Ré Soupault - Geistige Freiheiten - Essays

Im Jahr 2022 erschien der erste Band mit Radio-Essays von Ré Soupault: "Geistige Brücken". Diese Texte bestechen durch eine enorme Bandbreite an Themen, die allesamt klar, fundiert und in der Absicht, die Hörer aufzuklären und nicht zu manipulieren, präsentiert werden. Auf demselben hohen Niveau bewegen sich die Essays des zweiten Bandes, man kann immer wieder nur staunen über das Wissen und Können der extrem vielseitigen Frau.

 

Ré Soupault kommt 1901 als Meta Erna Niemeyer in Pommern zur Welt. Ihr Weg führt über Weimar, wo sie am Bauhaus studiert, über Berlin, Paris, Tunis, New York und Basel immer wieder nach Paris. 1996 stirbt sie in Versailles. Sie bereist viele Länder auf mehreren Kontinenten, immer mit dem Stift, mit der Kamera. Zur Malerin, Filmemacherin, Modedesignerin und Unternehmerin gesellt sich damit die Fotografin. Zu diesen wird die Schriftstellerin kommen, später die Übersetzerin und Radiojournalistin.

 

Der nun vorliegende Band versammelt zehn Essays, entstanden zwischen 1955 und 1981. Neben weiteren Radio-Essays finden sich die bisher unveröffentlichten "Berliner Momentaufnahmen" vom Jahreswechsel 1958 auf 59, sowie das Hörspiel "Der Besuch", ein sehr interessantes Werk, in dem sich die Themen Schicksal, Freiheit und Verantwortung verdichten.

 

Es handelt von Irene, die am Telefon von der Polizei mitge-teilt bekommt, dass ihr Mann Jacques tödlich verunglückt ist.

Kurz darauf erhält sie einen Brief von Jaques, in dem er ihr schreibt, er wolle sich von ihr trennen. Eine junge Frau ist in sein Leben getreten, er möchte sich scheiden lassen.

Jaques kündigt den Besuch Anitas an, sie möchte mit Irene sprechen, um ihr "alles zu sagen".

 

"`In deine Hände lege ich unser aller Schicksal!´... Ich konnte es nicht glauben. Ich las den Brief wieder und wieder ... In meinen Händen sollte unser aller Schicksal liegen? ... Als könnten wir über unser Schicksal bestimmen ... Es hatte bereits entschieden ... ohne mich. Eine seltsame Wandlung vollzog sich in mir. Es war, als wäre eine Mauer zusammen-gestürzt und der Weg freigelegt für neue Kräfte..." (Hervorhebungen von mir, P.L.)

 

Anita kommt zu Besuch, sie weiß noch nichts vom Tod Jaques, Irene sagt es ihr nicht. Nach vielen inneren Wendungen und Monate später sucht Irene nach der jungen Frau. Sie erfährt, dass sie sich das Leben genommen hat.

Trägt Irene eine Mitschuld?

 

In diesem Hörspiel bündelt Ré Soupault die genannten großen Themen und blickt mit feinem Einfühlungsvermögen in die Seele der Protagonistin.

 

Hier, wie in allen anderen Texten, egal welcher Gattung, wertet sie nicht. Sie stellt dar, beleuchtet, setzt Schwer-punkte, niemals gibt sie die Richterin.

 

Ob sie anlässlich des 550. Todestages über Jeanne d´Arc schreibt, ein Text, der angesichts der "Unmöglichkeit" dieser Frau mit den Worten "Aber Johanna war keine Idee, sie war ein lebendiger Mensch. Nur gehörte dieser Mensch dem

15. Jahrhundert und ist aus der Perspektive unseres materia-listischen Zeitalters nicht erfassbar", oder über Sigrid Undset, deren Widersprüchlichkeit ungelöst bleibt: "`In gewissem Sinn kann man sagen, dass der Krieg Sigrid Undset seelisch getötet hat.´  Wie sonst wäre es möglich, dass eine Schrift-stellerin ihres Geistes und katholischen Glaubens, die das Licht einer christilchen Menschheit suchte und überzeugt war, dass Erlösung für jeden Menschen möglich sei, ein ganzes Volk in seiner Gesamtheit verurteile mit dem Grundton `Nie vergessen!`".

 

Ré Soupault hat die Gabe, komplexe Sachverhalte so darzu-stellen, dass sie verständlich werden. Sie legt in dem Essay "Nietzsches `Trunkenes Lied´" die Entwicklung des Denkers Nietzsche ebenso dar wie seine Grundgedanken, erklärt das Konzept der ewigen Wiederkehr und des Übermenschen, sie streut Gedanken anderer Interpreten ein und zitiert ausführ-lich aus dem Originaltext, und das alles auf nur zehn Seiten - das ist eine Kunst!

 

In mehreren Folgen widmet sie sich dem Schriftsteller René Schickele, der sich als Elsässer mit französischer Mutter  nicht nur einer Kultur zugehörig fühlte.

Sein "Grundgedanke kreist um den tragischen Konflikt des Menschen zwischen zwei Kulturen, zwischen zwei Welten, die einander bekriegen, anstatt den verhängnisvollen Irrtum zu erkennen und nach einer europäischen Gemeinschaft zu streben, Voraussetzung zur Entfaltung aller geistigen und  wirtschaftlichen Fähigkeiten."

 

Hier spricht auch die Kosmopolitin, die gar nichts von Nationalismen hält - das ist die einzige Abweichung, der Punkt, an dem sie keine betrachtende Neutralität bewahrt. 

Eine solche Stimme würde man heute gerne laut und deutlich vernehmen!

 

Es sei noch erwähnt, dass in diesem Band auch eine Würdigung Mies van der Rohes zu lesen ist, ein Porträt der kleinen Stadt Aubusson, der "Haupstadt der modernen Teppichweberei", sowie ein sehr erhellender Text, der sich mit der "Sagen- und Märchenwelt der keltischen Bretagne" beschäftigt.

 

Angesichts dieser Vielfalt ist es umso erstaunlicher, wie umfassend Ré Soupaults Kenntnisse sind. Ihre Texte sind dicht, aber verständlich. Sie möchte ihren Hörer:innen und Leser:innen Wissen vermitteln, sie in die Lage versetzen,  durch Aufklärung den Weg der Freiheit zu gehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Ré Soupault: Geistige Freiheiten - Essays

Wunderhorn Verlag, 2024, 145 Seiten

(Originalausgaben der Texte 1955-1981)

 

 

 

 

 

 

 

Ré Soupaults literarisches und fotografisches Werk wird seit 1996 von Manfred Metzner, der den Nachlass verwaltet, im Verlag Das Wunderhorn herausgegeben.

Ein Verzeichnis findet sich auf der Website des Verlags.