Ulrich Rüdenauer - Abseits

"Solange niemand von ihm sprach, ihn keiner ansah, sich keiner nach ihm umdrehte, gab es keine Gefahr. So lange konnte er für sich sein. Dann war es, als würde er eine Tarnkappe tragen. Er war unsichtbar für die anderen ..."
Richard ist acht Jahre alt, lebt auf dem Hof des Onkels mit vier "falschen Geschwistern", er hat weder Mutter noch Vater und spürt von morgens bis abends, dass er nur geduldet ist. Der Hof ist nur in der Form sein Zuhause, wie es das Zuhause eines Hofhundes ist.
Er erinnert sich dunkel, dass er früher beim Großvater lebte, doch das ging nicht mehr. Nun fristet er sein Dasein in einem völlig freudlosen Haus, in dem es weder Lachen noch Spiele gibt. In der Landwirtschaft gibt es immer etwas zu tun, auch die Kinder müssen mit anpacken. Sie werden sogar manch-mal aus der Schule geholt, die hat keinen großen Stellenwert. Einzig wenn der Pfarrer da ist, traut sich kein Bauer, seine Kinder nicht zu schicken.
Denn der Pfarrer hat noch größere Macht als der Lehrer, er ist ein "Prügelmeister", dessen Aufgabe darin besteht, Angst zu verbreiten.
Im Jahr 1954 stellt niemand die Autoritäten in Frage. Es ist, wie es sein muss.
Nur mit Richard stimmt offenbar überhaupt nichts. Er ist klein und schmächtig, was auch daran liegen könnte, dass er nie einen Nachschlag erhält. Er muss arbeiten wie ein Knecht, erblickt im Spiegel einen alten Mann, so verhärmt sieht er bereits aus. Er ist nicht besonders gut in der Schule, doch im Verlauf des Romans entwickelt er so große Freude am Lesen, das zunächst gar nicht klappen wollte, dass er, wann immer er ein bisschen Zeit hat, seine Fibel nimmt und sich an den Geschichten erfreut.
"Es gab Geheimnisse und Rätsel. Richard selbst war eines, denn er gehörte niemandem und nicht einmal sich selbst, oder zumindest hatte er sich noch nicht gefunden, und er wusste nicht, wer er war und einmal sein könnte. Es beruhigte ihn, dass auch die Sätze rätselhaft waren, und er konnte sich damit abfinden. Er musste nicht alles wissen, noch nicht. Irgendwann. Das ist etwas, was du nicht verstehst, noch nicht, vielleicht irgendwann."
Ein noch größeres Rätsel als die Sätze in der Fibel, ist seine Herkunft.
Eines Tages kramt Richard unter allergrößten Schuld- gefühlen im Schrank des Onkels und der Tante. Dort findet
er ein Foto, das "Gerhard und Lena" zeigt. Gerhard ist sein Onkel.
Außerdem enthält die Schachtel einen Zeitungsartikel, der von Jakub Wójcik berichtet, es stehen Worte darin, die Richard nicht versteht.
"Das Wort Rasse kannte er, aber er wusste nicht, was es mit der Schande auf sich hatte". Außerdem liest er "von einem Todesurteil, das von einem Schnellgericht verhängt worden sei."
Doch der Mann auf dem Bild sieht genau so aus wie Adam, Ladengehilfe Herrn Adlers, Besitzer des Werkzeugladens.
Der Mann auf dem Foto lebt also.
Wie alles mit allem zusammenhängt erfährt Richard wenig später von Herrn Adler. Diesen trifft er zufällig auf der Kirchweih. Der freundliche Mann ist schon etwas ange-trunken und spricht wie zu sich selbst, als er den Jungen spät am Abend zum Hof zurückbegleitet, und ihm eine lange, in vielen Teilen unverständliche Geschichte erzählt.
