Robert Seethaler - Ein ganzes Leben
In seinem Roman "Der Trafikant" von 2012 beschreibt Seethaler einige Jahre des Lebens von Franz Huchel. Dieser kommt als junger Mann vom Land nach Wien, macht dort eine Lehre in einer Trafik (das ist ein Tabak- und Zeitschriftenladen), lernt Dr. Freud und die Liebe kennen und gerät zwischen die Mühlsteine der Politik und der Geschichte.
In seinem neuen Roman erzählt er nun das ganze Leben des Andreas Egger, geboren vermutlich im Jahr 1898 - ganz genau weiß man es nicht, bis zu seinem Tod 1977.
Andreas kommt nach dem Tod der Mutter mit ca. vier Jahren zu ihrem Schwager, einem Großbauern.
Hubert Kranzstocker ist ein harter Mann, der den Buben nur behält, weil dieser ein kleines Säckchen mit ein wenig Geld um den Hals trägt und weil er eine weitere Arbeitskraft gut gebrauchen kann. Als solche sieht er Andreas von Anfang an, dass er noch ein Kind ist, wird vollständig ignoriert. Arbeiten, beten, Schläge empfangen: dafür scheint Andreas auf der Welt zu sein. Auch nachdem der Bauer ihm ein Bein gebrochen hat und Andreas daraufhin hinkt, lassen weder Arbeitsumfang noch Schläge nach.
Das Kind ist 12 Jahre alt, da eröffnet eine Schule im Dorf, hier lernt der Junge lesen und schreiben, ein wenig rechnen.
Er ist langsam, aber beharrlich und er wächst trotz seiner Behinderung zu einem starken Jugendlichen heran. So stark, dass er es im Alter von achtzehn wagt, sich dem Bauern und seinen Schlägen entgegenzustellen. Und den Hof verlässt.
Er nimmt jede Arbeit an, ist fleißig und genügsam und kann sich mit knapp dreißig ein kleines Grundstück pachten, darauf baut er sich eine Hütte. In die scheint sogar das Glück einzuziehen: Marie nimmt seinen mit Feuer in den Berg geschriebenen Heiratsantrag an und wird seine Frau.
Andreas Egger arbeitet nun bei einer Baufirma, die Seilbahnen baut: mit ihnen hält der Fortschritt Einzug ins Tal. Die Bahnen bringen viele fremde Menschen ins Dorf, zuerst Arbeiter, dann Touristen, außerdem Elektrizität, Lärm und Geld.
Egger fühlt sich als Teil von etwas Großem, als ein Rädchen der Maschinerie Fortschritt - dies erfüllt ihn mit Stolz und
er ist sehr zufrieden mit seinem Leben.
Er ist nun fünfunddreißig Jahre alt und scheint endlich einen Platz gefunden zu haben.
In der letzten gemeinsamen Nacht flüstert Marie ihm ins Ohr, dass etwas wachsen wird, und dies etwas ganz Wunderbares sein wird. Erwartet sie ein Kind?
Egger wird es nie erfahren, denn in selbiger Nacht verschüttet eine Lawine das Haus und einen Teil des Dorfes. Marie ist eine von drei Toten, mit ihr begräbt Egger sein Lebensglück.
Er arbeitet weiter für die Baufirma, führt Wartungsarbeiten an den Seilen durch - dabei hängt er selbst an einem Seil zwischen Himmel und Erde. Eine gefährlich Arbeit, aber er hat nichts mehr zu verlieren.
Im November 1942 wird er einberufen. Er kommt nach Russland. Zwei Monaten an der Front folgen acht Jahre in Gefangenschaft. Als er zurückkommt, sind die Hakenkreuzfahnen verschwunden, und auch seine ehemalige Firma. Er macht nun das, was er schon als junger Mann gemacht hat: Gelegenheitsarbeiten aller Art.
