Susan Sontag - Der Liebhaber des Vulkans
Sir William Hamilton, Emma Lyon, Horatio Nelson: um dieses Dreigestirn rankt sich der Roman, der hauptsächlich in Neapel im ausgehenden 18. Jahrhundert spielt.
In einer umbrüchigen, extraordinären, explosiven Zeit, die nicht nur in Paris Köpfe rollen ließ.
Doch zunächst ist der einzig explosive (und hintergründige Protagonist) der Vesuv. Täglich beobachtet vom "Cavaliere", wie Sontag den Botschafter Englands in Neapel nennt, ein Double Hamiltons. Er hat keinen Namen, er steht für den gebildeten, an allem interessierten Feingeist, der sein Herz, seine Zeit und sein Geld in die Schönheit investiert. Er ist der Sammler par excellence, mit antiken Vasensammlungen hat er großen Einfluss auf das Antikenbild seiner und nachfolgender Generationen, seine Beobachtungen des Vesuv machen ihn zu einem der führenden Vulkanologen Europas, seine erworbenen Bilder - sofern sie erhalten geblieben sind - hängen heute in den großen Museen der Welt.
Der Cavaliere ist verheiratet mit Catherine, einer vorbildlichen Ehefrau. Von bestem Benehmen, zurückhaltend, eine ausgezeichnete Pianistin, ihn von Herzen liebend. Ihre Kränklichkeit ist der Normalzustand einer englischen Lady, das südländische Klima tut ihr aber gut.
Lady Catherine hasst den lauten, kindischen, völlig ungehobelten König von Neapel sehr, ebenso seine Frau:
selten begleitet sie ihren Mann an den Hof, zieht sich lieber zurück.
Der Cavaliere kann sich nicht entziehen, sehr oft muss er dem König seine Aufwartung machen und für dessen Unterhaltung sorgen.
Wann immer möglich besteigt er jedoch den Vesuv, wagt sich weit hinauf und weit vor: ihn interessiert, was im Innersten passiert, ist fasziniert von dem Riesen, der die Szenerie der Stadt und des Umlandes beherrscht.
Als Catherine stirbt, ist der Cavaliere schwer getroffen,
es nimmt ihn wesentlich stärker mit, als er selbst dies erwartet hätte.
Mit ihrem Tod endet der erste Teil des Romans.
Im zweiten Teil betritt Emma Lyon die Bühne. Sie ist die Geliebte von Charles, eines Neffen des Cavaliere. Er hat sie wiederum von einem Freund übernommen, der sie schwanger vor die Tür gesetzt hatte. Nun möchte er selbst sie loswerden und preist sie dem Onkel an.
Sie wird als "Mädchen" - sie ist 36 Jahre jünger als der Cavaliere - eingeführt, als Gesellschafterin. Das ist sie anfangs auch, doch der Cavaliere ist zu sehr Ästhet, als dass er ihrer Schönheit nicht erliegen würde.
Emma liebt zwar Charles, doch sie hat keine Wahl: will sie ein ordentliches Leben (und dafür hat sie immerhin ihre Tochter geopfert, die bei einer Pflegefamilie in England lebt), tut sie sich besser mit dem so viel älteren Mann zusammen.
Emma ist sehr intelligent, sie weiß zu gefallen, macht sich dies auch zu ihrer größten Herzensangelegenheit: sie will ihm gefallen. Sie betrachtet mit ihm seine Sammlungen, begleitet ihn bei seinen Erkundungstouren, lernt Italienisch, Französisch und singen. Sie ist eine so phantastische Sängerin, dass sie Angebote aus Madrid und Paris bekommt, doch diese lehnt sie ohne Bedauern ab.
Ihr Platz ist nun hier in Neapel an der Seite des Cavaliere.
Emma entwickelt sich zu einer berühmten Schauspielerin: sie stellt antike Göttinnen dar, Allegorien aus alten Sagen, sie entfaltet eine so große Kunstfertigkeit, dass Menschen von weither kommen, um sie zu sehen.
Sie befreundet sich eng mit der Königin, besucht sie täglich am Hof. Dabei fühlt sie selbst sich wie eine Königin: eine der Schönheit. Niemand kann sich ihrem Zauber entziehen, sie ist der Star, wo immer sie erscheint, sie verschenkt ihre Aufmerksamkeit wie Himmelsgaben.
Noch im zweiten Teil kommt einer der größten Seehelden seiner Zeit nach Neapel: Kapitän Nelson.
Er wird zum besten Freund, engsten Vertrauten, zum Bewunderer und Bewunderten von Emma und dem Cavaliere. Die drei schließen ein enges Bündnis der Freundschaft, ein bisschen wird der Cavaliere zum Vater der beiden. Er toleriert die Liebesbeziehung, die sich zwischen seinen Schützlingen entwickelt, er weiß, es wäre töricht gewesen zu erwarten, dass eine so wundervolle Frau nicht eines Tages einen Mann in ihrem Alter findet, dem sie ihr Herz schenkt.
