Margrit Schriber - Die Stickerin

Margrit Schriber zeichnet in ihrem Roman die märchenhafte Lebensge-schichte der Stickerin Maria Antonia Räss nach. Sie kam 1893 im Appenzell zur Welt. Genauer gesagt auf einem Hof in den Hügeln, der kaum die vielen Kinder ernähren konnte. Mit vier (!) Jahren fing sie an zu arbeiten, ging mit siebenundzwanzig nach New York und baute ihre eigene Broderie auf. MRA wurde das Label für feinste Stickereien, Maria Antonia war fortan "Die reiche Tante in Amerika".

 

Aus überlieferten Briefen, Erinnerungen von Verwandten Maria Antonias und ihrer eigenen Fantasie speist sich der Roman Margrit Schribers. Sie wählt den Rahmen einer Testamentseröffnung, bei der vierunddreißig Familienmit-glieder plus ein eleganter älterer Herr und sein Anwalt anwesend sind, um in das Leben der Stickerin einzutauchen. 

 

Bei diesem notariellen Akt liegen sehr viele Briefe und die persönlichen Gegenstände der Verstorbenen auf einem Tisch. Große Überraschung löst der Schmuck aus, der ebenfalls zu bewundern ist. Menge und Qualität übersteigen alle Erwartungen. Denn es war "der Schmuck der Tochter des Geissenbauern". Auch wenn sie als "Königin der Nadel" verstarb, war sie doch ein Mädchen aus den Wellenhügeln.

 

"Mit vier Jahren gelang es der Tochter des Geissenbauern,

die feinste Nadel einzufädeln. Mit fünf stickte sie ein Blatt-muster von der ersten bis zur letzten Ranke durch, ohne die Stiche abzählen zu müssen. Mit sechzehn wurde sie in die angesehene Gilde der europäischen Schaustickerinnen aufgenommen. ... Die Geschwister waren ebenso talentiert. Auch sie trugen mit ihrem Handwerk zum Unterhalt der Familie auf dem Grüt bei. Nur Maria Antonia wanderte aus."

 

Mit vier Jahren einfädeln zu können, bedeutete, in den Web-keller geholt zu werden, bei einer Maschine, die niemals stoppte, über dreihundert Nadeln zügig einzufädeln, damit sie reibungslos lief. Es bedeutete von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zu arbeiten, in der Kälte des Kellers, schlecht ernährt und zum Gewinn des Ehepaares Manser. Diese verkauften den bestickten Stoff an Fergger, Händler, die die Kunstwerke gewinnbringend weiterverkauften.

Bald schwört sich Maria Antonia, später "selbst Ferggerin zu werden".

 

Maria Antonia wurde verspätet eingeschult. Sie musste arbeiten. Ihre ältere Schwester Katri setzte durch, dass sie überhaupt zur Schule gehen durfte, die Bedingung jedoch war, dass sie direkt danach in den Webkeller kam.

 

Katri wird ihr später auch in New York zur Seite stehen, als Maria Antonia bereits ihr eigenes Atelier mit mehreren Angestellten hat. Diese lieben und fürchten ihre Chefin gleichermaßen. Die Stärke, die sie sich täglich selbst abringen muss, geht nicht ohne eine gewisse Rücksichts-losigkeit anderen gegenüber einher.

 

Doch noch einmal zurück. Als Maria Antonia mit sechzehn zur Schaustickerin ausgewählt wurde, begann eine aufre-gende Zeit für sie. Zusammen mit anderen jungen Frauen stickte sie "an den belebtesten Plätzen von Europa". Doch dann setzte der Krieg der Schaustickerei ein Ende, er stürzte auch viele Menschen in der Schweiz in die Armut. Es kamen keine Touristen mehr, die Kunsthandwerk erwarben, oder  sich in den großen Hotels in Geissenmolke schön badeten. Damit brach eine weitere wichtige Einkommensquelle der Bauern weg. 

 

Nach Kriegsende gehen die Schaustickerinnen wieder auf Tour. In Lugano begegnet Maria Antonia einem jungen Mann, der zu einem lebenslangen Freund werden, und der nach erheblichen Schwierigkeiten und Rückschlägen weltberühmt werden wird: Disney Walter Elias. Er lobt die angebotene Ware und "versichert (ihr), dass Amerika auf eine Schaustickerin wie Maria Antonia warte."

