubte, die innerste Kammer des Wissens erreicht zu haben und dass ihr Wissen vielleicht dasselbe war wie bei der Heiligen das Erringen reiner Liebe. Es war nichts als Konvention, dachte sie, dass man `heiliges Herz´ sagte und nicht `heiliges Hirn´." 

 

Pansy, 25, ist die Protagonistin der Erzählung "Innere Burg". Sie liegt mit schweren Verletzungen des Kopfes, vor allem der Nase, infolge eines Autounfalls im Krankenhaus. 

Ein Schicksal, das auch Jean Stafford erlitt, die mehrere Male operiert werden und starke Schmerzen ertragen musste.

Dies ist nur eine Parallele zum Leben der Autorin (1915-1979), die autobiografische Details in ihre Erzählungen einfließen lässt.

 

Die Reflexion des eigenen Erlebens ist jedoch nicht die tragende Säule der Erzählkunst Staffords. Diese ist ihr Vermögen, tief in die "innerste Kammer" ihrer Figuren zu blicken, ihre Ängste intensiv darzustellen, ohne sie bloß zu stellen. Mit sprachlicher Finesse, mit Empathie und feinem Humor erzählt sie von den Abgründen des Lebens, von Verlust und Einsamkeit, aber auch von der Möglichkeit, mit einer präzisen Sprache Klarheit zu schaffen.

 

Die elf Erzählungen dieses Bandes, entstanden zwischen 1944 und 1978, stehen in einer inneren Verbindung mitein-ander. Personen tauchen manchmal in einer anderen Geschichte wieder auf, auch Orte. Allen gemein ist, dass sie einen erschütternden Moment im Leben der Figuren beschreiben, wobei Moment ausgedehnt werden kann auf eine ganze Lebensphase.

 

Die Protagonisten sind Kinder, Frauen um die zwanzig oder vierzig. 

Die Kinder sind entweder eines Elternteils beraubt oder Waisen, sie erleben, was es bedeutet, auf sich alleine gestellt zu sein. Sie leben in einem Waisenhaus oder bei einer Person, deren Bestreben es nicht ist, den Kindern ein Zuhause zu geben.

 

Dies thematisiert Jean Stafford in der Story "Im Zoo".

Zwei Schwestern mittleren Alters besuchen den Zoo in Denver. Der Anblick eines traurigen Eisbären versetzt sie in ihre Kindheit:

"Eine beiläufige Bemerkung von Daisy vor ein paar Minuten hat Erinnerungen geweckt und uns ins Grübeln gebracht. `Ich weiß nicht wieso´, sagte sie, `aber dieser blinde Bär, der Arme, erinnert mich an Mr Murphy.´ Der Name `Mr Murphy´ hat uns beide sofort in unsere Kindheit versetzt, wir sind Hals über Kopf tief eingetaucht, und unser späteres Leben ist dabei verblasst."

Sie erinnern sich an ihre "habgierige, lieblose, höhnische, selbstgefällige Pflegemutter Mrs Placer", daran, dass ihnen "die Zähne in der Kälte unserer Vereinsamung" klapperten, sie misstrauisch gegen sich selbst wurden, angstbesetzt waren und logen. 

Sehr präzise beschreibt die Autorin den Charakter und die Handlungen, das Regime und die Gemeinheit Mrs Placers, die kurze Hoffnung, die ein Hund und Mr Murphy den Schwestern beschert und den Zusammenbruch dieser Hoffnungen. 

 

Jean Stafford entwickelt in dieser Geschichte die beiden Mädchen sowohl zu Individuen, als auch zu Abbildern eines Zustandes, der über das Individuelle hinausgeht. 

Sie markiert hier, wie auch in den anderen Erzählungen, den Kern des Schmerzes in einem Knäul an Empfindungen.

Sie löst ihn nicht heraus aus ineinander verflochtenen Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen, aber sie benennt ihn.

 

Die titelgebende Geschichte "Das Leben ist kein Abgrund" führt ins Armenhaus. Die dort lebende Isobel Carpenter könnte es jederzeit verlassen, bleibt aber, um sich an ihrem Cousin Will zu rächen, der ihr Vermögen durch Spekulation "auf der Stelle in alle Winde zerstreute".

Als lebender Vorwurf, "kreuzfidel" und streitlustig verbringt sie ihre Zeit gerne im "Schützengraben". 

 

Die junge Lily, die Isobel besucht, betrachtet die "Schmieren-komödie" mit Abscheu, ebenso Isobels Aussagen über Lilys Zukunft - aber "Nie war Boshaft heiterer".

 

Dieser Satz charakterisiert die alte Lady und die ganze Story, sie ist eine Gesellschaftsstudie, eine treffliche Satire über das Thema `Heuchelei´. 

 

Die Pulitzerpreisträgerin Jean Stafford beherrscht diverse Tonlagen, viele ihrer Texte, die zuerst in Magazinen wie dem New Yorker oder Harper´s Bazaar erschienen, sind moderne Klassiker.

Ihr prägnanter, sehr überlegter Stil gibt ihren Erzählungen etwas Zeitloses. Wie auch ihr Roman "Die Berglöwin" wurden die Stories, d.h. die Kunst Jean Staffords, flüssig und treffend von Adelheid und Jürgen Dormagen übertragen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jean Stafford: Das Leben ist kein Abgrund; Stories

Aus dem Amerikanischen von Adelheit und Jürgen Dormagen

Mit einem Nachwort von Jürgen Dormagen

Dörlemann Verlag, 2022, 336 Seiten

(Originalausgaben der einzelnen Stories 1944-1978)