Elisabeth Schneider - Nach dem Wassertag
Maria sitzt mit ihrem Mann Franz und den beiden Kindern Josef und Leni im Zug von Sarajevo nach Deutschland. Sie wird zunächst mit den Kindern in Heilbronn bei ihrem Vater bleiben, Franz soll eine Wohnung in Hamburg suchen, wohin die Familie umzieht.
Das ist nicht einfach im Jahr 1912, viele Arbeitslose zieht es in die große Stadt. Zumindest eine Arbeit hat Franz schon in Aussicht.
Die lange Bahnreise gibt Maria die Gelegenheit, ihr Leben Revue passieren zu lassen. Sie kam 1884 im Banat zur Welt, keine zwei Jahre später siedelten ihre Eltern nach Bosnien um. Zu klein war der Hof durch Erbteilung geworden, in Bosnien sollten die Bauern Land und damit ein Auskommen erhalten.
Dies war der erste Neuanfang in Marias Leben, einige weitere werden folgen. Ein jeder birgt das Versprechen, dass es besser werden würde für das sehr aufgeweckte und lernbegierige Mädchen.
In dem kleinen, von deutschstämmigen Protestanten bewohnten Ort Franz-Josefsfeld kommt sie in die Grund-schule. Da sie außerordentlich gut lernt, soll sie in die Mittel-schule nach Bijeljina wechseln. Um dies zu bewerkstelligen, ist die Fürsprache des Lehrer und des Pfarrers notwendig, denn der strenggläubige Vater sieht nicht ein, wofür ein Mädchen überhaupt in die Schule gehen soll. Sie wird zu Hause gebraucht, muss der Mutter zur Hand gehen, ihr im Haushalt, auf dem Hof und bei der Betreuung der drei kleinen Brüder helfen.
Ab Oktober 1894 geht sie in die für sie große und aufregende Stadt zur Schule. Schon am ersten Tag schließt sie Freund-schaft mit Josefina - gegen den Willen des Vaters wird sie diese Freundin niemals aufgeben. Da Josefina zwar evangelisch ist, ihre Familie aber einer weniger strengen Glaubensgemeinschaft angehört, betrachtet er sie als "Ungläubige" und nicht als den richtigen Umgang für seine Tochter. Doch Maria versteht es, sich ihre Freiräume zu schaffen.
Mit jeglicher Art von Freiraum und auch mit dem Besuch der Schule ist es für Maria von einem Tag auf den anderen vorbei. Ein Hochwasser, das fast das gesamte Dorf, auch den Hof der Familie Frey, zerstört, führt zum Tod von Marias Mutter. Mit dem siebten Kind, wenige Tage alt, stand sie vor den Trümmern ihrer Existenz und sagte:
"Ich steh das nicht durch, ... Pass auf die Kleinen auf."
Zwei Wochen später verstarb sie.
"Aus Verzweiflung war sie von ihnen gegangen. Sie hatte das ihr bevorstehende harte Leben gescheut, den Wiederaufbau ihrer zerstörten Existenz. Diese Last hatte sie auf die Schultern ihrer Tochter abgeladen. Einfach auf die Schultern ihres zwölfjährigen einzigen Mädchens. Noch heute spürte Maria den Zorn, der auf den Schock über den Verlust der Mutter gefolgt war. Die Mutter hätte sie nicht allein lassen dürfen! Nicht mit all dem, was sie ihr damit aufbürdete!"
Fortan ist sie die "Frau im Haus". Sie ist verantwortlich für alles, an einen Schulbesuch ist nicht mehr zu denken. Ohne auch nur andere Möglichkeiten zu überlegen, erwartet ihr Vater ganz selbstverständlich, dass Maria in die Rolle der Hausfrau schlüpft.
Josefina bringt ihr Schulbücher, die Maria gierig verschlingt. In ihrer Schatzkiste versteckt sie diese im Heu, man braucht keine Bücher außer der Bibel, so der Vater. Wie sollte sie diesem Leben entrinnen, fragt sie sich immer wieder.