Eher durch Zufall wird er Bergführer, der Touristen die Berge zeigt. Aber ihre Art, sich wie Kinder aufzuführen und mit ihrem aberwitzigen Verhalten andere Menschen manchmal sogar in Gefahr bringen, kann er schließlich nicht mehr ertragen - er zieht sich zurück.
In einen verlassenen Stall am Rande des Dorfes. Er richtet sich ein, hat alles was er braucht, und das ist vor allem:
seine Ruhe. Dass er von den Menschen im Dorf als verrückt betrachtet wird, stört ihn nicht. Sollen sie doch denken,
was sie wollen.
Er begegnet nach dem Krieg noch einmal dem Kranzstocker, eine Frau macht ihm Avancen, aber er sinnt nicht auf Rache und seine Liebe hat er gehabt.
In ihm lebt eine Trauer, die Seethaler die "reine Traurigkeit" nennt, und die Eggers Wesen ausmacht.
Er hat sich von den Menschen zurückgezogen, falls er jemals irgendwo dazugehörte. Marie verstand er nicht, aber er liebte sie. Die Menschen versteht er nicht, aber er hasst sie nicht.
Er ist einer, der zusammen mit seiner Traurigkeit lebt, der für sich selbst sorgt, unter welchen Umständen auch immer, einer, der niemals klagt, weil er keine Ansprüche hat.
Der Roman beginnt damit, dass Egger den Einsiedler Hörnerhannes, der sehr krank ist, auf seiner Kraxe ins Dorf zum Arzt tragen will. Der Hannes haut ihm aber ab, rennt den Berg hinauf und verschwindet im Schnee.
Am Ende des Buches kommt die "Kalte Frau" zu Egger selbst. Er ist neunundsiebzig, krumm, vergesslich und hat mit dem Leben abgeschlossen. Er ist einverstanden mit ihrem Besuch.
"Er hatte seine Kindheit, einen Krieg und eine Lawine überlebt. Er war sich nie zu schade für die Arbeit gewesen. ... Soweit er wusste, hatte er keine nennenswerte Schuld auf sich geladen, ... er hatte ein Haus gebaut, ... er hatte geliebt,... er war nie in die Verlegenheit gekommen, an Gott zu glauben, und der Tod machte ihm keine Angst. Er konnte sich nicht erinnern, wo er hergekommen war, und letztlich wusste er nicht, wohin er gehen würde. Doch auf die Zeit dazwischen, auf sein Leben, konnte er ohne Bedauern zurückblicken, mit einem abgerissenen Lachen und einem einzigen, großen Staunen."
In einer Art kleinem Epilog schickt Seethaler seinen Helden sechs Monate vor seinem Tod noch einmal auf eine kleine Reise durch das Tal. Mit dem Bus bis zur Endstation und wieder zurück. Noch ein Mal steigt er in den Fels, lässt mit jedem Schritt etwas Einsamkeit zurück, spürt den feinen Septemberschnee, der herabrieselt wie Blüten, und eine leise Erinnerung steigt in ihm auf.
Hier schließt sich der Lebenskreis.
Eine beeindruckend ruhige, schlichte Geschichte, die ein Leben erzählt, das auf den ersten Blick arm an Ereignissen war. Eine karge Kindheit, ein kurzes Glück, eine mühsame Arbeit, ein kurzer Krieg mit langer Gefangenschaft, die Schwierigkeiten, danach wieder ins Zivilleben zurück zu finden, die letzten einsamen Jahre in einer kleinen Hütte
am Berg.
Und doch schwingt im ganzen Text eine Fülle und Tiefe mit, die aus der Einsamkeit und der Traurigkeit kommt.
Eggers Leben ist ein großes, ins Gegenteil gespiegelte Bild des modernen eventorientierten Lebens.
Mag es ein Stück bäuerliche Sturheit sein - er lebt nach seinem eigenen Entwurf.
Robert Seethaler: Ein ganzes Leben
Hanser Verlag, 2015, 154 Seiten
Goldmann Taschenbuch, 2016, 192 Seiten