"Jakub und Adam und Herr Adler, die gehörten nun auch einer anderen Zeit an, waren Teil einer größeren Geschichte, die zu Richard gehörte und vor der Richard sich schützen musste. Mit seinen fast neun Jahren war er zu klein, zumindest noch nicht groß genug. ...
Richard und Adam und Jakub, das gehörte nun zusammen, aber eher wie so ein Gefühl, nicht wie eine Wahrheit, die sich aussprechen ließ, und zu Herrn Adler würde er nicht mehr gehen. Richard glaubte, dass Herr Adler ihn nun nicht mehr sehen konnte, oder besser er ihn, nachdem er ihm wie ein Nachtmahr erschienen war und seine Geschichte erzählt hatte, eine Geschichte. Er war zu viel. Es war zu viel."
Der einzige Mensch, der ihm in dieser Situation hätte helfen können, ist der Großvater, doch der macht sich seit längerem rar. Fast ist er ihm abhanden gekommen, selbst im Traum.
Der Roman wird von einer melancholischen Poesie getragen, die ihn, bei allem Ernst und aller Schwere des Themas und Inhalts, zu einem leuchtenden Juwel macht. Vom ersten bis zum letzten Satz hält Ulrich Rüdenauer, geb. 1971, der mit dieser wunderbaren Knabengeschichte sein Debüt vorlegt, einen Ton, der sich wie ein Schutzmantel um seinen Helden, wie auch um die Leser:innen, legt.
Er seziert Richard nicht, auch wenn er den riesigen Komplex an eingepflanzten Schuldgefühlen allen Menschen und auch Gott gegenüber freilegt. Er stellt ihn nicht bloß in seiner Unwissenheit, es ist die des Kindes, dem zu viel aufgebürdet wird, und von der er mit Verständnis und ohne Wertung erzählt. Er wählt manchmal plastische Bilder, so geht in Richard die Schuld auf "wie ein Teig", dann wieder liest es sich sehr zart: ob auch andere Menschen "manchmal wie er auch in sich hinein (sprechen), wo sich jemand verborgen hielt und lebendiger war, als er es vielleicht jemals in der Wirklichkeit sein konnte?"
Oder: "Es gehörte zu seinem Spiel, dass in der Fantasie eine Schönheit entstand, der die Wirklichkeit niemals entsprechen konnte. Vielleicht war es so besser, vielleicht war es immer besser, die Dinge nicht wirklich zu sehen, sondern nur über Umwege, und sie dann in sich bewegen zu können, in Gedanken."
Einmal in der Mitte des Romans, da passiert in der Wirklich-keit etwas, das fast an ein Wunder grenzt. Der Onkel spricht ihn frei, Richard ist kein "Beinahe-Mörder". Und am Ende, da geschieht etwas, das dem Wunder noch näher kommt.
An verschiedenen Stellen spricht der Erzähler direkt in der Ich-Form:
"Vielleicht bin ich ungerecht gegen die Bauern, vielleicht trügt mein Blick, denn es ist ja einer aus der Ferne vieler Jahrzehnte, und er ist getrübt von einer merkwürdigen Parteilichkeit. Ich habe den Jungen erst viel später kennen-gelernt, eigentlich als alten Mann, und was er mir erzählte, war nicht so, wie ich es nun wiedergebe. Vielleicht übertreibe ich oder dichte. Ich versuche, die Leerstellen auszufüllen, sein bedächtiges Zurückblicken zu korrigieren, seine Schweigsamkeit, die seine Worte begleitete."
Das Wort "vielleicht" kommt nicht selten vor. Es zeugt vom Tasten, vom sich fernhalten von endgültigen Wahrheiten.
Die "Parteilichkeit" zeigt sich im Wohlwollen des Erzählers seinem Helden gegenüber. Wie viel oder wie wenig er erfunden hat, spielt keine Rolle. Er hat eine exemplarische Figur geschaffen, die lebendiger nicht sein könnte.
Ulrich Rüdenauer: Abseits
Berenberg Verlag, 2024, 192 Seiten