Mit Josefinas Onkel Heinrich und dessen Frau Amila lernt Maria neue Gedanken kennen. Sie wusste nicht, dass es eine Partei gibt, die sich für die Rechte von Arbeitern und Frauen einsetzt, sie hatte nicht gewusst, dass es Atheisten gibt.
Als der Vater ihr verwehrt, eine Einladung zu einer Feier in Heinrichs Hotel anzunehmen, wehrt sie sich zum ersten Mal.
"Ich nehme mir meinen ersten freien Tag nach drei Jahren an diesem Samstag. Ich gehe zu der Feier und wenn Sie mich dafür totschlagen!"
Bei einem Tanztee im Hotel lernt sie den Eisenbahnarbeiter Franz Wenzel kennen. Sie ist fünfzehn und erlebt ihre erste Verliebtheit. Es dauert einige Monate, bis sie zusammen-kommen, aber Franz lässt nicht locker, stellt sich schließlich Marias Vater vor. Doch Franz ist katholisch, eine Verbindung damit von vorn herein ausgeschlossen.
Dann überschlagen sich die Ereignisse: Marias Bruder findet ihr Bücherversteck, in dem sie auch Postkarten und Briefe von Franz aufbewahrt.
"Dreck ist das, alles Dreck!", ruft der Vater, schlägt sie brutal zusammen und sperrt sie im Stall ein. Dort ist nun ihr Platz.
Franz "entführt" sie. Sie verlassen das Dorf, lassen sich weit entfernt nieder und schließen eine Zivilehe, wie sie seit einigen Jahren gesetzlich erlaubt ist.
Zunächst meint Maria, damit der Bevormundung und der Schläge entkommen zu sein. Franz hat Arbeit, Maria kümmert sich um den kleinen Haushalt. Ein wenig kann sie ihren Lebenstraum verwirklichen: immer schon wollte sie Lehrerin werden, nun unterrichtet sie eine Gruppe Kinder und Frauen aus der Nachbarschaft, die nicht zur Schule gehen konnten und können.
Doch auch Franz, ein Sozialdemokrat und in der Theorie für Gleichberechtigung der Geschlechter, will nicht, dass sie einen höheren Schulabschluss macht und das Lehrerinnen-Seminar besucht. Sie muss wieder erfahren, dass sie kein Recht über ihr eigenes Leben hat. "Franz war ihr Befehls-haber!"
Immer wieder wird ihr klar, dass Franz die Rolle des Vaters übernommen hat, er verbietet ihr das, was ihr wirklich wichtig ist. Und er schlägt ebenso kräftig zu, vor allem, wenn er getrunken hat. Immer wieder fragt sie sich, ob sie Franz verlassen soll, doch das wird mit jedem Kind unwahrschein-licher. Maria ist sechzehn, als die erste Tochter geboren wird, vier weitere Kinder werden folgen.
Einem völligen sozialen Abstieg durch Franz´ Arbeitslosig-keit entgeht die Familie durch Marias Arbeit. Sie sind nach Sarajevo umgezogen, dort kann sie in Heinrichs Hotel arbeiten. Sie eröffnet ein "Kinderstübchen" für Gäste, in dem sie auch ihre eigenen Kinder betreuen kann. Dass sie mit ihrem Lohn die Familie erhält, kann Franz kaum ertragen.
Maria ist es auch, die von einem Hotelgast erfährt, dass in Hamburg Kupferschmiede gesucht werden. Franz erhält ein Empfehlungsschreiben und beschließt, umzusiedeln.
Maria willigt ein. Willigt auch darin ein, drei ihrer Kinder bei Franz´ Bruder in Obhut zu geben, zu riskant ist ein Neuan-fang in der Fremde mit fünf Kindern.
Zu diesem Entschluss trug auch die politische Situation auf dem Balkan bei. Ein Zusammenleben verschiedener Religionen und Ethnien wurde immer schwieriger, die Kriegsgefahr nahm zu. Der Erste Weltkrieg brach nicht überraschend aus, es gibt eine lange Vorgeschichte, die mit in den Roman einfließt.
