Ilijas Shansugirow - Das Lied von Kulager

Shansugirows kasachisches Volksepos erschien in den 1930er Jahren - sofort wurde das Buch von den Stalinisten konfisziert und verboten, der Autor gefangen genommen und wenig später ermordet. Was traf die Mächtigen so sehr, dass sie die Geschichte eines Pferdes als unerträglich empfanden und derart brutal reagierten?

 

Dieses letzte Buch von Ilijas Shansugirow gilt als es sein politisches Vermächtnis.

Der 1894 bei Almaty/Kasachstan geborene Autor war Lyriker, Essayist, Literaturwissenschaftler und Lehrer.

Er selbst hatte die Dichtung seines Volkes schon als Kind kennen gelernt, sein Vater rezitierte lange Epen und weckte in seinem Sohn den Sinn für die Schönheit der Literatur. Diese war in Kasachstan bis zum Beginn des

20. Jahrhunderts, als man anfing, die Geschichten zu sammeln und aufzuschreiben, vor allem eine mündliche.

 

Für sein Epos von Kulager griff er auf eine wahre Begebenheit und ein bestehendes Epos zurück, erweiterte dieses um einige Gedanken,  goss es in eigene Verse und bereicherte damit das kulturelle Erbe seines Volkes.

Erst 1958, nach der Rehabilitierung Shansugirows, kam dieses Werk wieder ans Tageslicht und konnte veröffentlicht werden. Gerd Heidenreich hat das Epos für den deutschen Leser nachgedichtet, Ilija Tojanow hat es in der Reihe "Weltlese -Lesereisen ins Unbekannte" publiziert.

 

Und damit dem Leser, der in einer völlig anderen Kultur lebt, eine Möglichkeit eröffnet, einen Blick in eine unbekannte Welt zu werfen.

Eine Welt der Nomaden, die in Horden und Sippen leben, deren wichtigster Besitz und ganzer Stolz ein Pferd ist, die sich zu riesigen Festen versammeln, zu denen tausende Menschen von überall her kommen, um ganze Herden von Tieren zu verspeisen, Ringkämpfe zu veranstalten und vor allem - als Höhepunkt einer Feierlichkeit - ein Pferderennen zu sehen.

 

Fester Bestandteil jeder Feierlichkeit ist ein "Seri", das ist ein fahrender Geschichtenerzähler, ein Jäger und auch Galan, der die alten Epen erzählt (und so das kulturelle Erbe bewahrt), singt, und Neuigkeiten bringt. Taucht er irgendwo auf, sind die Reichen gefordert, ihre Großzügigkeit zur Schau zu stellen und die Gäste reichlich zu bewirten. 

 

Jlijas Shansugirow hat in seiner Geschichte über Kulager auf Akan Seri zurückgegriffen, der 1843 in ein reiches Elternhaus geboren wurde. Wegen einer unglücklichen Liebe, vor allem aber, weil er gesehen hatte, wie ungerecht die Mächtigen die einfachen Leute behandeln, verließ er sein Elternhaus und lebte fortan an fahrender Sänger.

 

Er besaß ein wunderbares Pferd, Kulager.

Symbolisiert in der kasachischen Dichtung der Schwan die Treue und der Pfau die Schönheit, steht das Pferd darüber hinaus noch für Stärke und Schnelligkeit. Es vereint alle edlen Tugenden in sich und ist für seinen Besitzer mehr wert als alles andere. Ein Mann ohne Pferd ist vergleichbar einem Heimatlosen in der westlichen Kultur, das Pferd ist der Maßstab seines Besitzes, Ansehens und Lebens.

 

Doch nun zur Handlung des "Liedes von Kulager":

Akan Seri reist zu den Trauerfeierlichkeiten eines mächtigen Mannes. Dort findet das große Fest statt, dessen Abschluss das obligatorische Pferderennen bildet. 

Der mächtige Batyrasch geht davon aus, dass sein Pferd dieses wichtige Rennen gewinnt, da es immer gewinnt.

Als nun Akan Seri und Kulager eintreffen, gerät diese Gewissheit ins Wanken. Mit dem Versprechen von großen Reichtümern (einschließlich einer jungen Witwe) versucht Batyrasch Akan Seris Pferd zu erwerben - für Akan Seri ist es jedoch absolut undenkbar, sich von Kulager zu trennen.

Als abzusehen ist, dass Kulager das Rennen gewinnt, lässt Batyrasch einen seiner Männer das Pferd töten. Durch einen Schlag mit der Axt auf die Stirn verblutet es.

Akan Seri trennt den Kopf ab, um diesen nicht den wilden Tieren zu überlassen, nimmt ihn mit und hängt ihn an einem Baum auf. In Sichtweite dieses Baumes sitzt er fortan, einsam in einer verlassenen Gegend und um Kulager trauernd seine Lieder singend.

 

In Batyrasch wurde sehr schnell der Verweis auf die Machthaber erkannt, die ohne Rücksicht auf die Interessen anderer ihre eigenen durchsetzen. Das Volk empört sich kurz über das Geschehen, doch das dauert nicht lange.

 

"Der alte Batyrasch ist eine Bestie,

doch hat er fast ein Heer auf seiner Seite.

Er ist ein Scheusal von Natur aus, rücksichtslos,

vielleicht ein Altai-Bär mit Menschenmaske.

 

Und während Akan sich zu Tode grämt,

das Volk wie eine Hühnerherde kreischt,

tritt Batyrasch zum Kreishauptmann und Okas,

stampft trotzig auf und brüllt die Leute an:

.......

Ihr gebt mir Schuld am Tod von diesem Klepper!

Hab ich ihn mir geholt und dann geschlachtet?

Wenn ihr so groß und stolz und mutig seid,

kommt her und schneidet mir ein Ohr vom Kopf!

 

Maulhelden seid ihr! Meinen Preis verlang ich,

sonst kommt die Rache bei der nächsten Feier...

Ihr werdet keine ruhige Stunde haben.

Und sei es durch Gewalt: Ich krieg den Preis."

 

Akan Seri ist seiner Flügel beraubt.

Er singt sein Lied von Kulager.

 

"Er singt es, weil es seine Schmerzen lindert, 

sie brennen in der Brust. Das Lied ist Kühlung.

Er weiß, dass es den Kummer nicht verhindert,

er weiß es, dennoch singt er in die Nacht."

 

Ilijas Shansugirow führt vor, wie die Mächtigen ihre Macht erhalten. Das wurde verstanden und kostete ihn das Leben.

 

Die sehr plastische und bilderreiche Dichtung, die über dem Geschehen nicht vergisst, die Schönheit des Landes zu preisen, beginnt mit freien Rhythmen und geht allmählich in den Rhythmus einer Ballade über.

 

Sehr schön ist, dass der Verlag dem Buch eine CD beigelegt hat, auf welcher der Autor selbst das "Lied von Kulager" liest. Das gibt die Möglichkeit, das Epos wirklich als Lied zu erleben, in die orale Tradition einzutauchen und auch den traditionellen Instrumenten zu lauschen, die den Text begleiten. 

 

Das "kasachische Epos von Poesie und Freiheit, Mut und Treue, Hinterlist, Mord und Trauer", so der Untertitel, bringt eine ferne Welt recht nah. Sie verliert aber in keinster Weise ihre Fremdheit - ihre Faszination der Fremdheit.

 

 

 

 

 

 

 

 

Ilijas Shansugirow: Das Lied von Kulager

Deutsche Nachdichtung von Gert Heidenreich

Edition Büchergilde, 2016, 144 Seiten mit CD