Vera Schindler-Wunderlich - Langsamer Schallwandler

Die Gedichte dieses Buches, es ist der dritte Lyrikband, den die 1961 geborene Autorin vorlegt, führen eine Art Selbstgespräch.

Sie befragen die Möglichkeiten der Dichtung: Wie verändern sich die Darstellung und Wahrnehmung der Welt, wenn eine Zeile kippt? Oder wenn die Zeilen sich in Wellen auf und ab bewegen? Oder wenn Einrückungen und unterschiedliche Schriftarten miteinander ins Gespräch kommen? 

 

Die Gedichte sind in sechs Gruppen gefasst. Die erste ist mit "Anfangen zu fischen" überschrieben, das erste Gedicht mit dem Titel "Ja wenn wir Summen", beginnt mit folgender Strophe:

 

"Wir fingen uns zur Zeit der reifen, roten

Luft, der langen Landebahnen,

waren Tulpenerfinder, Prachtleser, schrieben:

Hier beginnt das Buch der Funken."

 

Ein "Wir" spricht, tritt in Kontakt mit den LeserInnen.

Die Worte benennen die Zeit, es muss Abend sein, die Sonne hat den Zenit deutlich überschritten, befindet sich auf einer roten Bahn zum Horizont hinab. Dieses "Wir" erfindet Blumen, frühe, solche, die nach der schwarz-weißen Winterzeit wieder Farbe ins Spiel bringen, ihre Pracht mit Freude präsentieren. Diese Tulpen, dieses "Wir", sind Leser ihrer selbst. Sie können auch schreiben und verkünden,

was hier beginnt: Ein funkensprühendes Buch, eines, das freigiebig ist und nicht haushaltet mit seiner Pracht.

Eines, das mit-teilt, mit-nimmt, mit-fischen lässt.

 

Sie erzählen von einer Hochzeit, dem "Ja-Tag", vom Streiten, der "Aberei", es gibt eine ganz eigenwillige, im Juni spielende  Interpretation von Weihnachten, "Vom fernen, glücklichen Fest". Oder auch ein Gedicht über eine von ihrem Mann erschossene Ehefrau, sowie eines über einen "Pflegling", der im Rollstuhl sitzt, gewaschen werden muss, der trotz dieser Hemmnisse schön und fröhlich ist.

 

Sie sind der Wirklichkeit, dem täglichen Leben entnommen, die Themen, über die die Gedichte sprechen.

 

Eine Gruppe, "Vom Beischalten des Mondes", erzählt von der Zeit der Isolation, die wir alle mit Schrecken erinnern:

 

"Ab heute schlagt alle Hände aus!"

"Ab heute zwinkert und singt / an den Fenstern!"

"Wir werden auch nichts mehr anfassen"

"Wir werden auch niemanden anlocken"

"Wir werden erst später umkommen"

 

Datiert zwischen dem 20. April 2020 und dem 17. Mai 2021, fangen diese Gedichte das Existenzgefühl dieser Ausnahme-zeit in der Natur gespiegelt ein.

Der Mond, der Rhein, trockene Wiesen, ein "Hausgedicht im Spätherbst", gefolgt von einem "Hausgedicht, verlangsamt, im Winter" und dem "Haus- und Grenzgedicht im Frühjahr".

 

Das "Wir" spricht vom Eingesperrtsein, vom gelenkten Atem, von den "tödlichen Mündern".

Es sind Formulierungen, die sofort einleuchten, ein Bild aufspringen lassen. Dieses Bild wird bereichert durch die physische Form der Gedichte, die nicht aus untereinander-gesetzten Zeilen besteht. 

Die Strophen sind abgesetzt, eingerückt, wandern nach rechts und wieder nach links, bei vielen Gedichten muss das Buch gedreht werden, weil sie quer daherkommen.

In Klammern gesetzte Zeilen oder Worte, Abstände wie Takt-striche, Leerzeilen - es geht schon ein bisschen wild zu, im "Satzteil-Lager", das die Gedichte auch sind.

 

Es gibt flackernde Worte wie "hhusten, sincken, fattern", und es gibt jenen "Schallwandler", der auch "Kammer, bedenkli-cher Renner " ist: Das Herz.

 

Sie sind mit Herzblut geschrieben, mit sehr kühlem Kopf und glasklarem Blick, die Gedichte, die vom Leben erzählen und vom Dichten.

 

Hier noch das letzte Poem, in Gänze:

 

"Später

 

Ich war: bang,

gerechnet Summe von

 

          ich war, siebte

          mich, fischte auf

          dein Wort, schrieb mich

 

          ein und auf, blieb

          behelligt, verheddert,

          fischte, ankerte

          tief, besang

 

                    Abstände, Auswege, Bandagen, Böschungen,

                    Fische, Geld, Glanzgras, Herbergen, Hin-und-

                    her-Haar, Ich-Gemisch, Instanzen, Ja, Ja-Jahre,

                    Kummer, Kyrie, Mondsorten, Mündungen, 

 

                    Neigungen, nein, ob, oder, Paar, Paar-Reim,

                    Schallwandler, Schwank-Tag, Triller, Tulpenrot,

                    Umsatz, Verschollenheit, Vollgeläut, Weiden,

                    Wenn: wie wenn, Wohl, z´ Basel, zumute

 

                    sank, fing

                                 mich, hing

                                              in dir

 

                                (auch wenn dies nur eine vorläufige

                                Verbindung ist, von Daten, Worten,

                                geordnet, gescheckt, doch erdenklich)

 

 

 

Ich lese es als eine Art Gesamtschau auf all die einzelnen Wort-Bilder, aus der diese Sammlung an verdichteten Gedanken besteht. Und wie man sieht: auch Augenzwinkerei hat sich eingeschlichen!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vera Schindler-Wunderlich: Langsamer Schallwandler

Gedichte

edition pudelundpinscher, 2022, 108 Seiten