Dieser ist in seiner Gesamtheit weit mehr als die persönliche Geschichte Marias.
"Mit dem vorliegenden Buch erfinde ich das Leben meiner Großmutter neu", schreibt Elisabeth Schneider in ihrem Nachwort. Sie übernimmt "verbriefte Geschehnisse, ... historische Rahmenbedingungen, Zusammenhänge, Fakten und Persönlichkeiten."
Innerhalb dieses Rahmens entwickelt sie das exemplarische Leben einer Frau, deren Leben von religiösen, weltanschau-lichen, sozialen und politischen Zwängen geprägt war.
Niemals hört Maria auf zu kämpfen. Sie macht doch noch die Mittlere Reife, hofft darauf, das "Prügeltier" in Franz würde verschwinden. "Maria konnte nicht anders, als Franz zu verzeihen. Bestimmt würde er sie nicht wieder schlagen. Das gestern war ein Ausrutscher. Der Verlust der Arbeit und seiner Eisenbahnerfamilie. Der Alkohol. Franz war verzwei-felt. Er tat ihr leid." Sie sucht nach Frauenart die Schuld für Franz Verhalten bei sich. Sie unterrichtet wo immer es nötig ist, liest, bildet sich, verdient Geld. Und achtet darauf, dass Franz sich nicht unterlegen fühlt.
Marias Vater ist zu seiner "Stammfamilie" nach Heilbronn gezogen. Nach zweiundzwanzig Jahren sieht sie ihn nun zum ersten Mal wieder.
"Von Maria sei auf dem Hof niemals mehr gesprochen worden, sagte der Vater, und betonte ein ums andere Mal, dass er ihr jedoch vergeben habe. Nicht einmal fragte er sie, ob auch sie ihm die Prügel vergeben habe und die Verstoßung, die Vernichtung ihrer Bücher und all ihrer gesammelten Schätze."
Die Adressen ihrer drei nach Amerika ausgewanderten Brüder will er ihr, der "verstoßenen Schwester", nicht geben.
Und trotzdem fühlt sie "den Schmerz über die Folgen ihres Handelns" in sich aufbranden. Wegen ihr ist die Familie zerbrochen. Wäre sie nicht fortgegangen, "würden heute alle zusammen noch in ihrem Heimatdorf leben."
Elisabeth Schneider hat ihre Heldin Maria außerordentlich lebendig und komplex gezeichnet. Ihre Kämpfe mit der Welt und sich selbst, ihre Stärke und ihr Mut, und auch deren Grenzen, zeigen eine authentische Frau. So ließ sie nicht zu, dass ihre Kinder von Franz geschlagen wurden: "Da war sie stark, das wusste sie zu verhindern. Nur sich selbst verstand sie nicht zu schützen."
Dieses Thema ist nicht mit der Zeit vergangen.
Mit der Figur der Josefina führt sie vor Augen, wie ein freies Leben aussehen kann. Sie ist Fotografin mit eigenem Atelier in Paris geworden, ist lange nicht verheiratet, bevorzugt kleine Liebschaften (das geht selbst Maria ein bisschen zu weit). Erst als sie den Mann kennenlernt, der auch ihre Arbeit schätzt, bindet sie sich.
Dem Roman gibt dieses so anders verlaufene Leben eine weitere Perspektive, Einblicke in eine Welt, die Maria trotz der tiefen Freundschaft fremd bleibt.
Der Roman stellt ein berührendes Einzelschicksal in den Mittelpunkt, und arbeitet an und mit diesem die Zeit der Jahrhundertwende facettenreich auf. Er ist spannend, lehr-reich, herausfordernd. Er endet offen und hoffnungsvoll, indem er die Solidarität der Frauen beschwört.
Ein Nachwort der Autorin, sowie Quellenverzeichnis, Zeittafel und ein Stammbaum der Familien Frey und Wenzel runden das Buch ab.
Ganz große Empfehlung!
Elisabeth Schneider: Nach dem Wassertag
PalmArtPress, 2023, 350 Seiten