Frank Salewski -
Der Tag, an dem der Schmetterling starb
Dr. Rudolf Rasmus, alias Prof. Dr. Smith, 1900-2001, steht im Mittelpunkt dieses Romans, der auf historischen Fakten, insbesondere der "Operation Paperclip", beruht. Mit dieser wurden direkt nach Ende des Zweiten Weltkrieges namhafte Wissenschaftler, auch Nazis und Kriegsverbrecher, aus Deutschland in die USA geholt. Dort bekamen sie eine neue Identität. Nicht nur im Fall des Dr. Rasmus lautete die Überzeugung:
"Die Frage war, konnten wir diesen Vorsprung der Sowjet-union überlassen? Die Entscheidung, die im Falle Dr. Rasmus getroffen wurde, war eindeutig: Seine zukünftige wissen-schaftliche Bedeutung für die USA war höher einzuschätzen als seine Kriegsschuld. Was durch seine führende Rolle bei der medizinischen Betreuung der ersten Astronauten eindrucksvoll bestätigt wurde."
Dr. Rudolf Rasmus ist eine fiktive Figur, die sich auf zwei reale stützt: Dr. Sigmund Rascher und Hubertus Strughold. Dr. Rascher bat in einem Brief an Heinrich Himmler um "Menschenmaterial" für die Durchführung von Experimen-ten zur Höhenforschung. Dass die Versuchspersonen dabei sterben werden, verschwieg er nicht. Letzterer , ein Luft-fahrtmediziner, wurde in den USA als Pionier der Raumfahrt gewürdigt.
Auch Rasmus/Smith starb als Nationalheld. 2001 hat er sich 101-jährig das Leben genommen. Kurz zuvor tauchte er in der Praxis eines Psychotherapeuten auf. Sein Leiden: er hatte wenige Tage zuvor zum ersten Mal in seinem Leben geweint.
Was war geschehen? Er hatte beobachtet, wie ein Junge einem Schmetterling die Flügel ausriss. Offensichtlich rief dies eine Erinnerung an seine eigene Kindheit hervor. Diese ist in einem Prolog und Epilog ganz kurz notiert: der Vater zwingt seinen sechsjährigen Sohn, Schmetterlinge auf Nadeln zu spießen. "... nie wieder will ich dich wegen eines Schmetterlings oder irgendeiner lächerlichen Kreatur weinen sehen, hast du mich verstanden?"
Offensichtlich sortiert der Arzt später Juden in die Kategorie "lächerliche Kreatur". 1941 schreibt er an den Reichsführer der SS und bittet um "Einsitzende" des KZ Dachau, um mit ihnen medizinische Versuche durchzuführen, am besten direkt dort, das erleichtere die Logistik.
Die Zustimmung erfolgt postwendend.
Dieser Teil des Romans spielt 1942, Gegenspieler oder besser Opfer von Dr. Rasmus ist ein ehemaliger Kollege, Dr. Levi Goldblum. Dieser ist nun Häftling in Dachau, Rasmus möchte ihn dafür gewinnen, mit ihm zusammenzuarbeiten.
Zwischen den beiden Männern entwickelt sich ein psycho-logisch gut ausgeleuchtetes Spiel. Zunächst soll Dr. Goldblum mit Vergünstigungen verlockt werden. Dann wird er Zeuge eines Experiments, das ihn zutiefst erschüttert - aber auch für einen Moment sein Interesse weckt.
"Ich bin schuldig ... Ich war einer von ihnen. Mein wissen-schaftliches Interesse hat kurzzeitig über mein Mitgefühl gesiegt. Rasmus wusste, was er tat, als er mich dazuholte."
Dr. Goldblum notiert seine Gedanken und Gefühle auf Papieren, die ihm von einem jungen Wächter zugesteckt worden waren. Nicht aus Menschlichkeit, sondern, um sie nachher zu lesen, und zu erfahren, was Goldblum denkt.
Diese Aufzeichnungen werden später in die Hände Dr. Lydia Fishers gelangen, einer Angestellten des Pentagon. Diesem untersteht die Operation Paperclip. Schon Mitte 1945 ist
Dr. Fisher in Berlin tätig, sie sucht Dr. Rasmus und findet ihn in der sowjetischen Zone.
Dr. Fisher und ihr Vorgesetzter Dr. Carpenter, außerdem Colonel Steinberg, sind die Protagonisten des zweiten, in Berlin und Washington, später in Huntsville, Hauptsitz der amerikanischen Luft-und Raumfahrttechnik, spielenden Handlungsstrangs. Die junge Lydia repräsentiert dabei das Gewissen. Sie ist die einzige, die an der Richtigkeit der Überführung von Dr. Rasmus in die USA zweifelt. Denn ursprünglich sollten keine Kriegsverbrecher im Kontingent von 450 Personen sein. Schon früh stellt sie sich die Frage:
Was macht es für einen Unterschied, ob man in einer Diktatur oder einer Demokratie lebt, wenn sich in entschei-denden Momenten keiner an die Gesetze hält? Später gesteht sie sich ein: es ist "eben nicht möglich, unter Wölfen zu leben, ohne mit ihnen zu heulen, sonst wurde man zerfleischt."
