Julia Schlosser - Der unendliche Wald

Ein kleiner Fuchs ist der Protagonist dieses tief in einen märchenhaften Wald führenden Bilderbuchs. Es lebt von starken schwarz-weiß-Kontrasten, von einer vielfältigen Formensprache, von vielen lebendigen Wesen und einer gewissen, dem Wald als solchem eigenen Unheimlichkeit. Ein sehr gelungenes  Debüt der jungen Texterin und Illustratorin!

 

"Heute Nacht weckt der Wald den Fuchs früher als sonst. Die kühle Abendluft schleicht seinen Bau hinunter. Irgendetwas ist anders. Die Wurzeln der Bäume zittern kaum merkbar."

 

So beginnt die Geschichte, die den Fuchs auf seiner Suche nach der Ursache des Zitterns begleitet.

Liegt er auf dem ersten Bild noch von langen, runden Wurzeln, deren Ausläufer zarten Händen gleichen, um-schlungen in seinem Bau, wagt er sich auf den folgenden Bild hinaus in den Wald. Hohe Bäume umgeben ihn, flinke Eichhörnchen scheinen zu fliegen. Eine gewisse Spannung liegt in der Luft, der Fuchs bemerkt, dass die Geräusche heute "fremd" klingen. Er folgt den Spuren, schleicht zwischen anderen Tieren umher. 

 

Das Bild, das zu dieser Szene gehört, ist fast schon ein Wimmelbild. Große und ganz winzige Tiere sind hier zu entdecken, vom Reh bis zum Käfer fügen sie sich harmonisch in die Linien der Bäume mit ihrem vielfältigen Blattwerk.

Ein jedes hat eine "eigene Geschichte" zu erzählen - eine zarte Aufforderung an den Vorlesenden, hier ein wenig zu fabulieren, die Fantasie schweifen zu lassen - womöglich mag auch das Kind sich ausdenken, wie denn die Geschichte des Schmetterlings, des Hasen oder der Schnecke lauten könnte?

 

Eine davon hat auch der Fuchs gehört. Sie erzählt von Bären, die in einem unendlichen Wald leben sollen, heute noch. Ob das wahr ist? 

 

Als der Fuchs seinen Lieblingsplatz besucht, hört er fremde Stimmen. Er schaut in eine Hütte, es gibt also Menschen in diesem Wald - und auch Wölfe. Er hört ihr Heulen:

 

"Es sind traurige Rufe, die zugleich nach etwas suchen und von etwas erzählen."

 

Sehr beeindruckend ist das Bild, auf dem man die ziehenden Wölfe sieht. Bäume und Wölfe werfen dunkle Schatten, die eleganten Tiere schreiten alle in eine Richtung. In diese Richtung ziehen sie sonst nie. Warum jetzt?

 

Bald sieht der Fuchs, wovor sie fliehen: "Riesige, zornige Hände reißen die Erde auf".

Dieses Bild ist auf eine völlig andere Weise unheimlich als der Wald. Hier ist blitzender Stahl zu sehen, scharfe Krallen wühlen sich in den Grund mit so viel Kraft, dass die Bewegung zu erkennen ist. Dem Fuchs bleibt nur eines, die Flucht. Wohin soll er rennen?

 

Er flieht tief in den Wald, aber gibt es den unendlichen Wald noch, der ihm Schutz und Sicherheit bietet? Seinen Bau gibt es vielleicht schon gar nicht mehr, vielleicht wissen die Wölfe, denen man Weisheit nachsagt, mehr?

 

Das letzte Bild gleicht in seiner Harmonie dem ersten, doch den Fuchs sieht man nun von hinten. Er liegt nicht einge-kuschelt, er steht mit aufmerksam gespitzten Ohren da und schaut ins Dunkel einer ungewissen Zukunft.

 

Das Bilderbuch vereint die zauberhafte Atmosphäre des Märchens mit der Problematik des schwindenden Lebens-raums der Tiere. Julia Schlosser zeigt die Gefahren, doch ihre Geschichte endet nicht in Hoffnungslosigkeit. Vielleicht gibt es ihn noch, den Wald, in dem die Bewohner keine Angst vor Vertreibung haben müssen. Wenn nicht, ist es trotzdem möglich die Bagger zu stoppen, schließlich wurden sie auch in Gang gesetzt, die Menschen haben es in der Hand.

Die Autorin zeigt auch, dass der Wald eine große Lebens-gemeinschaft ist, die Tiere sind aufeinander angewiesen und sie kommunizieren.

 

Es regt ein Gespräch über den Lebensraum Wald an, über all die Tiere, die er beherbergt, über die, die gezwungen wurden, zu gehen, über die, die hoffentlich bleiben können.

Die detaillierten Bilder mit ihrer eindrücklichen Atmosphäre erzählen die Geschichte parallel zu der in Worte gefassten.

Es ist ein Buch, das umarmt und mitnimmt, zugleich ist es eines, das sehr nachdenklich macht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Julia Schlosser: Der unendliche Wald

Gestaltung Dr. Franziska Walther

Kunstanstifter Verlag, 2023, 36 Seiten

Hardcover in Halbleinen mit Prägung