Ana Schnabl - Meisterwerk

Ana Schnabls Roman spielt in den Jahren 1985 und 1986 in Slowenien, damals noch die nördlichste Teil-republik des kommunistischen Jugoslawien. In diesem Jahrzehnt bröckelt der Vielvölkerstaat, Slowenien mit der Hauptstadt Ljubljana kann 1991 nach einem zehntägigen Krieg die Unabhängigkeit erreichen. Schnabls Protagonisten Ana Miler und Adam Bevk stehen mitten in diesem historischen Prozess. 

 

Der Roman beginnt mit der ersten Begegnung der Lektorin eines angesehenen Verlags mit dem Schriftsteller, dessen zweites Buch sie betreut. Das erste ging zwanzig Jahre zuvor sang- und klanglos unter, diesmal soll es für den Literatur-professor anders laufen. Er hat einen fast provokativen Titel für seinen neuen Roman gewählt: "Meisterwerk".

 

Ana ist Anfang dreißig, sie hat es beruflich in kurzer Zeit weit gebracht. Dafür ist nicht nur ihr Wissen und Können verantwortlich, sondern auch ihre Zusammenarbeit mit dem staatlichen Sicherheitsdienst. Diese begann mit der Anwer-bung durch ein älteres Ehepaar acht Jahre zuvor.  Diese beiden "Polizeimenschen" erwarteten, "dass sie für sie Informationen über andere Menschen sammelt und ihnen liefert." Nun sagt Ana: "Ich möchte da raus." Aber wie?

 

Der Mittvierziger Adam Bevk ist für die Geheimpolizei deshalb interessant, weil er nebst seiner Tätigkeit an der Uni an dem Literaturmagazin Revija mitarbeitet, das "Mitte der 1980er-Jahre zu einer der Hauptstimmen der Bewegung für ein demokratisches und unabhängiges Slowenien wurde."  

 

Es sitzen sich in Ana Milers Büro also nicht nur die Lektorin und der Autor gegenüber, sondern auch die Informantin und der Dissident. Dass die beiden sich sehr schnell auch als Mann und Frau wahrnehmen und sich eine Liebschaft entwickelt, die über alle Affären, die die beiden bislang neben ihren Ehen hatten, hinausgeht, gibt dem Roman noch einmal eine weitere Ebene.

 

Ana Schnabl versteht es, die verschiedenen politischen Ansätze und Absichten darzustellen, die unterschiedlichen Ansprüche an eine Beziehung (auch in den Figuren der Ehepartner der beiden Protagonisten), sie erzählt eine rauschende Liebesgeschichte, schaut in die Köpfe des Paares, dem Ana regelmäßig berichten muss oder soll - auch, gerade und vor allem über Adam Bevk, dessen Roman und Tätigkeit für die Revija

 

Die Autorin hält sich nicht mit Beschreibungen der Umge-bungen auf, kurze Skizzen genügen ihr hier. Sie ist ganz auf die Gedankenwelt und das Innenleben ihrer Figuren konzen-triert. Ausgehend von deren Versuchen, sich in ihrer Welt und Zeit zu verorten, fügt sie allgemeine Überlegungen zu Schicksal und Liebe, zum Verhältnis Autor, Werk und Leben ein. Sie schreibt über Schuld, Treue, Gebundenheit und Freiheit, Einsamkeit (auch als Voraussetzung zum Schreiben), Körper und Erotik, die Diskrepanz zwischen der Vorstellung, die man von sich selbst hat und der Sichtweise anderer.

 

Ein Beispiel:

"Sie brauchte die Tätigkeit des Schicksals, insofern das Schicksal nur ein anderer Name für die Art und Weise ist,

wie das Leben uns mit genau dem konfrontiert, das wir kennenlernen müssen. Und, wenn wir Glück haben, auch überleben und daran wachsen. Tatsächlich habe sie oft gedacht, ... dass das Schicksal nicht etwas Externes sei, nichts, was sich für uns in einer omnipotenten Macht formt, ...  sondern etwas höchst Innerliches, der stärkste Ausdruck unserer Individualität. Im Schicksal begegnen wir all den Schmerzen und Defiziten, die wir unterdrückt oder verdrängt haben, dem Nachhall von Urszenen, die wir längst vergessen haben, die wir aber ständig suchen, die wir nachschaffen, inszenieren, herausfordern und sogar provozieren, damit sie erneut auftreten und das Werk vollenden, das sie nicht haben vollenden können. ..."

 

All diese Gedanken der Autorin sind in das Geschehen des Romans eingearbeitet, sie haben ihren Platz in der Handlung und wirken deshalb nicht theoretisch. Sie geben dem Roman der 1985 in Slowenien geborenen Autorin eine erstaunliche Reife und zeigen ihr literarisches Können.

 

Die Geschichte von Ana, Adam und Adams Roman beschließt den Roman Ana Schnabls. Damit nimmt sie die Fäden des Anfangs wieder auf, die sie in einem Epilog, der zehn Jahre später spielt, noch darüber hinaus führt.

In diesem Nachklang ist zu lesen, dass der Roman "Meisterwerk" 1996 erschien, doch nicht aus der Feder Adam Bevks, der sich nicht mehr mit seinem Text identifizieren konnte und ihn beiseite gelegt hatte.

Jener, der nun das Licht der Welt erblickt hat und auf dem der Name Ana Adamic steht, beginnt mit genau denselben Worten, mit denen Adams "Meisterwerk" begann - und auch der Roman Ana Schnabls beginnt. 

Hier verschieben sich die Ebenen noch einmal ganz neu,

ein spannender Schluss, der keinen Schlusspunkt setzt,

denn die Überlegungen der LeserInnen sollten hier weiter-gehen...

 

 

Bereits in ihrem 2020 auf Deutsch erschienenen Erzählband "Grün wie ich dich liebe grün", ringen Schnabls Figuren mit ihren Ängsten, mit ihrer Bequemlichkeit, ihrer Gleichgültig-keit, ihren Sehnsüchten, ihrem Gewissen. In ihrem ersten Roman reflektiert sie das Zeitgeschehen tiefer und stellt ihre Fragen stärker in einen gesellschaftlichen Zusammenhang.

Doch auch die Liebesgeschichte ist sehr berührend und ich kann nur staunen, welch literarische Höhe die junge Schrift-stellerin bereits erreicht hat!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ana Schnabl: Meisterwerk

Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof

Folio Verlag, TransferBibliothek, 2022, 229 Seiten

(Originalausgabe 2020)