Wolfgang Schiffer - Dass die Erde einen Buckel werfe
Diese rhythmischen Prosagedichte speisen sich aus Erinnerungen eines Mannes, der auf seine Herkunft zurückschaut. Dieser Rückblick ist sehr ehrlich und persönlich und weitet sich ins Universelle und Politische. Er wirft nicht zuletzt die Frage nach einer gemeinsamen Sprache auf - ist sie nötig, um einander zu verstehen?
Wie die Woche sieben Tage hat, besteht das Buch aus sieben Kapiteln. Ganz explizit auf den immergleichen Ablauf hinweisend enthält jedes Kapitel eine Wochenkarte mit den Speisen, die es an diesem Tag morgens, mittags, nachmittags und abends gibt. Sie ist auf Hochdeutsch zu lesen und im "Versuch einer muttersprachlichen Rekonstruktion". Denn die Mutter- und Vatersprache des Erzählers ist mitnichten das Hochdeutsche, es ist eine Variante des Plattdeutschen, wie man sie am Niederrhein spricht. Dort wuchs er auf, bis zu seinem siebten Jahr sprach er keine andere Sprache, erst in der Schule wurde ihm Hochdeutsch mithilfe eines Rohrstocks beigebracht.
Mit dem Erlernen der neuen Sprache entwickelt sich der Junge weg von den Eltern. So weit, dass er sich schließlich seiner Herkunft schämt - um sich später für diese Scham zu schämen. Er begreift, wie sehr der Vater und die Mutter ihn liebten, und worin sich diese Zuneigung ausdrückte.
Sowohl die Passagen, in denen der Vater angesprochen wird, als auch jene, in denen die Mutter Mittelpunkt seiner Poesie ist, sind unglaublich berührend.
In dem Gedicht "Befragt, was ich über meine Mutter schreiben wolle" ist zu lesen:
"Vielleicht auch / wie ich sie mich lieben sah / auf ihre ganz eigene
mütterliche Art / meinen Traum / Pirat zu sein / verstehen und teilen
und mit mir Seemannslieder singen beim Abwasch tagsüber/ mich abends dann beten lehren / obwohl sie aus Liebe
zu ihrem Mann / der / geschieden / vom Kreis der Gläubigen
ausgeschlossen war / selbst dem Glauben abgeschworen hatte
wie ich sie mir meine Frühstückszuckerbrote streichen
und / gegen meinen Willen / die Schuhe putzen sah / ..."
Er erinnert sich daran, wie sie ihn, den Kommunisten, vor denen die CDU auf ihren Wahlplakaten warnte, ganz selbst-verständlich und freundlich verteidigte, mit einfachen und unaufgeregten Worten.
Spricht er von sich selbst, fragt er sich, woher seine Wut oder sein Unverständnis für manche Dinge kommt, oder warum es ihn im Alter in die Landschaft seiner Kindheit zurück-zieht, ist es vom Persönlichen nur ein kleiner Schritt zum Politischen. Es ist die Wut über "teilrasierte Männerschädel", über ein Wirtschaftssystem, "das unaufhaltsam die Lebens-voraussetzungen allen Lebens frisst", über das regierende Finanzsystem, die "Psychopathen politischer Macht", die "Menschenschlächter" und "Menschenverächter".
Es ist eine Anklage, gepaart mit einer Selbstanklage: Warum schaffen wir es nicht, uns dagegen zu erheben?
Aus diesem Lamento kann eine Erinnerung an "die Pappel-reihen / den Pappelschnee / die Weidezäune ..." befreien, doch damit enden die Fragen nicht. "Wäre es nicht besser..." hebt eine Strophe an, die Selbstbefragung geht weiter, geht tiefer.
Wie kann man einander verstehen, wenn man verschiedene Sprachen spricht?
"ich war gezwungen /
die Sprache zu erlernen / die ich heute spreche / und hatte dabei
seine/ die vorher auch die meine war / verlernt /
hätten nun selbst einige Wörter / die Wörtern in seiner Sprache
noch ähnlich sind / auch dieselbe Bedeutung gehabt?
ich weiß es nicht / und während ich noch nach dem einen
oder anderen Wort suche / um mir ins Gedächtnis zu rufen /
wie es in meiner Mutter- / Vatersprache wohl klingen mag /
frage ich mich / ob wir überhaupt sprechen müssten /
um einander zu verstehen?"
Auf diese Frage gibt es keine Antwort, auch nicht darauf, warum
"... die erde immer
noch keine Buckel wirft / um uns von sich zu werfen /
obwohl sie schon brennt / und wir nichts dagegen tun /
schreibt weiter / schreibt / dass wir hingegen
alles tun / sie im Osten im Westen /
im Süden im Norden / in jedem Winkel /
den sie hat / dass wir alles tun / sogar das All /
ja selbst den ganzen noch unentdeckten Kosmos /
zur Leere / zum Nichts zu machen"
Die Zitate zeigen den Rhythmus, die Gedichte könnten vertont werden. Was für eine Musik wäre das?
Sie wäre, wie die Gedichte selbst, zart und wütend, klagend-anklagend und umarmend, in die Seele schleichend und im Gehirn rührend, tröstend und aufrüttelnd. Und vielleicht zu Tränen rührend. Ein Akt, zu dem "wir schon lange nicht mehr fähig sind".
Die Gedichte agieren auf vielen verschiedenen Ebenen. Sie durchwandern die Leben von Großvater, Vater und Mutter, schreiten von der eigenen Kindheit bis ins Alter und spiegeln alle diese Leben im Zusammenhang des sozialen/gesell-schaftlichen/politischen Gefüges.
Das Staunen ist dem Dichter geblieben. Dieses ist der Beginn aller Philosophie (thaumazein), in der Psychologie wird es als soziale Tugend betrachtet.
Wolfgang Schiffer, geboren 1946 am Niederrhein, gießt sein anhaltendes Erstaunen über die Welt in weiträumig-tiefgründige Gedichte, die vielleicht die Grenzen, die unter-schiedliche Sprachen ziehen, überspringen können.
Wolfgang Schiffer: Dass die Erde einen Buckel werfe
Elif Verlag, 2022, 60 Seiten