 

1920 wagt sie die Überfahrt. Sie reist in der dritten Klasse. Später wird sie in der Luxusklasse reisen, noch später regel-mäßig per Flugzeug nach Europa kommen. Sie besucht dann ihre Freundin Coco Chanel in Paris, fährt im eigenen Cadillac nach Appenzell, logiert im besten Hotel. Auf den Grüt kommt sie nicht mehr, sie hält Hof in ihrer Suite und macht Geschäfte.

Sie ist durch und durch zur Geschäftsfrau geworden, mit einer Firma in China, mit einem Apartment und einem Showroom im Rockefeller Center. 

 

War sie glücklich, fragen sich die Versammelten beim Notar?

Ihre große Liebe hat sich nicht erfüllt, das geht aus den Briefen hervor, in denen die Verwandtschaft neugierig liest.

Der anwesende ältere Herr behauptet, Maria Antonia in jungen Jahren geheiratet zu haben - aber wo ist der Beweis?

 

Dieser Herr, Niko Manser, ist der Adoptivsohn der ersten Arbeitgeber der Stickerin, seine Lebensgeschichte ist mit in den Roman verflochten. Mit ihr und dem Werdegang der Familie erzählt die Autorin ein Kapitel der industriellen Entwicklung der Schweiz. 

Auf die Stickmaschinen im Manserschen Keller folgten wesentlich schnellere Automaten, die mit Lochkarten arbeiteten. Man expandierte. Man verlor alles während des Krieges. Niko versuchte es mit vielen weiteren Geschäften.

Da er gut reden konnte, versuchte er es in der Politik.

Am Ende fehlte ihm die eiserne Konsequenz, über die Maria Antonia verfügte.

 

Auch sie musste sich dem sich ändernden Geschmack  anpassen, verließ aber nie das Metier, das sie königlich beherrschte. 

In einem der seltenen Momente, in denen sie ihr Herz öffnete, hatte sie ihren Stickerinnen offenbart:

"An diesem Tag haben wir beschlossen, unser Fairytale zu verwirklichen. Jeder für sich. Er mit dem Zeichenstift.

Ich mit der Nadel aus Stahl."

Beide setzten ihren Traum in die Realität um.

 

Walt Disney starb 1966 in der Nähe seines Studios.

Maria Antonia kehrte zum Sterben in ihre Heimat zurück.

"Sie liess sich über die Wellenhügel fahren. Das Beautycase hielt sie mit beiden Händen vor der Brust umklammert. Ihr Cadillac erreichte die Wegschlinge zum Grüt. Sie schickte einen Seufzer zum Nussbaum. Und starb." 

Das war am 16. September 1980.

 

Sie war immer eine großzügige Spenderin gewesen. Doch war sie so verschwenderisch großzügig, dass von dem märchenhaften Vermögen, von dem die Verwandtschaft ausging, nur noch das übrig ist, was unter "persönliche Gegenstände" vermerkt auf dem Tisch des Notars liegt?

 

Margrit Schriber leuchtet `ihre´ Maria Antonia Räss nicht psychologisch aus. Man lernt sie durch ihre Taten kennen, erlebt sie im starken Kontrast der Welten: der aus der sie kommt, die, die sie sich erobert. Sie zeichnet das Bild einer Frau, die schon früh weiß, was sie will, die sich nicht ein-wickeln lässt von schönen Worten. Und die einen Mann wie Niko Manser, der über die besten Startbedingungen verfügt, weit hinter sich lässt. 

 

Die Autorin hat viel Herzblut in ihren Roman gelegt und eine Lebensgeschichte fiktionalisiert, die an sich schon märchen-haft ist. Sie hat keine Ikone des Feminismus erschaffen, aber eine Frau porträtiert, die sich gegen Vorbestimmungen und Zuschreibungen wehrte. Und die damit Erfolg hatte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Margrit Schriber: Die Stickerin 

Bilgerverlag, 2024, 231 Seiten