Nun brechen die Ereignisse der Zeit über das Land und die Menschen herein: die Französische Revolution lässt auch in Neapel eine Republik entstehen, der gesamte Hof muss nach Palermo ausweichen, der Cavaliere verliert einen großen Teil seiner Sammliungen. Man kann ermessen, was dieser Verlust für ihn bedeutet.
Nelson bleibt lange Zeit ebenfalls in Palermo, als er zurückkehrt übernimmt er das Kommando in Neapel: er erweist sich als unerbittlicher Verfechter der Monarchie, die besten Wissenschaftler, Dichter, führende Köpfe der Kirche und des Adels werden von ihm aufs Schafott geschickt.
Aus Emma ist mittlerweile eine Spielerin, Alkoholikerin, eine der Häme und Gehässigkeit preisgegebene Matrone geworden. Von ihrer einstigen Schönheit ist nichts mehr übrig: Nelson liebt sie trotzdem. Er liebte sie nie für ihre Schönheit, sondern für sie selbst.
Als der Cavaliere seinen Posten verliert und nach England zurück muss, reisen die drei zusammen über Rom und Wien nach London.
Der Cavaliere ist kein reicher Mann mehr, Nelsons Ruf hat sehr gelitten, seine Ehefrau wartet auf ihn, Emma ist nicht mehr die schöne Schauspielerin: die alte Welt existiert nicht mehr.
Die drei ziehen sich in ein Landhaus zurück, Emma bringt ein Mädchen zur Welt. Bald darauf stirbt der Cavaliere. Emma wird fünfzehn Jahre später völlig verarmt sterben, ohne ihrer Tochter gesagt zu haben, wer ihre Mutter ist, so sehr schämt sie sich für ihren Zustand.
Im dritten Teil des Romans schaut der (verstorbene) Cavaliere zurück auf sein Leben, denkt an Catherine und Charles, seine Sammlungen, den Vulkan: Emma nimmt wenig Platz in diesen Gedanken ein.
Der letzte Teil widmet sich den Erinnerungen Catherines, Mrs. Cadogans (Emmas Mutter), Emmas und jenen von Eleonora de Fonseca Pimentel. Folgerichtig wäre gewesen, hier noch den berühmten Seefahrer zu Wort kommen zu lassen, nachdem zuvor die anderen Hauptpersonen einen Blick auf ihr Leben werfen durften.
Doch Susan Sontag lässt das letzte Wort eine Revolutionärin sprechen, eine geschiedene Journalistin, die mit spitzer Feder in diversen Zeitungen für die Anliegen des Volkes, für die Republik und die Demokratisierung des Landes schrieb. Und die 1799 in Neapel geköpft wurde.
Emma hat sich einmal fürchterlich daneben benommen - aus der Sicht der englischen Adeligen - als sie bei einer Abendgesellschaft in London die Tarantella tanzte. Nicht nur weil sie so schwer übergewichtig war, sondern weil sie in diesem Moment so sehr sich selbst als Frau verkörperte, so sehr sie selbst war. Nur in dieser Szene wird sie von ihrer Schöpferin mit einem "Du" belegt, ansonsten ist sie den ganzen Roman hindurch "die Frau des Cavaliere".
In ihren Erinnerungen denken die Figuren als ein "Ich".
Und Eleonora Pimentel denkt über sich selbst hinaus.
Sie sieht klar, dass eine Revolution nicht in einer Umwälzung von Politik und Wirtschaft enden kann, sondern dass die eigentliche Revolution in Erziehung und Bildung stattfinden muss, "in Herz und Verstand".
Sie verachtet jenen Soldaten, der für das britische Empire stritt und ihre Freunde tötete, sie kreidet Sir Hamilton an, Kunstschätze gestohlen (z.B. in Pompej) und keinen originellen Gedanken gehabt zu haben, Emma Hamilton ist für sie eine Schwärmerin, die das Fähnchen in den Wind hielt.
So sehr der Roman eine Geschichte von Liebe und Schönheit ist, von großartiger Natur und "ewigen" Kunstwerken, so ist er doch im Wesen ein Stück über die Revolution und darüber, wie sehr alle Menschen Kinder ihrer Zeit sind und wie schwierig es ist, eine Identität zu finden. Und dabei auch noch über die eingene Zeit und das eigene Leben hinauszuschauen.
Sontag wirft mit ihrem modernen, feministischen Blick auf die Vergangenheit, auf die Revolution in Frankreich und Europa, zugleich einen Blick auf unsere Zeit.
Ihr Roman endet mit den Worten Eleonora Pimentels:
"Zuweilen musste ich vergessen, dass ich eine Frau war, um das Beste, dessen ich fähig war, zu leisten. Oder ich täuschte mich darüber, wie kompliziert es ist, eine Frau zu sein. So machen´s alle Frauen, einschließlich der Autorin dieses Buches. Aber denen, die sich um nichts anderes sorgten als um ihren eigenen Ruhm oder ihr eigenes Wohlergehen, kann ich nicht vergeben. Sie hielten sich für zivilisiert.
Sie waren verachtenswert. Verflucht seien sie alle."
Susan Sontag: Der Liebhaber des Vulkans
aus dem Amerikanischen von Isabel Lorenz
Fischer Taschenbuch, 1996, 548 Seiten
(Amerik. Originalausgabe 1992)