Sie spielt bis zu einem gewissen Punkt mit, fälscht z.B. Akten, was Colonel Steinberg als "leichte Korrekturen vornehmen" bezeichnet (da klingeln angesichts von fake news und alternative facts laut die Ohren der Leser:innen).
Doch sie wendet sich an den Sohn Dr. Levi Goldblums, den promovierten Physiker Dr. Jakob ben Levi Goldblum. Er war 1933 zum Studium in die USA gegangen, lebt nun arbeitslos in New York, als Jude ist es auch hier schwierig, eine Anstellung zu finden. Ihm zeigt sie die Aufzeichnungen seines Vater, versucht, ihn dazu zu bewegen, mit ihr an die Öffentlichkeit zu gehen um Dr. Rasmus, nun Dr. Smith, zur Verantwortung zu ziehen.
In diesem 1947 spielenden Teil vereinen sich alle Aspekte, um die es in diesem Roman geht: Schuld, Verantwortung, Mut, Verdrehung der Wahrheit, aber genauso das Recht auf ein gesichertes Leben und vielleicht sogar Glück.
Frank Salewski arbeitet hier mit Elementen des Politthrillers, mit Abhörmaßnahmen, Überwachung, gewagten Fluchten.
Doch die Agentengeschichte führt auf ein großes persönliches Drama zu. Nicht den Suizid des alten Nazis und Kriegsverbrechers, sondern, dass Dr. Jakob Goldblum ohne es jemals zu erfahren zu seinem engsten Mitarbeiter wird.
Und in deren Forschung die Ergebnisse jener Experimente mit einfließen, bei denen sein Vater sein Leben ließ, 1942 in einer Unterdruckkapsel in Dachau.
Hier noch ein Gespräch zwischen Dr. Lydia Fisher und dem Colonel, geführt 1947 in der Zentrale des Pentagon:
"`Sie machen aus einem Massenmörder einen ehrbaren Arzt, der nur seine Pflicht getan hat?´
`Kann man das nicht auch anders sehen? Dieser Mann hat alles dafür getan, um sein Land voran zu bringen. Das würde manchen von uns auch gut zu Gesicht stehen.´
`Und was ist mit Dr. Goldblum?´
`Was soll mit ihm sein?´
`Verdammt, haben Sie denn nicht seine Aufzeichnungen gelesen?´
`Natürlich.´
`Und?´
`Ein weiteres bedauernswertes Opfer.´
`Sonst nichts?´
`Sonst nichts!´
`Ich habe mich geirrt. Sie sind kein Zyniker, Sie sind ein Schwein. Erklären Sie das doch mal seinem Sohn.´
`Ein Schwein also. Sie haben es immer noch nicht verstanden, oder? Dieser Mann hat nicht aus ideologischen Gründen getötet, er hat nur notwendige Experimente durchgeführt.´
`Und zwar nicht an Freiwilligen, sondern an Juden, die unter brutalsten Bedingungen durch diese, wie Sie es nennen, Experimente, ermordet wurden.´
`Es ist bedauerlich, hat aber der Wissenschaft einen ungeheuren Dienst erwiesen. Das können wir nun einmal nicht außer Acht lassen. Manchmal heiligt der Zweck eben die Mittel.´
`Oh ja, das haben diese Männer auch gesagt und sind damit durchgekommen. Sie werden sich gut mit Ihnen verstehen, wenn Sie sie für die Eingliederung in das amerikanische Leben vorbereiten. Echte Amerikaner, wie Sie einer sind, aus ihnen machen.´
`Raus!´"
Die vielen Briefe verschiedenster Verfasser, wie auch die Aufzeichnungen Levi Goldblums, wirken allesamt, als handle es sich um historisches Material. Auch die Dialoge, die im Ton je nach Sprechenden verschieden sind, passen in die Zeit.
Immer wieder fragt man sich als Leser:in, ob man Original-dokumente oder einen Roman in den Händen hält. Das spricht sehr für ein Buch, das eine nur scheinbar vergangene Zeit wieder aufleben lässt.
Es zeigt, dass Menschenverachtung nicht auf das Reich der Nazis beschränkt ist, es entschuldigt nicht das Verhalten eines Mörders durch eine Kindheitserinnerung (diese dient lediglich als Erklärungsversuch für seine unmenschliche Art) und es zeigt, wie schwierig es ist, sich zu entziehen.
Lydia Fisher erlebt als ältere Frau, dass die Wahrheit doch noch ans Licht kommt, das ergab die "Sichtung seines
(Dr. Rudolf Rasmus´) Nachlasses" und ist in einem Zeitungs-artikel nachzulesen - in dem die Verantwortlichen aber die historische Schuld sofort relativieren und auf die Umstände nach 1945, den kalten Krieg und die wissenschaftlichen Verdienste des Verstorbenen verweisen.
Verantwortung übernimmt immer noch niemand.
Frank Salewski: Der Tag, an dem der Schmetterling starb
Killroy Media, 2024, 148 Seiten