Iris Schürmann-Mock - "Ich finde es unanständig, vorsichtig zu leben". Auf den Spuren vergessener Schriftstellerinnen

Iris Schürmann-Mock hat mit dieser Porträtsammlung von 25 vergessenen, deutschsprachigen Schriftstellerinnen aus 250 Jahren eine unglaublich wert-volle Arbeit geleistet. Das Buch ist sehr informativ, es überrascht, macht neugierig, traurig und auch wütend. Und es erschüttert, weil es eine Kontinuität aufzeigt, die es nicht geben sollte.

 

 

Den Auftakt des Buches bildet ein Zitat der Schriftstellerin Emerenz Meier (1874-1928):

 

"Hätte Goethe Suppen schmalzen, / Klöße salzen, / Schiller Pfannen waschen müssen, / Heine nähen, was er verrissen, / Stuben scheuern, Wanzen morden, / ach, die Herren / alle wären / keine großen Dichter worden."

 

Dieses kleine Gedicht erinnert an die sinngemäße Aussage der Malerin Paula Modersohn-Becker, es sei sehr schwierig, ein Bild zu malen und nebenbei den Braten im Ofen nicht aus den Augen zu verlieren - in jedem Feld der Kunst wurde den Frauen Steine in den Weg gelegt. Nicht selten von ihren Partnern, immer von den Erwartungen der Gesellschaft, der Rolle, die die Frau/Ehefrau zu erfüllen hatten.

 

Iris Schürmann-Mock folgt in ihren Porträts stets dem gleichen Schema, das eine umfassende Darstellung der jeweiligen Dichterin erlaubt und eine Brücke in die Gegenwart schlägt. 

Sie beginnt mit einer Zeichnung bzw einem Foto, das die  Dichterin zeigt und einen plastischen Eindruck vermittelt.

Auf wenigen Seiten bildet sie deren Leben und Werk ab,  prägnant und trotz der Kürze eingebettet in die historische Situation. Die Überschriften, stets Zitate, sind sehr gut gewählt. Sie lassen die Dichterin sogleich zu Wort kommen und werfen ein Schlaglicht auf ihre Persönlichkeit.

Diesem Porträt folgt "Aus dem Werk", ein Gedicht oder ein Auszug aus einem Prosatext.

Dann begibt sie sich auf "Spurensuche". Sie reist an die Orte, an denen die Dichterin lebte, sich ein kleines Museum oder eine Gedenktafel befindet, eine Straße oder Platz ihren Namen trägt oder wo sie bestattet wurde. Damit vergegenwärtigt die Autorin die Porträtierten und gibt den Leser:innen dieses Buches zugleich einen Reiseführer an die Hand. In penibler Kleinarbeit hat sie Adressen zusammengetragen, oder Bezugsquellen von Schriften, die nur in Museen zu beziehen sind. Außerdem finden sich Lesetipps zu weiterführender Literatur, wie Biografien.

Der "Spurensuche" folgt der "Hintergrund". Dieser kann familiär sein, ein Auszug aus einem Polizeibericht oder zitieren, was die männlichen Kollegen von der Dichterin hielten. Oder auch davon berichten, wofür eine Dichterin sich gesellschaftspolitisch einsetzte. 

Zu guter Letzt gibt es noch die kleine Rubrik "Lesenswert", mit Hinweisen auf Originaltexte bzw. Sekundärwerke.

 

Das Erschütternde ist, dass kaum eine der schreibenden Frauen Unterstützung erfuhr, im Gegenteil. Wie Sophie Mereau, Ehefrau des in seiner Literatur für die Freiheit des Individuums und den Ausbruch aus zugeschriebenen Rollen eintretenden Clemens Brentano, "der alles daransetzte, ihre Eigenständigkeit zu unterdrücken und ihre Arbeit zu entwerten."

 

Nicht selten wurde das Werk und Talent der Dichterin dem ihres schreibenden Partners quasi einverleibt. Wie das Margarete Steffins, Sekretärin und Geliebte Bertold Brechts. Sie verfasste Erzählungen, Gedichte und Kindertheater-stücke, kaum etwas davon wurde zu ihren Lebzeiten veröffentlicht. Jahrelang "arbeitete sie intensiv mit Brecht an seinen Manuskripten, sie korrigierte, veränderte stilistisch und sorgte durch ihre Kenntnisse der proletarischen Welt dafür, dass seine Dramen und Romane den richtigen Ton bekamen."

 

So oder ähnlich erging es vielen anderen Frauen, deren Tagebücher und Briefe geplündert, oder die gezwungen wurden, Geschichten zu schreiben, die dann unter dem Namen des Mannes erschienen. Geistige Urheberschaft galt nicht für Frauen.

 

Auch Dichterinnen, die zu Lebzeiten hohe Auflagen erreichten, wie Gabriele Reuter oder Adrienne Thomas, kennt heute kaum jemand mehr. 

Hier stellt sich die Frage: Wie entsteht ein Literaturkanon?

Warum schaffen es Bücher von Frauen, die in ihrer Qualität denen männlicher Schriftsteller in nichts nachstehen, bis heute kaum zu Neuauflagen oder gar zur Schullektüre?

 

Weil sie über sogenannte Frauenthemen, wie ledige Mutter-schaft schreiben? Sie kämpften aber auch für die Einführung von Leichenhäusern, gegen Einzelhaft und Unmenschlich-keit oder berichteten bereits im 19. Jahrhundert aus der Sahara. Sie schreiben über Depressionen, wie Caroline Muhr, die in den 1960er Jahren einen Roman über ein Tabuthema, das alle Menschen betrifft, verfasste.

"Ihr Buch ist jedoch keine Enthüllungsgeschichte, sondern eine literarische Perle - geistreich, reflektierend, quälend und immer wider so humorvoll, dass durch diesen scheinbaren Widerspruch die Düsternis der Krankheit und die Wirkungs-losigkeit der Behandlung noch stärker hervortreten." 

 

Die Literatur von Frauen ist so vielfältig wie die von Männern. Sie ist keineswegs ein netter Zeitvertreib. All die porträtierten Schriftstellerinnen schrieben aus einem inneren Antrieb, wollten ihr Talent entfalten, wollten auch ihren Lebensunterhalt damit verdienen. 

 

"Die Spuren der Dichterinnen und Schriftstellerinnen sind so vielseitig wie ihr Leben und ihre Werke. Nicht alles, was sie geschrieben haben, ist Weltliteratur, doch alles ist es wert, wiederentdeckt und wieder gelesen zu werden. Denn jeder ihrer Texte erzählt von den Schicksalen, den Wünschen und Träumen dieser Frauen aus den letzten 250 Jahren und von den Widerständen, gegen die sie ihre Arbeit verwirklicht haben."

 

 

 

 

 

 

 

 

Iris Schürmann-Mock: "Ich finde es unanständig, vorsichtig zu leben". Auf den Spuren vergessener Schriftstellerinnen

AvivA Verlag, 2022, 288 Seiten