Ré Soupault - Geistige Brücken - Radio-Essays

Ein Essay-Band, wie er glänzender nicht sein könnte. Jeder einzelne der vierzehn Texte, die zwischen 1951 und 1986 im Radio gesendet wurden, besticht durch seine Klarheit, der Suche nach Wahrheit, durch das Bemühen,

die Hörer zu informieren und nicht zu manipulieren. Beeindruckend ist nicht nur die Bandbreite, sondern auch die konzentrierte Darstellung der Themen. Ré Soupault, die weder Historikerin noch Literatur-wissenschaftlerin ist, verfügt auf beiden Gebieten über ein immenses Wissen, diese vereint sie mit Empathie und Stil. Man kann immer wieder nur staunen über das Können dieser Frau, die so viele verschiedene Berufe ausübte, scheinbar mehr als ein Leben lebte.

 

Ré Soupault kommt 1901 als Meta Erna Niemeyer in Pommern zur Welt. Ihr Weg führt über Weimar, wo sie am Bauhaus studiert, über Berlin, Paris, Tunis, New York und Basel immer wieder nach Paris. 1996 stirbt sie in Versailles. Sie bereist viele Länder auf mehreren Kontinenten, immer mit dem Stift, mit der Kamera. Zur Malerin, Filmemacherin, Modedesignerin und Unternehmerin gesellt sich damit die Fotografin. Zu diesen wird die Schriftstellerin kommen, später die Übersetzerin und Radiojournalistin.

 

Den Auftakt zur vorliegenden Essay-Sammlung bildet "Die Welt der Kelten. Eine Zivilisation und ihr Ende." Es folgen mehrere Arbeiten über Paris, seine Entstehung und Geschichte, historische und politische Ereignisse. 

Die meisten Texte beschäftigen sich mit Schriftstellern: Romain Rolland, dessen Werk Ré Soupault ins Deutsche übersetzt hat, Antoine de Saint-Exupéry, Joseph Roth und andere. Sie schreibt über den indischen Philosophen Tagore und eine sehr persönliche Erinnerung an Karl Jaspers.

Eine Abhandlung zur Frauenbewegung beschließt den Band: "Geht die `Despotie des Mannes zuende?´ Die Rolle der Frau in der europäischen Kultur von der Antike bis heute."

 

Ein breit gefächertes Spektrum an Themen also, vereint durch Ré Soupaults Interesse an den Menschen. Sie recher-chiert bis ins kleinste Detail, sucht nach den Anfängen, d.h. den ersten Zeugnissen einer Kultur, der Kindheit und ersten Werken eines Schriftstellers, den Ausgangspunkten einer Bewegung. Sie zeichnet die Entwicklungen nach, bei den Dichtern betrachtet sie auch die Rezeption ihres Werkes. 

Sie spricht über Geologie, zitiert aus den Briefen eines Henkers, zieht Parallelen von der Pariser Kommune 1871 zu den Studentenunruhen 1968, sie schreibt über das Schicksal der Hugenotten. Sie fasst das philosophische Problem von Gut und Böse anhand der "Gesänge des Maldoror" von Lautréamont zusammen, sie beschreibt den universellen Geist des Nobelpreisträgers von 1913, Tagore. Sie spürt der Entwicklung des einst so ausgewogenen Denkers Romain Rolland nach, der in den 1930er Jahren plötzlich das Vorgehen Stalins rechtfertigte.

Beeindruckend auch ihre Abhandlung über die Frauenbewe-gung, in der sich keine Anklage, keine Schuldzuweisung findet. Ré Soupault geht es um das Erkennen der inneren Strukturen und Mechanismen, es geht ihr um Aufklärung.

 

Von 1951-1957 besucht sie die Vorlesungen von Karl Jaspers in Basel. Ihm und seiner Denkweise widmet sie den Essay "Erinnerungen an Karl Jaspers". Es ist ihr persönlichster Text und es wird offensichtlich, dass sie ihr eigenes Denken an diesem großen Philosophen geschult hat.

 

"Was ich dann schon bei der ersten Vorlesung hörte, warf alle meine Erwartungen über den Haufen: Es war wie eine Erleuchtung. Der Ernst dieses Philosophen, die Würde seiner Erscheinung, die Einfachheit der Sprache, die faszinierende Aussage von Gedanken, deren Evidenz mich in Erstaunen versetzte ... Und jetzt, während ich Jaspers zuhörte, wurde mir der Unterschied klar zwischen den traditionellen Lehrmethoden, die Kenntnisse vermitteln, als wären sie die absolute Wahrheit und diesem `Suchen nach Wahrheit´, das eine Art von Entdeckungsreise ist."

 

Die Essays Ré Soupaults sind solche Entdeckungsreisen. 

Sie hält sich an Jaspers Credo: "Was den Menschen angeht, muss auch allgemein verständlich gemacht werden können."

Es finden sich keine Schachtelsätze, keine dem Laien  unverständlichen Fachbegriffe, keine Anhäufung von Fremd-worten, die viele Hörer außen vor ließen. Die Texte sind dicht, aber verständlich.

 

Ihr Wunsch und Anspruch aufzuklären, geht Hand in Hand mit ihrem tiefen Humanismus, der sich durch ihr ganzes Werk zieht: sie möchte die Menschen zusammenbringen. Deutlich wird dies noch einmal am Ende ihres Essays über die Rolle der Frau:

 

"Diese von der `Natur´ bestimmte Vergangenheit ist vorbei. Unaufhaltsam schreitet die Frau vorwärts auf dem Weg in die Zukunft. Aber sie kann diesen Weg nicht allein gehen. Tiefgreifende Veränderungen im Erziehungs- und Bildungs-bereich müssen die Voraussetzungen für ein neues Verhalten zwischen den beiden Geschlechtern schaffen, eine innere Bereitschaft für den Dialog. Denn auch der Mann ist - ob er es will oder nicht - einbezogen in diese Revolution. Er erkennt sich nicht mehr in dem Bild, das er sich so viele Jahrhunderte lang von sich selbst machte. Klischees für sein Verhalten gibt es jedoch nicht. Es gilt - für ihn, für die Frau, für den Menschen - den Problemen des Lebens gegenüber, an den anderen zu denken."

 

Ré Soupault ist eine große Schriftstellerin, eine Brücken-bauerin, sie ist ein großer Mensch.

 

 

 

 

 

 

 

 

Ré Soupault: Geistige Brücken - Radio-Essays

Herausgegeben von Manfred Metzner

Verlag Das Wunderhorn, 2022, 280 Seiten

(Radio-Essays gesendet zwischen 1951 und 1986)

 

 

 

 

Ré Soupaults literarisches und fotografisches Werk wird seit 1996 von Manfred Metzner, der den Nachlass verwaltet, im Verlag Das Wunderhorn herausgegeben.

Ein Verzeichnis findet sich auf der Website des Verlags. 

 

 

 

Bitte lesen Sie auch meine Besprechung des Werks "Nur das Geistige zählt. Vom Bauhaus in die Welt", sowie die des Reisetagebuchs "Überall Verwüstung. Abends Kino".

Jedes einzelne Werk Ré Soupaults ist eine Entdeckung!