Jocelyne Saucier - Ein Leben mehr
"Das Einzige, was für sie zählte, war ein freies Leben und ein selbst-bestimmter Tod, und deshalb hatten sie eine Vereinbarung getroffen."
Am Anfang des Buches ist viel vom Tod die Rede, als ständiger Begleiter, als Zuschauer. Er rückt zunehmend an den Rand, weil diese Geschichte viel mehr eine von Leben und Liebe ist.
In elf Kapiteln wird die Geschichte dreier alter Männer erzählt, die sich in die nordkanadischen Wälder zurückgezogen haben, um dort Ärzten, Sozialarbeiterinnen und Anforderungen anderer Menschen zu entgehen.
Erzählt wird aus unterschiedlichen Perspektiven, die Beteiligten kommen selbst zu Wort. Eingeschoben sind kursiv gedruckte Passagen als Übergang von einem Kapitel zum nächsten, in ihnen spricht die Erzählstimme.
Dieser Aufbau macht den Roman sehr vielfältig, ohne zu verwirren.
Charlie und Tom sind beide fast Neunzig, jeder von ihnen bewohnt eine eigene Hütte, außerhalb der Sichtweite des anderen. Eine dritte Hütte - es ist die von Ted - steht seit dessen Tod leer. Er war ungefähr so alt wie die beiden Freunde, er verstarb erst kürzlich, und zwar "eines natürlichen Todes", wie Charlie betont.
Um diese zu Beginn des Romanes bereits verstorbene Person rankt sich die ganze Geschichte.
Ted Boychuck ist ein Überlebender der Großen Brände des Jahres 1916, Ted war damals vierzehn Jahre alt.
Er hat bei diesem verheerenden Brand um die Stadt Matheson seine ganze Familie verloren. Sechs Tage wanderte er durch den Landstrich und ging damit ins kollektive Gedächtnis der Bevölkerung ein. Er wurde zu einer lebenden Legende, zum "Jungen, der durch die rauchenden Trümmer irrte."
Diesen Mann sucht eine Fotografin, die sich in den 80er Jahren aufmacht, Überlebende zu interviewen und zu fotografieren. Sie ist fast besessen von dem Thema der Großen Brände - Charlie und Tom fragen sich einmal, ob sie überhaupt ein eigenes Leben hat, so sehr interessiert sie sich für das Leben anderer, vor allem alter Menschen.
Die Fotografin stößt zu den beiden Männern in ihrer einsamen Wildnis und verändert damit deren Leben ein wenig. Als dann noch die zweiundachtzigjährige Gertrude (sie ist die Tante von Bruno, einer Figur, die eine Nebenrolle spielt) auftaucht und ganz einfach bleibt, verändert das das Leben der Einsiedler komplett.
Gertrude war mit sechzehn Jahren von ihrem Vater in die Psychiatrie eingeliefert worden, sie hat alle Foltermethoden, die in diesen Einrichtungen üblich waren, über sich ergehen lassen - sie ist um ihr ganzes Leben betrogen worden.
Nun hat Bruno sie in den Wald gebracht, die Männer nehmen die zarte Frau, die eher an ein Vögelchen erinnert, in ihren Kreis auf. Gertrude gibt sich selbst den Namen Marie-Desneige, sie nimmt damit Abstand von ihrem alten Leben. Die Fotografin, die in der ganzen Geschichte überhaupt keinen Namen hat, wird von Marie-Desneige "Ange-Aimée" genannt. Dieser Name gefällt ihr, die beiden Frauen schließen Freundschaft.
"Sie können mich gern Ange-Aimée nennen."
Maire-Desneige lächelte zaghaft. Diese Worte besiegelten ihre Freundschaft, mit ihnen wurde die Besucherin in die Gemeinschaft aufgenommen, auch wenn das zunächst niemandem bewusst war. Erst als Maire-Desneige und die Fotografin lachend und plaudernd in dem Häuschen verschwanden, begriffen die Männer, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor."
Beide, Tom und Charlie, haben schon mehr als ein Leben hinter sich, mit Maire-Desneige kommt ein weiteres hinzu. Charlie wird zum Beschützer der alten Dame, die es nicht gewohnt ist, alleine zu sein. Sie hat ihr Leben in Schlafsälen verbracht und übernachtet kein einziges Mal in dem neuen Häuschen, das die Männer für sie gebaut haben.
Lieber schläft sie in Charlies Hütte unter den Pelzen, die in einer Ecke liegen. Charlie ist derjenige, der ihre Panikattacken eindämmen und ihr helfen kann, ihren Körper zusammen zu halten. Die beiden werden ein Paar.
Das ist sehr einfühlsam beschrieben, realistisch und diskret zugleich.
Parallel zu den zwischenmenschlichen Entwicklungen erzählt Jocelyne Saucier vom Fund der vielen Bilder, die Ted Boychuck gemalt hat.
"Insgesamt waren es dreihundertsiebenundsechzig Bilder. Die meisten zeigten mehr oder weniger dasselbe Motiv, mehrere Farbkleckse hinter dichtem grauen Rauch...
Diese Bilder handelten von den Momenten unmittelbar nach dem Brand. ... Die Bilder erzählten eine Lebensgeschichte, die Geschichte eines Jungen, der durch die rauchenden Trümmer gewandert war, die Geschichte des Mannes, der sein Leben lang im Unglück gefangen gewesen war. In den Farbklecksen, in denen niemand außer Marie-Desneige etwas erkennen konnte, verbarg sich die Geschichte, die die Fotografin bei ihren Recherchen zu den Großen Bränden nicht zu fassen bekommen hatte."
Manche Bilder kann nur Marie-Desneige entschlüsseln mit ihrer Gabe, Dinge zu sehen, die andere nicht sehen.
So gelingt es der Fotografin mit Hilfe ihrer Freundin, die Geschehnisse der Großen Brände zu rekonstruieren:
Teds Bilder erzählen auf hundertfache Weise von dem, was er damals wahrgenommen hat.
Die Bilder eröffnen der Fotografin einen Weg in ein eigenes Leben.
Das Leben als Paar schenkt Charlie und Marie-Desneige eine Zeit, die abseits der mit Uhren und Kalendern gemessenen Zeit liegt.
Tom führt mit Hilfe seines Freundes den Plan aus, den sie vor Langem schon tausendmal besprochen haben.
Der Tod steht als Beobachter immer am Rand der Szenerie, aber er ist nicht mehr der Regisseur.
Der Roman ist keine zivilisationskritische Wildnisromanze,
auch keine Am-Ende-wird-alles-gut-Geschichte.
Er ist viel mehr getragen von dem Gedanken, dass sich Schmerz verwandeln lässt. Und dass weder Liebe noch Veränderungen eine Altersgrenze haben.
Jocelyne Saucier: Ein Leben mehr
Übersetzt von Sonja Finck
Insel Verlag, 2015, 192 Seiten
Insel Taschenbuch, 2017, 193 Seiten
(Originalausgabe 2011)